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Titelthema: Revolution

Bruch statt Aufschwung

Titelthema: Revolution - Bruch statt Aufschwung
Russland – im Bild Nikolaus II. mit seinen Kindern – war vor 1914 moderner als es die Propaganda nach der Revolution behauptete. © Foto: Culture Club/Getty Images

Die Russische Revolution war kein Start in eine bessere, modernere Welt. Vielmehr beendete sie eine verheißungsvolle Erfolgsgeschichte.

Felix Philip Ingold01.02.2017

Wenn von der Russischen Revolution die Rede ist, denkt man gemeinhin ­ohne weitere Differenzierung an die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917, kaum jedoch an die bürgerliche Revolution vom Februar im selben Jahr und schon gar nicht an die Revolution von 1905, die sich in Form von landesweiten Bauern- und Arbeiteraufstän­den ausgebreitet hat, nachdem die russische Autokratie bereits mit Biegen und Bre­chen in eine konstitutionelle Monarchie übergeführt und durch ein Parlament – die Duma – zumindest formell beglaubigt worden war.

Richtigerweise sollte man also in der Mehrzahl von den Revolutionen reden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit zum Sturz des Zarenreichs geführt haben – dies mit unterschiedlichen Beweggründen und in unterschiedlichen Stoßrichtungen.

Unsicherer Ausgang
Dass schließlich die Bolschewiki − von Lenin als schlagkräftige Minderheit in den ideologischen Klassenkampf, auf die ­Petrograder Barrikaden und nachfolgend in den Bürgerkrieg geführt − die divergierenden Kräfte auf Dauer würden bündeln können, stand auch nach ihrer Macht­ergrei­fung keineswegs fest. Nur mit äußerster militärischer und polizeilicher Gewalt, mit sozialer Willkür und aggressiver Propaganda ließ sich eine landesweite „Diktatur des Proletariats“ errichten, die in den mitt­leren 1920er Jahren – im Übergang von Lenin zu Stalin – die alte Herrschafts- und Wirtschaftsordnung definitiv zugunsten des weltweit „ersten Arbeiter- und Bauernstaats“ ablöste.

Nach mehrjährigem verlustreichem Bürgerkrieg etablierte sich um 1922 das neue kommunistische Staatsgebilde als Union der Sozialistischen Sowjetrepu­bli­ken (UdSSR). Ideologisch und politisch war das Sowjetsystem ursprünglich auf die globale Durchsetzung des Kommunismus in marxistisch-leninistischem Verständnis angelegt, ein Konzept, das von Stalin schon bald – im Gegenzug zum entmachteten Trotzki – aufgegeben wurde zugunsten eines national-bolschewistischen Imperiums, dem der Sowjetpatriotismus angesichts des reichsdeutschen „Drangs nach Osten“ nützlicher zu sein schien als der kommunistische Internationalismus.

Bis heute sind die Folgen der revolu­tionären Umwälzungen in Russland weit besser bekannt als die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen, die zum großen Traditionsbruch vom Herbst und Winter 1917/18 geführt haben. Das alte Zarenreich war zum Zeitpunkt seiner gewaltsamen Bolschewisierung keineswegs bloß ein korrupter Unrechtsstaat, dessen Zerfall unmittelbar bevorstand. Richtig ist, dass die ländliche Bevölkerungsmehrheit wie auch die minderheitliche städtische Arbeiterschaft unterprivilegiert und bildungsfern gehalten wurden; dass Russland technologisch und industriell weit hinter Westeuropa und den USA zurückstand; dass die staatlichen Institutionen durch Bürokratie, Nepotismus, Korruption und Verschwendung ge­schwächt waren; dass das Bildungs­wesen noch immer stark von der Kirche beeinflusst und dessen Modernisierung dadurch behindert wurde; dass es bei Justiz und Militär fatale Defizite an Professionalität und politischer Unabhängigkeit gab.

Evolutionäre Aufwärtsbewegung  
Dass es bei all diesen – und manchen andern – Krisensymptomen und Mangel­erscheinungen auch bemerkenswerte Anzeichen für eine positive Zukunfts­entwicklung gab, wird gemeinhin nicht hinreichend gewürdigt, oft auch gar nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Generell lässt sich indessen sagen (und auch belegen), dass Russland am Vorabend der Revolution, namentlich in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg, keineswegs von politischem, wirtschaftlichem, kulturellem Bankrott bedroht war, dass sich der Staat vielmehr − wiewohl an allen Ecken und Enden knirschend – in einer evolutiven Aufwärtsbewegung befand und gute Chancen hatte, nach Jahrhunderten der Rückständigkeit endlich den Anschluss an die zivilisatorische Entwicklung Westeuropas herzustellen und auch selbst zur europäischen Zivilisation einen substanziellen Beitrag zu leisten.

Laut einer hochgemuten Prognose des französischen Ökonomen Edmond Téry von 1913 hätte das russländische Imperium bis zur Jahrhundertmitte nicht nur diesen Anschluss be­werkstelligen, sondern − darüber hinaus − sich als führende Wirtschaftsmacht in Europa eta­blieren können.

Jenseits der Missstände
Vordergründig dominierten zwar die sozia­len Missstände, doch hinter den düste­ren zeitgeschichtlichen Kulissen – Massen­demonstrationen, Streiks, Attentate, Pogrome, Polizeiterror – bildeten sich klar fassbare Ansätze zu einem epochalen Auf- und Umschwung heraus: eine Entwicklung, deren kraftvolle Dynamik die wirtschaftlich-soziale Evolution Russlands ohne Zweifel hätte beflügeln können, die aber durch den Krieg von 1914/18 gleich wieder zurückgedämmt wurde, so dass der initiale Schwung dann eben doch in dem „großen Bruch“ endete, auf den die linksextremen Sozialrevolutionäre und die Bolschewiki als deren kämpferische Vorhut konsequent hingearbeitet hatten und den sie denn auch bemerkenswert rasch für die Realisierung einer wirtschaftlich, politisch und ideologisch völlig neuen Staatsform – des Sowjetimpe­riums – zu nutzen vermochten.

Felix Philip Ingold
Prof. Dr. Felix Philipp Ingold ist em. Ordinarius für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der ­Universität St. Gallen. 2013 erschien „Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913“ (Matthes und Seitz). matthes-seitz-berlin.de