Fragen an den Historiker Jörg Baberowski. Über die Bedeutung der Russischen Revolution, das Wesen des Kommunismus und dessen Folgen bis in die Gegenwart
01.02.2017
Herr Baberowski, in diesem Jahr jähren sich zum einhundertsten Mal die russische Februarrevolution und die Oktoberrevolution. Haben diese Ereignisse jenseits der Historikerzunft heute noch eine Bedeutung für unsere Gesellschaft? Die Russische Revolution hat in vielerlei Hinsicht noch eine große Bedeutung. Sie steht am Anfang einer Entwicklung, die auf lange Sicht zur Spaltung Europas führte. Diese ist zwar ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges; aber das sowjetische Modell, das nach 1945 in Osteuropa herrschte, ist infolge der Russischen Revolution entstanden. Die Folgen dieses Gesellschaftsentwurfs spüren wir heute noch: die autoritären Regime, die sich überall in Osteuropa ausgebreitet haben, und auch die konservative Beharrungs- ideologie in vielen ostmitteleuropäischen Staaten ist eine Folge des Exports dieses sowjetischen Modells.
Natürlich ist auch die heutige Rolle Russlands in der Welt eine Folge dieser Revolution. Nicht vergessen dürfen wir auch die Attraktivität des Sozialismus als Ideologie. Ich habe nie geglaubt, dass der Sozialismus tot ist. Die Rede vom Ende der Geschichte, die nach 1991 zu vernehmen war, und der Glaube, die Marktwirtschaft habe gesiegt, war im Grunde Unsinn. Wir erleben ja gerade, wie sozialistische Vorstellungen zurückkommen, wie die soziale Frage zurückkehrt und wie autoritäre Ordnungen wieder an Bedeutung gewinnen.
Was war der Kommunismus seinem Wesen nach? Den einen Kommunismus als solchen gab es nicht. Er war für Marx und Engels etwas anderes als für Lenin und Stalin, und für Mao wiederum etwas anderes als für Fidel Castro. Der Kommunismus in der Form, wie wir ihn kennengelernt haben, war ein typisch sowjetisches Projekt, das der Erziehung einer multiethnischen Bauerngesellschaft dienen sollte. Deshalb war der Kommunismus in seinem Wesen auch so autoritär und extrem konservativ. Er wurde zwar in den fortschrittlichsten Ländern des Industriezeitalters ersonnen, praktisch umgesetzt jedoch in zuvor rückständigen Agrargesellschaften – neben Russland in China, Kambodscha, Vietnam und weiteren Ländern der Dritten Welt. Überall dort war der Kommunismus durchaus ein Modell zur Modernisierung, während er in Mittel- und Westeuropa im Grunde immer nur ein Randphänomen von einigen linken Sektierern geblieben ist, die niemand erst genommen hat.
Warum errichteten die kommunistischen Bewegungen, die in ihren Grundsätzen das Ziel formulierten, die Menschen von ihrem feudalen Joch befreien zu wollen, stets totalitäre Gewaltregime? Das hat damit zu tun, dass sie sich in Gesellschaften durchgesetzt haben, in denen es zuvor keine Demokratie, keine bürgerliche Gesellschaft, keinen Rechtsstaat und keine Aufklärung gab. Der Kommunismus hat sich sozusagen in vormodernen Räumen durchgesetzt. Dort, wo kommunistische Parteien gewählt werden konnten, zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich, haben sie zwar durchaus beachtliche Erfolge erlangt. Aber an die Macht gekommen sind sie nur dort, wo sie einen gewaltsamen Weg eingeschlagen hatten.
Auch bei der Durchsetzung ihrer Modernisierungspolitik spielte für die kommunistischen Bewegungen Gewalt eine große Rolle, weil diese von der Mehrheit der Bevölkerung nicht getragen wurde. Dabei übernahmen sie durchaus die Handlungsmuster ihrer Vorgänger.
In Russland etwa hatten schon die Zaren ihre Modernisierungsprojekte gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt. Das Verhängnis war, dass die kommunistischen Regimes binnen kürzester Zeit das erreichen wollten, wofür die Mittel- und Westeuropäer Generationen gebraucht hatten. Aber sie hatten keine gesellschaftliche Grundlage, auf der sich ihre Experimente hätten vollziehen können.
Warum führte diese Modernisierungspolitik in die von Ihnen eingangs beschriebene konservative Beharrung, die wir in vielen postkommunistischen Ländern beobachten können? Zum einen, weil der Kommunismus selbst seinem Wesen nach nicht fortschrittlich war. Nachdem die Regimes einmal an die Macht gekommen waren, lehnten sie den weiteren Wandel der Gesellschaft ab und konzentrierten sich darauf, die Bevölkerung in ihrem Herrschaftsbereich zu unterwerfen und zu disziplinieren. Das gelang nur, indem sie die Zeit quasi stillstellten: der Kommunismus als eine ewige Ordnung, die niemals weggehen würde; Menschen, die alle die gleiche Kleidung trugen und alle die gleichen Führer anbeteten und alle die gleiche merkwürdige abgerichtete Sprache sprachen.
Andererseits hat dieses wandlungsfeindliche Modell auch Erfolge gehabt. Es hat die Gesellschaften stabilisiert und den inneren Frieden hergestellt. Die Menschen lebten zwar in einer Mangelwirtschaft, aber auch in einer extrem berechenbaren Ordnung.
