Titelthema
Das ewige Imperium
Putins nostalgieorientierte Geschichtspolitik ist gesellschaftlich höchst willkommen: Alle Zukunftshoffnungen liegen auf der Vergangenheit.
Imperien – oder Staaten, die sich als solche denken – brauchen einen viel höheren geschichtspolitischen Aufwand, um ihre Legitimität zu begründen. Heute kann man in unserem post-imperialen Zeitalter am russischen Beispiel erkennen, wie hoch der Druck offenbar ist, um die – nun wieder aggressiv expandierende – Politik zu legitimieren und das eigene Handeln zu (v)erklären. Der Diskurs, mit dem der Kreml die Notwendigkeit der (Wieder-)Herstellung des Imperiums begründet, ist der gleiche wie zur Zeit der Entstehung des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert: Es geht um eine „historische Mission“, die von Russland ausgeht.
Die imperialen historischen Narrative sollen die Tagespolitik rechtfertigen, und der Hinweis auf die Einzigartigkeit des eigenen Imperiums muss bei der Bevölkerung jeden Zweifel an dem Agieren der Regierung auf der weltpolitischen Bühne wegfegen.
Drei Elemente dieser geschichtspolitischen Praxis lassen sich sehr gut im heutigen Russland erkennen: die Vorstellung von der Ukraine als genuin russisches Land; der Diskurs der historischen Befreiungsmission Moskaus; die historische Exzeptionalität oder die Ideologie des russischen „Sonderwegs“.
1. Der Mythos vom unteilbaren Russland
Putinsche Geschichtspolitik rekurriert die Postulate der staatstragenden Diskurse im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, als es um die Einheit des russischen „Volkstums“ – bestehend aus Großrussen, Kleinrussen (Ukraine) und Weißrussen (Belarus) – ging. Die russische Nation wäre demnach keine ethnische Entität, sondern könne nur im Zusammen-Sein dieser drei ethnischen Gruppen existieren. Dafür ist der gemeinsame Ursprungsmythos des Kiewer Rus essen ziell. Wohlgemerkt: Es ging nicht um eine „nation“ in ihrem französischen, also staatsbürgerlichen Sinn als ein vom königlichen Souverän emanzipiertes Subjekt, welches Recht spricht, sondern um ein Volkstum, also eine historisch-folkloristisch-konfessionelle Gemeinschaft der Slawen, die im Russischen Kaiserreich leben. Keineswegs sollte dieses Volk sich vom Zaren emanzipieren, im Gegenteil: Es könne nur in einer autokratischen Herrschaft existieren. Diesen Diskurs von „einem unteilbaren Russland“ übernahmen die Gegner der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg. Ihn übernimmt heute Putin, um der ukrainischen Nation ihr Recht auf die Existenz abzusprechen.
2. Das Projekt der „Imperium-Nation“
Der Rückgriff auf die Geschichte will jedoch nicht alle Objekte imperialer Herrschaft ansprechen, sondern nur die Kernbevölkerung – nämlich die Russen. Heute sind sie Objekte der Ansprache, dass Russland die Menschen und die Gebiete vom Bösen befreit. Stützen kann sich der Kreml auf den Mythos von Russland als einem friedlichen Imperium, dem es komplett an kolonialen Praktiken fehlte. Dem kann man vieles entgegnen. Freilich fehlte es Russland im Vergleich zu den anderen Imperien an Überseekolonien, in denen die indigene Bevölkerung versklavt wurde, und gewiss waren es vor allem eigene, orthodoxe Bauern beziehungsweise Leibeigene, die als Erste und am stärksten von der „mission civilisatrice“ des ersten imperialen Kaisers Peter I. betroffen waren. Wenn wir jedoch die Praktik der Veränderung der Lebensform von den nicht christlichen Völkern betrachten, so kann man auch im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts am Beispiel Sibiriens eine gewaltsame Kolonialisierung erkennen. Die Schattenseite der Aufklärung formte den Diskurs der eigenen Überlegenheit gegenüber den sibirischen Völkern, die vor allem auf ihre Defizite hin beschrieben und behandelt wurden: Sie seien nicht christlich, nicht sesshaft, nicht gebildet und nicht kultiviert. Die Politik St. Petersburgs gegenüber der indigenen Bevölkerung Sibiriens bestand in einer gewaltsam aufgezwungenen Änderung ihrer Lebensform und der Christianisierung. Um nicht mehr als „Barbaren“ zu gelten, mussten sie die Lebensform des imperialen Zentrums übernehmen. Das Heben der indigenen Bevölkerung auf eine höhere Zivilisationsstufe war weder friedlich noch human, sollte jedoch die Kolonialherrschaft positivistisch verklären. Nicht nur in der Geschichtspolitik, sondern auch in der Historiografie wird die imperiale Rhetorik von einer modernisierenden Wirkung der Metropole auf die Peripherien – und somit von ihrem vermeintlich freiwilligen Beitritt zum Imperium – hochgehalten.
