Titelthema
Bürgerlichkeit als Haltung
Vom Fortschrittsbegriff zum Schimpfwort und zurück. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass sich das Bild vom „Bürger“ im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt hat. Richtig verstanden könnte Bürgerlichkeit auch heute wieder eine nützliche Lebensform sein.
Vor kurzem galt der Begriff des Bürgerlichen noch als Schimpfwort. Die Bürgerlichen waren die Bewahrer, diejenigen, die sich gegen alles Neue, gegen Veränderung, gegen die Zeitläufte abgrenzen wollten. Bürgerlichkeit war ein Schimpfwort gegen den Fortschritt – dabei waren die Bürgerlichen einst die Trägergruppe revolutionärer Verhältnisse. Die bürgerlichen Revolutionen, allen voran die französische von 1789, sind eine der Grundlagen moderner Institutionen, wie wir sie noch heute kennen – vom Nationalstaat über die moderne Universität, die allgemeine Schulpflicht, den Rechtsstaat bis hin zur modernen Berufsethik dessen, der seine Existenz selbst, durch eigener Hände und vor allem des Kopfes Arbeit hervorbringt. Ein Schimpfwort war das Bürgerliche vor allem von links, von wo aus man zumindest seine liberale und konservativ-liberale Variante im Visier hatte.
Vom Schimpfwort zum Qualitätsbegriff
Inzwischen wird Bürgerlichkeit nicht mehr als Schimpfwort gebraucht, sondern als eine Qualität. Gegen linke, vor allem aber gegen rechte Verächter des liberalen Verfassungsstaates und der modernen liberal-pluralistischen Lebensform wird das Bürgerliche als eine Kategorie gehandelt, die auf die klassischen Tugenden einer Gesellschaft abstellt, die ihre Konflikte unter Vermeidung von Extremen, gleich welcher Couleur, austragen will. Bürgerlichkeit scheint hier als Moderator zu dienen, als eine Art Abklingbecken fürs Extreme. Die Parteienlandschaft der klassischen Industriegesellschaft hat das unter anderem dadurch ermöglicht, dass die großen politischen Kräfte – Sozialdemokraten und Konservative – in der Lage waren, wenigstens die gemäßigten Extreme einzubinden und einzuhegen.
Bürgerlichkeit ist dann weniger politisch als Mitte-Rechts-Orientierung im Sinne konservativer Parteien gemeint, sondern eher im Sinne eines Diskursstils, der mit unterschiedlichen Interessen und politischen Weltbildern und Ideologien auf eine zivilisierte Weise umgeht und jedem Menschen die gleichen Rechte einräumt. Der Parlamentarismus ist dafür im politischen Bereich die paradigmatische Institution: sich an rechtsförmige Verfahren zu halten, sich selbst disziplinierend zurückzunehmen, die Institution selbst zu achten und loyal zu den Ergebnissen zu stehen. Extreme politische Bewegungen von rechts wie von links sind prinzipiell antiparlamentarisch eingestellt. Parlamente sind für sie nur theatrale Inszenierungen, nichts weiter. Was ein „bürgerliches“ Parlament ausmacht, kommt in der schönen Sentenz von „Her Majesty’s loyal Opposition“ aus dem viktorianischen England zum Ausdruck: Auch die Opposition, auch die im demokratischen Prozess Unterlegenen, auch die Wahlverlierer, auch die Antipoden der Regierung gehören zum politischen System und haben eine ebenso wichtige Funktion wie die Regierenden selbst.
Das ist es, was das neue Interesse am Bürgerlichen derzeit ausmacht; in Zeiten, in denen Opposition nicht mehr loyal zum Staat steht, sondern letztlich „das System“ selbst in Frage stellt. Was solcherart Protest und Opposition geradezu antibürgerlich macht – selbst wenn es im Parlament sitzt –, ist die radikale Institutionen- und Elitenkritik gegen Universitäten und Theater, gegen die „etablierten“ Parteien und das parlamentarische Verfahren selbst, gegen das Recht und seine ausgleichende Form, gegen Expertise und den bürgerlichen (sic!) comment pluralistischer Verfahren. Die Antibürgerlichen pflegen eine Opferrolle trotz der offenkundigen Offenheit des Staates, trotz der Tatsache, dass niemand daran gehindert wird, seine Meinung zu sagen, den Rechtsstaat in Anspruch zu nehmen, politisch gewählt werden zu können oder Zugang zu den Massenmedien zu erhalten.
Historische Bedeutung
Das Bürgertum ist ursprünglich ein negativer Standesbegriff gewesen; negativ in dem Sinne, dass der Bürger darüber bestimmt wurde, was er nicht war. Bürger war, wer weder Adeliger noch Bauer war, so hieß es im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Soziologisch und historisch lässt sich dieser Stand aber weniger eindeutig bestimmen, als es der Begriff suggeriert. Was man freilich sicher sagen kann, ist dies:
Die Träger des Bürgertums waren vor allem handwerklich und an Bildung orientierte Gruppen in den reichsunmittelbaren Städten. Das Bürgertum entwickelte eine sowohl ökonomische als auch politische Bedeutung: Ökonomisch war die Idee des Handels, der Produktion, der Organisation von Arbeitsteilung und der Pflege von Kompetenzen; politisch war die Entwicklung von Bürgerrechten, die den Menschen eine Erwartungssicherheit im Hinblick auf ihre eigenen Verhältnisse und Rechte ermöglichten. All das zielte auf eine Lebensform des Interessen- und Ideenausgleichs, was schon deswegen nötig war, weil in dieser Schicht das Neue – wiederum ökonomisch und politisch – und nicht zuletzt die auf Zukunft hin gedachte Lebensführung und -planung konstitutiv war. Der Bürger lebte ein Leben, dessen Erfolg bzw. dessen So-Sein ihm selbst zugerechnet wurde, seinen Leistungen und seinen Taten. Zwar war „Bürger“ zunächst ein Standesbegriff, aber er bewegte sich stets in der Spannung zwischen standesmäßiger Zugehörigkeit und geradezu allgemeinmenschlichen Fähigkeiten. Schon in Aristoteles‘ „Politik“ wird diese Spannung zwischen der Bürger- und der Menschentugend diskutiert; und Aristoteles kommt in einem geradezu soziologischen Gedanken zu dem Ergebnis, dass der Bürger erst in angemessenen sozialen Verhältnissen zum Menschen wird.
