Wenn von der Russischen Revolution die Rede ist, denkt man gemeinhin ohne weitere Differenzierung an die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917, kaum jedoch an die bürgerliche Revolution vom Februar im selben Jahr und schon gar nicht an die Revolution von 1905, die sich in Form von landesweiten Bauern- und Arbeiteraufständen ausgebreitet hat, nachdem die russische Autokratie bereits mit Biegen und Brechen in eine konstitutionelle Monarchie übergeführt und durch ein Parlament – die Duma – zumindest formell beglaubigt worden war.
Richtigerweise sollte man also in der Mehrzahl von den Revolutionen reden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit zum Sturz des Zarenreichs geführt haben – dies mit unterschiedlichen Beweggründen und in unterschiedlichen Stoßrichtungen.
Unsicherer Ausgang
Dass schließlich die Bolschewiki − von Lenin als schlagkräftige Minderheit in den ideologischen Klassenkampf, auf die Petrograder Barrikaden und nachfolgend in den Bürgerkrieg geführt − die divergierenden Kräfte auf Dauer würden bündeln können, stand auch nach ihrer Machtergreifung keineswegs fest. Nur mit äußerster militärischer und polizeilicher Gewalt, mit sozialer Willkür und aggressiver Propaganda ließ sich eine landesweite „Diktatur des Proletariats“ errichten, die in den mittleren 1920er Jahren – im Übergang von Lenin zu Stalin – die alte Herrschafts- und Wirtschaftsordnung definitiv zugunsten des weltweit „ersten Arbeiter- und Bauernstaats“ ablöste.
Nach mehrjährigem verlustreichem Bürgerkrieg etablierte sich um 1922 das neue kommunistische Staatsgebilde als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Ideologisch und politisch war das Sowjetsystem ursprünglich auf die globale Durchsetzung des Kommunismus in marxistisch-leninistischem Verständnis angelegt, ein Konzept, das von Stalin schon bald – im Gegenzug zum entmachteten Trotzki – aufgegeben wurde zugunsten eines national-bolschewistischen Imperiums, dem der Sowjetpatriotismus angesichts des reichsdeutschen „Drangs nach Osten“ nützlicher zu sein schien als der kommunistische Internationalismus.
Bis heute sind die Folgen der revolutionären Umwälzungen in Russland weit besser bekannt als die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen, die zum großen Traditionsbruch vom Herbst und Winter 1917/18 geführt haben. Das alte Zarenreich war zum Zeitpunkt seiner gewaltsamen Bolschewisierung keineswegs bloß ein korrupter Unrechtsstaat, dessen Zerfall unmittelbar bevorstand. Richtig ist, dass die ländliche Bevölkerungsmehrheit wie auch die minderheitliche städtische Arbeiterschaft unterprivilegiert und bildungsfern gehalten wurden; dass Russland technologisch und industriell weit hinter Westeuropa und den USA zurückstand; dass die staatlichen Institutionen durch Bürokratie, Nepotismus, Korruption und Verschwendung geschwächt waren; dass das Bildungswesen noch immer stark von der Kirche beeinflusst und dessen Modernisierung dadurch behindert wurde; dass es bei Justiz und Militär fatale Defizite an Professionalität und politischer Unabhängigkeit gab.
Evolutionäre Aufwärtsbewegung
Dass es bei all diesen – und manchen andern – Krisensymptomen und Mangelerscheinungen auch bemerkenswerte Anzeichen für eine positive Zukunftsentwicklung gab, wird gemeinhin nicht hinreichend gewürdigt, oft auch gar nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Generell lässt sich indessen sagen (und auch belegen), dass Russland am Vorabend der Revolution, namentlich in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg, keineswegs von politischem, wirtschaftlichem, kulturellem Bankrott bedroht war, dass sich der Staat vielmehr − wiewohl an allen Ecken und Enden knirschend – in einer evolutiven Aufwärtsbewegung befand und gute Chancen hatte, nach Jahrhunderten der Rückständigkeit endlich den Anschluss an die zivilisatorische Entwicklung Westeuropas herzustellen und auch selbst zur europäischen Zivilisation einen substanziellen Beitrag zu leisten.
Laut einer hochgemuten Prognose des französischen Ökonomen Edmond Téry von 1913 hätte das russländische Imperium bis zur Jahrhundertmitte nicht nur diesen Anschluss bewerkstelligen, sondern − darüber hinaus − sich als führende Wirtschaftsmacht in Europa etablieren können.
