Titelthema
Clevere Opportunisten
Nicht nur der Wolf breitet sich wieder aus, sondern auch der Goldschakal. Begegnungen mit einem ganz besonderen Tier
Wer sich in der Fremde niederlässt, ist meist bestrebt, nicht aufzufallen – zumindest nicht unangenehm. Zu diesen Immigranten gehört der Goldschakal. Dabei hat die Wissenschaft durchaus den Verdacht, einige seiner frühen Vorfahren seien bereits Europäer gewesen. Prähistorische Nachweise gibt es. Andererseits ist man sich – derzeit – ziemlich sicher, dass die Savannen und Halbwüsten der Arabischen Halbinsel und Vorderasiens seine Urheimat waren.
„Nichts ist fix“, heißt es in Bayern und Österreich, wenn man sich in einer Sache nicht ganz einig ist. Das trifft auf den Goldschakal, was sein Aussehen wie sein Sozialverhalten betrifft, gleichermaßen zu. Er ist etwas hochläufiger und größer als unser heimischer Fuchs, aber deutlich kleiner als ein Wolf. Noch vor wenigen Jahrzehnten war er in Mitteleuropa kein Thema, was nicht heißt, dass er – wenn auch selten – nicht unter uns lebte.
Schon im 19. Jahrhundert sollen im heutigen Burgenland und im angrenzenden Ungarn „Rohrwölfe“ gelebt haben. Eine exakte zoologische Beschreibung dieser Tiere gab es nicht. Kleiner als richtige Wölfe sollen sie gewesen sein und deutlich größer als Füchse. Zur selben Zeit kamen in Ungarn aber auch ganz offiziell Goldschakale vor, ebenso in den angrenzenden Ländern des Balkans. Während sie in Ungarn zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgerottet wurden, traten sie vor allem im benachbarten Serbien zunehmend häufiger auf. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts mehrten sich Nachweise in Süddeutschland und Österreich. Es waren Opfer des Straßenverkehrs und Tiere, die vermeintlich als Füchse erlegt wurden. Wir dürfen annehmen, dass es eine beachtenswerte Dunkelziffer gab.
Plötzlich war er auch in Österreich
Ich selbst hatte meine erste Begegnung mit Goldschakalen in der Posavina, einer der letzten wirklich naturnahen Auenlandschaften Europas in Kro atien. Dort war die Art zur Jahrtausendwende bereits häufig. Ein glühend heißer Tag lag hinter mir, dazu der alles beherrschende Ruch nach modrigem Altwasser, nach Faulschlamm, dazu Myriaden von Stechmücken und als Hintergrundmusik das unablässige Sirren der Zikaden. Müde und erschöpft hatte ich mich – schon auf dem Weg zurück ins Dorf – auf dem Damm niedergelassen, der das kleine Dorf Čigoč vor den Hochwässern schützen sollte. Abendstimmung vom Feinsten.
Es waren vermeintlich zwei Hunde – zwei schwer einer Rasse zuordenbare „Straßenköter“ –, die meine Aufmerksamkeit erregten. Sie huschten in einer aufgegebenen, bereits von den aus Nordamerika eingewanderten Scheinindigo-Sträuchern eroberten Wiese umher. Es waren immer nur kurze Momente, in denen sie zwischen den invasiven Neophyten zu sehen waren. Doch diese genügten, um Zweifel an der Identität der beiden Hunde aufkommen zu lassen. Konnten es Wölfe sein? Schon beim nächsten Auftauchen verwarf ich den Gedanken wieder. Die Statur passte nicht, und die Lunten waren im Verhältnis zur Körpergröße zu kurz. Dann – endlich – war mir klar, was ich vor mir hatte: Es waren zwei Gold schaka le, vermutlich ein Paar!
Klar: Die wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr gemähte Wiese, in der sich die Indigo-Sträucher breitmachten, waren ein Paradies für Kleinnager wie für zahllose Großinsekten. Die gesamte Landschaft, in welcher trockene Partien mit feuchten Senken wechselten, musste für Schakale ein Paradies sein. Die Feuchtwiesen, in denen Weißstörche in großer Zahl ebenso auf Amphibienjagd waren wie weiße und graue Reiher. Dann der breite, zur Sava strebende Graben, an dessen Böschung die zahlreichen Nutrias die Abendsonne genossen. Hier fand sich, was einen Opportunisten erfreuen und satt machen konnte. Hinterm Damm sorgten schon die Hochwasser für ein Schlemmerbüffet – ertrunkene Rehe, krepierte, angeschwemmte Turopolje-Schweine und mehr. Wo die Jäger hinter den Wölfen her waren, stießen die Goldschakale auf ihre Zukunft an. Nur die Füchse hatten einen Nutzer mehr und wurden eher weniger. Nahrungsangebot und Nahrungskonkurrenz sind in der Natur die großen Regulatoren.