Innere Spannungen
In dieser Spannung bewegt sich der gesamte Diskurs um das Bürgertum und das Bürgerliche – und wir wissen, dass diese Spannung es auch gewesen ist, die das Bürgerliche auch praktisch durchlebt hat. Bürgerlichkeit war sowohl diejenige Kraft, die universalistische Werte und die Menschenrechte entwickelt hat, zugleich aber auch ihre Dementierung betrieben hat. Die Katastrophen der letzten beiden Jahrhunderte – der überbordene Nationalismus ebenso wie der Faschismus – hatten durchaus auch einen bürgerlichen Ursprung, auch wenn diese Bewegungen selbst in einem entschiedenen Sinne antibürgerlich waren. Und für linke diktatorische Bewegungen galt das noch mehr, wobei deren intellektuelle Trägergruppen auch bürgerliche Trägergruppen waren.
Eine gestalterische Kraft
Und trotzdem: Heute kann Bürgerlichkeit mit Fug und Recht als eine Kraft bestimmt werden, die nicht nur die abstrakten Tugenden, sondern auch die zentralen Institutionen einer modernen Gesellschaft prägen können sollte. Wenn Bürgerlichkeit einerseits bedeutet, Gemeinwohl und Eigeninteresse in Einklang zu bringen – das war die Formel, auf die Hegel die Spannung des Bürgerlichen gebracht hat – und die beides für legitim hält; wenn Bürgerlichkeit bedeutet, immer neu darüber nachzudenken, wer dazugehört, wer gehört werden muss und dass dies nicht von vorneherein immer schon ausgemacht ist; wenn Bürgerlichkeit bedeutet, das Extreme einzuhegen – sowohl politisch als auch in der konkreten, ganz privaten Lebensführung; wenn Bürgerlichkeit bedeutet, dem, was Menschen sagen, mehr Bedeutsamkeit zu gewähren als dem, was sie angeblich sind – wenn all dies der Maßstab des Bürgerlichen ist, dann wäre tatsächlich aufs Bürgerliche zu setzen.
Bürgerlichkeit wäre dann weniger eine distinkte, also um Abgrenzung bemühte Trägergruppe, sondern die Haltung einer Lebensform, die heute pluralistischer wäre als noch vor Generationen. Denn gerade für diese Spannung mussten historisch immer neue Formen gefunden werden. Interessant ist der französische Sprachgebrauch: Der Bürger ist dann sowohl citoyen als auch bourgeois. Um diese Begriffe hat es von Rousseau über Bodin bis zur französischen Revolution große Auseinandersetzungen gegeben – und es war eben nicht nur die Auseinandersetzung um einen Begriff, sondern auch um die Frage, was den Bürger ausmacht: ein allgemeines politisches Gemeinwohl zu befördern oder privilegiertes Mitglied einer konkrekten historischen städtischen/staatlichen Gestalt zu sein und dort seine Individualinteressen zu pflegen? Durchgesetzt hat sich der citoyen als freier und gleicher Bürger einer Nation – geblieben ist bis heute die Spannung zwischen Menschen- und Bürgerrechten, zwischen allgemeinen und Mitgliedschaftsrechten. Geblieben ist aber auch die Tradition, genau für diese Spannung eine Form zu finden. Wenn das im Bewusstsein der letztlichen Unauflöslichkeit dieser Spannung geschieht, kann man von Bürgerlichkeit sprechen.
Eine neue Bürgerlichkeit
Ein so modernisiertes, aber in den historischen Wurzeln der Tradition stehendes Verständnis von Bürgertum kann auch heute als eine Richtschnur gelten, mit Extremen umzugehen und den Diskurs zwischen unterschiedlichen Denk- und Lebensformen zu suchen und zu finden.
Wir leben derzeit in Umbruchzeiten. Viele Routinen der klassischen Industriegesellschaft, des klassischen Parteiensystems und nicht zuletzt bisheriger ökonomischer Kontinuitäten und ökologischer Fragen stehen vor großen Herausforderungen. Es wäre zu wünschen, dass es gelingt, Fragen einer Neugestaltung in einem bürgerlichen Sinne zu führen. Bürgerlich wäre daran dann nicht die Lösung selbst, darüber muss trefflich gestritten werden, aber die Form der Lösungsfindung. Denn genau das war die Spannung, in der Bürgerlichkeit historisch stets stand. Dieser Spannung und Widersprüchlichkeit ins Auge zu sehen, wäre bürgerlich in einem geradezu emphatischen Sinne.
© Revierphoto/ddp images nassehi.de