Die mit dem Ende des Kommunismus dahin war. Genau. Natürlich haben nahezu alle den Zerfall des Kommunismus als Befreiung und als Chance auf steigenden Wohlstand gesehen. Doch für die meisten – vor allem in der Sowjetunion – bedeutete das Ende des rückständigen Sozialismus für lange Zeit bitterste Armut und den Zusammenbruch jeglicher Ordnung. Deshalb sehen bis heute viele Menschen in den früheren Ostblockländern gesellschaftlichen Wandel weniger als Chance, sondern als etwas Bedrohliches an. Die Popularität Putins ist überhaupt nicht vorstellbar ohne diese Grenzerfahrung.
Sie haben sich in Ihren Forschungen immer wieder mit den ganz düsteren Facetten des Kommunismus auseinandergesetzt, mit der Figur Stalin ebenso wie mit der gesamten Bandbreite des roten Terrors. Welches Erbe hat dieser Kommunismus hinterlassen? Diese stalinistische Version des Kommunismus hat natürlich schreckliche Verheerungen angerichtet. Zunächst einmal hat der Stalinismus – im Zusammenspiel mit dem Nationalsozialismus – Europa ethnisch homogen gemacht. Die multiethnischen Staaten sind verschwunden, vor allem in Ostmitteleuropa. Die Grenzen wurden begradigt, die Minoritäten deportiert. Wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vielfältigkeit war, haben die Kommunisten Eindeutigkeit hergestellt. Die Polen und Tschechen konnten ihre Deutschen loswerden, die Rumänen ihre Ungarn usw. Diese Exzesse haben das Verhältnis zwischen den ethnischen Gruppen vergiftet und dazu geführt, dass sich die Staaten in Ostmitteleuropa heute überwiegend ethnisch definieren.
Ein weiteres Erbe ist das der Gewalt, die so total und so schrecklich war, dass sie zumindest in der Sowjetunion keine einzige Familie unberührt gelassen hat. Bis heute wird die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen angesehen – von der Disziplinierung abtrünniger Regionen wie Tschetschenien bis zur Ausschaltung unliebsamer Oppositioneller unter ungeklärten Umständen.
Es gibt allerdings auch das Erbe der Entstalinisierung. Nach Stalins Tod 1953 gab es auf dem Territorium der Sowjetunion keinen Krieg mehr. Das war für die Bürger, die im Grunde seit 1905 ununterbrochen Revolutionen, Terrorwellen, Deportationen und Massenvernichtung im eigenen Land erlebt hatten, eine ganz neue Erfahrung. Und dann vierzig Jahre lang Frieden! Das hat den Menschen Vertrauen gegeben, Erwartungssicherheit und eben auch einen bescheidenen Wohlstand.
Aber auch in den milderen Zeiten nach Stalin hat es doch Unterdrückung gegeben. Zum Beispiel gab es in jedem kommunistischen Staat ein flächendeckendes Überwachungs- und Spitzelsystem, das dazu führte, dass viele Menschen bis heute einander nicht über den Weg trauen.
Natürlich. Die Kultur des Misstrauens, die Kultur der Verschwörungstheorie, der Glaube, dass die Herrschenden grundsätzlich lügen, das alles ist ein Ergebnis der Diktaturerfahrung. Darum misstrauen die Menschen grundsätzlich allen politischen Institutionen und dem Staat im Ganzen. Deshalb ist es eben auch so schwer, so etwas wie eine demokratische bürgerliche Kultur zu entwickeln.
Zur Geschichte des Kommunismus gehört auch die Vertreibung oder gar Vernichtung der alten bürgerlichen und adeligen Eliten. Wie wirkt sich dies in der Gegenwart aus? Der Umgang mit den alten Eliten war in den einzelnen Ländern sehr verschieden. In der DDR wurden zwar die Junker enteignet und Konzerne verstaatlicht, andererseits hat man versucht, zumindest Teile des Bürgertums zu halten. Das gilt insbesondere für Ingenieure und Ärzte. Selbst den ehemaligen Wehrmachtsoffizieren wurde mit der Nationaldemokratischen Partei eine Heimat geboten. Der Verlust des Bürgertums erfolgte in der DDR vor allem durch Flucht, weil es im anderen Teil Deutschlands eine attraktivere Alternative gab. In der Sowjetunion hingegen wurde die alte Oberschicht größtenteils physisch vernichtet, mit verheerenden Folgen für die sozialen Möglichkeiten des Landes, weil es keinerlei Oberschicht mit Hochkultur mehr gab, an der irgendjemand sich hätte orientieren können. Bis auf wenige Nischen war die gesamte Sowjetunion vom einfachen Dorf bis hinauf ins Politbüro von Bauern und Landarbeitern geprägt.
In Polen wiederum hat ein großer Teil des Adels sogar die kommunistische Partei überleben können. Dort hat es noch so etwas wie ein freies Bauerntum und eine Handwerkerschaft gegeben, die nicht kollektiviert wurden. Deshalb konnten die Polen nach 1989/91 mit marktwirtschaftlichen Elementen sehr viel besser umgehen als die Menschen der früheren Sowjetunion.
Was lehrt die Geschichte des Kommunismus für die Gegenwart? Wer auch immer eine Gesellschaft umgestalten will, sollte nicht das Unmögliche verlangen. Wer das Unmögliche will, wird am Möglichen scheitern. Die Kommunisten aber wollten das Unmögliche, ohne die beschränkten Möglichkeiten zu sehen, die sie zur Verfügung hatten. Diese Hybris hat zu einer beispiellosen massenhaften Gewalt geführt.
Prof. Dr. Jörg Baberowski ist Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Werken gehören u. a. „Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus“ (München 2003, zuletzt 4. Auflage Frankfurt am Main 2014) und „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ (4. Auflage, Frankfurt am Main 2014 Fischer-Taschenbuch). geschichte.hu-berlin.de