Der Kreml hält das Projekt der „Imperium-Nation“ als eine wirksame politische Utopie hoch. Das Imperium lässt sich viel aussagekräftiger als ein „messianisches Projekt“ vermitteln, strebt es doch Inklusion und Offenheit an. Der Akzent dabei liegt auf der „Wiedervereinigung“ im einheitlichen Staat der Gebiete und der Bevölkerungsgruppen, welche als „eigene“ gelten. Die Offenheit in der Interpretation von russischen Grenzen und die als „Rückkehr“ vermittelte Annexion der Krim lässt den Kreml als Vollstrecker des Wiederaufbaus des Imperiums erscheinen.#
3. Die Ideologie des russischen Sonderwegs
Schließlich ist da noch der „Wir sind anders“-Diskurs, der sich auf eine eschatologische Vorstellung von Moskau als „drittem Rom“ stützt. Der Kreml argumentiert mit Russland als einer eigenen Zivilisation, um die Kritik des Westens an seinem Handel als unfair und unbegründet erscheinen zu lassen – denn russische Werte würden sich von den westlichen grundlegend unterscheiden. Vor allem in den Zeiten, in denen sich die russisch-europäischen Beziehungen verschlechtern, greift der Kreml auf den Diskurs des Sonderwegs zurück. Die vermeintliche „Andersartigkeit“ gilt als Rezept der russischen nationalen Selbstidentifikation: Russland als Nicht-Europa und Nicht-Asien, eine „souveräne Großmacht“ mit messianischem Anspruch auf die Weltgeltung.
Wie wirken diese Aspekte in die Gesellschaft des heutigen Russlands hinein? Im Alltagsleben heutiger Russen dominieren die Institute der Staatsmacht, nicht jene der Zivilgesellschaft. Der Zugang zur Geschichte ist fatalistisch: Nicht „wir machen Geschichte“, sondern „Geschichte bestimmt unsere Zukunft“. So ist die nostalgieorientierte Putinsche Geschichtspolitik gesellschaftlich höchst willkommen.
Einer der wichtigsten Soziologen und der gegenwartskritischen Philosophen der Gegenwart, Greg Yudin, wies auf das Problem der Kategorisierung russischer Gesellschaft als politisches Subjekt hin. Die Haltung „Man kann eh nichts beeinflussen“ scheint die eigene apolitische Einstellung zu rechtfertigen, was das Desinteresse an allem, was jenseits der eigenen Umgebung ist, zur Folge hat. Das ist nicht so sehr die Haltung, die in der Sowjetzeit lange antrainiert wurde, sondern vor allem die Folge der gezielten Zerstörung jeglicher horizontaler zivilgesellschaftlicher Aktivität in den letzten zehn Jahren, bei der die Liquidierung des Menschenrechtszentrums Memorial nur den Schlussakkord darstellte. Freilich ist das Charakteristikum eines Soziums als Gruppe depolitisierter Konsumenten kein ausschließlich russisches Spezifikum. Doch im heutigen Krieg Russlands in der Ukraine wird diese Haltung ganz besonders sichtbar und kritisch. Jene, die sich noch zu einer öffentlichen Aussage gegen den Krieg durchringen, werden meistens verhöhnt. So dient der Zynismus als einziges Kohäsionsmittel in einer extrem atomisierten russischen Gesellschaft.
Franziska Davies, Katja Makhotina,
Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs,
WBG 2021,
288 Seiten, 28 Euro
Dr. Ekaterina Makhotina ist promovierte Osteuropahistorikerin und vertritt die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
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