Zwei Jahre später tauchte der erste Goldschakal bei uns im Gailtal auf. Wie lange er sich dort als Fuchs „ausgab“, ist unbekannt. Irgendwann waren es zumindest zwei, und bald gab es auch Nachwuchs. Die Aufregung in Teilen der Jägerschaft war groß. Befürchtungen wurden laut, die Schakale könnten die Rehe ausrotten. Diese Befürchtung wurde Jahre zuvor bereits in Ungarn laut, doch seither steigt dort sogar die Zahl der alljährlich geschossenen Rehe, was deren Ausrottung ziemlich unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Inzwischen hat sich der Goldschakal fast überall in Europa – sporadisch – niedergelassen, und selbst im Baltikum scheint er sich wohlzufühlen. Seine Anpassungsfähigkeit, aber auch die Klimaerwärmung helfen ihm dabei. Schonzeit wird ihm kaum irgendwo gewährt, dennoch expandiert er. In Deutschland und Österreich machen ihm allerdings die ebenfalls eingewanderten Wölfe und der Stra ßenverkehr zu schaffen.
Flexibilität sichert Überleben
Auch bei meinen Nachbarn in Slowenien drüben hatten wir Kontakt mit dem Goldschakal. Vor Jahren, beim nächtlichen Verhören der Wölfe, am See von Cerknica. Wir saßen auf dem den See teilenden Damm. Voller Mond und kalte Nacht. Drüben am Javornik das Heulen der zur Jagd aufbrechenden Wölfe und vor uns drei über den Damm wechselnde Schatten, die wir in unserer Begeisterung erst als Wölfe ansprachen – Goldschakale. So schnell und leise, wie sie aus dem Schilf gekommen waren, verschwanden sie auch wieder.
Dann eine fast tropische Nacht im Naturpark Rakov Škocjan, ein paar Kilometer hinterm See. Es ging auf Mitternacht zu. Wir saßen auf der Terrasse des gleichnamigen mitten in den großen Wäldern gelegenen Hotels. Wieder der fast volle Mond, der den Vertočan in unseren Gläsern vergoldete. In die fast unheimliche Stille hinein bellte uns – kaum mehr als 50 Meter mochten es gewesen sein – ein „Hund“ an! Er musste uns bemerkt haben, hatte vielleicht auch Wind bekommen. Aus dem etwas eigenartigen Bellen wurde ein missglücktes Heulen. Es entfernte sich zögernd und kam doch wieder näher, und aus den „Heulversuchen“ wurde neuerlich ein Bellen. Der Goldschakal war’s, der sich wohl für die Abfallbox des Hotels interessierte.
Doch wie fast alle Mitglieder der großen Hundefamilie sind auch die Goldschakale gleichermaßen dreist wie übervorsichtig, und sie zeigen sich in vielen Dingen flexibel. Das betrifft besonders ihr Sozialverhalten. Mal sind sie professionelle, im Rudel jagende Räuber, was eine bestimmte „Mannschaftsstärke“ voraussetzt, dann wieder „Solo-Sammler“. Die Landschaft, in der sie gerade leben, bestimmt ihr Jagd- wie ihr Sozialverhalten.
Auch der Wolf verschmäht die Maus nicht, aber von Mäusen satt zu werden ist selbst für die Einzeljäger unter ihnen schwierig. Beide – Wölfe wie Goldschakale – ernähren sich rational, also opportunistisch. Die mit der Nahrung gewonnene Energie muss den Aufwand für deren Beschaffung lohnen. Wer hinsichtlich seiner Gesellschaftsform und Nahrung flexibel ist, hat die größeren Überlebenschancen.
Buchtipp
Bruno Hespeler
Wildtiere im Fokus. Rückkehrer & Zuwanderer
Stocker Verlag 2022,
248 Seiten, 24,90 Euro
Bruno Hespeler ist Jahrgang 1943 und lebt im Kärntner Gailtal, direkt an der Grenze zu Italien und Slowenien. Viele Jahre arbeitete er als Berufsjäger bei der deutschen Forstverwaltung, schrieb später als Freelancer für Fach-, Publikums- und Tageszeitungen. So ganz nebenher erschienen noch rund 40 Bücher von ihm.
© Thomas Grado