Jenseits der Missstände
Vordergründig dominierten zwar die sozialen Missstände, doch hinter den düsteren zeitgeschichtlichen Kulissen – Massendemonstrationen, Streiks, Attentate, Pogrome, Polizeiterror – bildeten sich klar fassbare Ansätze zu einem epochalen Auf- und Umschwung heraus: eine Entwicklung, deren kraftvolle Dynamik die wirtschaftlich-soziale Evolution Russlands ohne Zweifel hätte beflügeln können, die aber durch den Krieg von 1914/18 gleich wieder zurückgedämmt wurde, so dass der initiale Schwung dann eben doch in dem „großen Bruch“ endete, auf den die linksextremen Sozialrevolutionäre und die Bolschewiki als deren kämpferische Vorhut konsequent hingearbeitet hatten und den sie denn auch bemerkenswert rasch für die Realisierung einer wirtschaftlich, politisch und ideologisch völlig neuen Staatsform – des Sowjetimperiums – zu nutzen vermochten.
Geistige Renaissance
Am eklatantesten, deshalb auch am deutlichsten erkennbar war der Innovationsschub zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bereich der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaften; eine Entwicklung, die naturgemäß eher den happy few zugute kam als der breiteren Bevölkerung. Außerhalb Russlands wurde diese erstmalige und einzigartige Hochkonjunktur vorab in den Sparten Tanz, Theater und Malerei wahrgenommen dank der Vermittlungsbemühungen des umtriebigen Impresario Serge Diaghilev, der mit seinen ballets russes und zahlreichen Künstlern im Gefolge durch Europa zog und somit einem großen Publikum den Formenreichtum und die Eigenständigkeit der russischen Kunstszene vor Augen führte. Vollends die Uraufführung von Igor Strawinskys Tanzoper „Frühlingsopfer“ (Sacre du printemps) 1913 in Paris machte deutlich, dass hier nicht mehr bloß westliche Vorbilder nachgeahmt wurden, sondern dass nun russische Kunstschaffende aus eigenem Antrieb und mit unverwechselbar eigenen Mitteln und Methoden zur europäischen Hochkultur beitrugen.
In Russland selbst vollzog sich in den wenigen Jahren vor dem Weltkrieg eine kulturelle und intellektuelle Erneuerung, die man als „geistige Renaissance“ bezeichnet hat und die unter dem Label „Silbernes Zeitalter“ in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Russische Künstler, Dichter, Komponisten, Architekten wie auch Naturforscher und Philosophen haben nicht bloß das damalige Geistesleben geprägt, ihr Schaffen hat – über ein Jahrhundert hinweg − kaum etwas an Aktualität eingebüßt und gehört inzwischen zum „klassischen“ Erbe der gesamteuropäischen Moderne. Dafür stehen Namen wie Kandinsky, Chagall, Malewitsch, Majakowskij, Anna Achmatowa oder der bereits genannte Igor Strawinsky, aber auch Begriffe und Konzepte wie Kubofuturismus, Egofuturismus, Neoprimitivismus, Akmeismus u. a. m. Die Meisterdenker jener kurzen Epoche – Sergej Bulgakow, Pawel Florenskij, Nikolaj Berdjajew, Wassilij Rosanow u.v. a. – sind trotz ihrer Verfehmung während der Stalinzeit präsent geblieben und werden heute, inner- wie außerhalb Russlands, mit zunehmendem Interesse zur Kenntnis genommen.
Dass diese tiefgreifende geistige Erneuerung auf den elitären Einzugsbereich des „Schöngeistigen“ beschränkt war, sollte nicht verschwiegen, aber auch nicht unterschätzt werden. Denn die „schönen“ Künste, die Philosophie und die äußerst rege Publizistik jener Jahre hätten sich schwerlich so radikal erneuern und artikulieren können, wäre die damalige, de iure nach wie vor geltende Staats- und Kirchenzensur nicht weitgehend aufgehoben gewesen. Niemals zuvor haben Medien, Verlage, universitäre und kulturelle Institutionen in Russland so frei agieren können wie in den Vorkriegsjahren. Wenn die siegreichen Bolschewiki kurz nach ihrer Machtergreifung die zaristische Zensur mit viel freiheitlichem Pathos offiziell abschafften, war dies nicht mehr als eine Geste politischer Propaganda, die bereits ein halbes Jahr danach, im Frühjahr 1918, wieder rückgängig gemacht und durch neue staatliche Zensurmaßnahmen ersetzt wurden; Maßnahmen, die im Übrigen weit strenger gehandhabt wurden als im vormaligen Zarenreich.
Auch in anderen staatlichen und betrieblichen Bereichen blieben die neuen Machthaber hinter vorrevolutionären Standards zurück – der Status von 1913 wurde erst zwei Jahrzehnte später annähernd wieder erreicht, und auch dies lediglich im Ökonomiebereich (durch forcierte Industrialisierung bei gleichzeitiger Vernichtung der privaten Landwirtschaft), derweil Kultur- und Wissenschaft, dem kommunistischen Freiheitspathos zum Trotz, rigider Staats- und Parteikontrolle unterstellt wurden.
Das Scheitern des Sowjetstaates
Selbst die schon vor der Oktoberrevolution schrittweise durchgesetzten Neuerungen in der Sozial-, der Arbeits- und der Gesundheitspolitik (Versicherungsschutz, Gewerkschaftsrecht, geregelte Arbeitszeit und Entlöhnung u. a.) konnten vom Sowjetstaat nicht garantiert werden und blieben für lange Zeit, mitunter bis zum Zusammenbruch der UdSSR hinter dem Standard der 1910er Jahre zurück. Angesichts der damaligen erfolgreichen Reformmaßnahmen in der russischen Landwirtschaft, im Außenhandel, im Bankensektor, im Schul- und Gerichtswesen glaubte der Großfürst Aleksander Michailowitsch annehmen zu dürfen, „dass sich Russland zum Herbst 1913 aus einem Land müßiger Großgrundbesitzer und unterernährter Bauern in ein Land verwandelt hatte, das sich zum Sprung in die vaterländische Wall Street anschickte“. Der Augenschein und die Prognostik des Großfürsten stimmten demnach mit den Analysen des Wirtschaftsforschers Téry überein, aber dieser wie jener sah sich in seinen hohen Erwartungen durch die spätere Zwangskollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und die Einführung der staatlichen Planwirtschaft nachhaltig getäuscht.
Ende einer Verheißung
Das große, potentiell zukunftsträchtige Jahrzehnt, das durch den Weltkrieg und die bolschewistische Revolution ein abruptes Ende fand, war von zwei symbolträchtigen Eckdaten markiert: einerseits von der Abdankung des Zaren Nikolaus II. als Autokrat und der damit einhergehenden Schaffung eines Parlaments (1905) sowie andererseits von den grandiosen Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehen des Herrscherhauses Romanow (1913).
Der Übergang zum Konstitutionalismus hätte längerfristig die Modernisierung des Imperiums und den Abbau sozialer Spannungen ermöglichen können, wäre die Parlamentsarbeit nicht durch reaktionäre (darunter auch kirchliche) Kräfte behindert und schließlich zum Erliegen gebracht worden. Dass statt dessen am Vorabend des Weltkriegs noch einmal mit ungeheurem Aufwand an Material und Personal eine Dynastie glorifiziert wurde, die faktisch am Ende war, muss damals wie ein gespenstisches Finale gewirkt haben.
Die politisch unbedarften Repräsentanten dieser Dynastie − die Zarenfamilie, die Großfürsten, der Hochadel – orientierten sich lieber an obskuren Einflüsterungen denn an kompetenter Beratung, und ohnehin hielten sie administrative Neuerungen für eine Gefährdung ihrer eigenen Interessen und ihrer herrscherlichen Legitimation.
Die schwindende Autorität und Funktionsfähigkeit des Parlaments, die Schwächung der Reformkräfte durch progressive wie auch konservative Widersacher, letztlich dann die Verschärfung der sozialen und nationalen Krise im Weltkrieg – all diese Faktoren trugen dazu bei, dass die linke (damals minderheitliche) Avantgarde der Bolschewiki an einem winterlichen Oktobertag ohne größeren Aufwand und auch ohne größeren Widerstand die Schaltstellen des Imperiums besetzen konnte. Damit signalisierten sie ihre Machtübernahme, deren Festigung und Durchsetzung bekanntlich noch mehrere Jahre dauern und Millionen von Staatsbürgern das Leben kosten sollte.