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Interview

„Das Gewissen steht über allem“

Interview - „Das Gewissen steht über allem“
© Matthias Schütt

Der Ethiker und Rotary-Berater Obiora Ike zur Kardinalfrage unserer Zeit: Wie kann der Mensch die globale Krise meistern?

01.11.2021

Die katholische Kirche und Familienplanung, das passt nach landläufiger Vorstellung nicht zusammen. Obiora Ike jedoch zeichnet ein differenziertes Bild. Wo die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht, hilft dogmatische Rechthaberei nicht weiter, erläutert er bei einem Interviewtermin in Ludwigshafen.

Monsignore Ike, Sie sind geweihter Priester, Professor für katholische Theologie, waren Generalvikar der Diözese Enugu in Nigeria und sind heute CEO eines weltweiten Online-Netzwerks für ethische Bildung. Auch begleiten Sie seit über 20 Jahren als Berater eine Rotary Action Group, die sich für Familienplanung zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums einsetzt. Wie kam es zu diesem Engagement?

Die Menschheit wird die Zukunft nur dann erfolgreich gestalten, wenn wir Menschen uns ganzheitlich entwickeln, an Leib und Seele, aber auch im Einklang mit Natur und Umwelt. Dazu gehört der Schutz der natürlichen Ressourcen, die durch die dynamische Bevölkerungsentwicklung gerade auch in meiner Heimat Nigeria gefährdet sind. Familienplanung ist ein notwendiger Ansatz, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Das dürfte in den Ohren vieler Katholiken unerhört klingen, für die technische Hilfsmittel zur Familienplanung undenkbar sind. Was sagen Sie denen?

Wie viele Kinder ein Ehepaar haben möchte, liegt ganz in seiner Entscheidung. Das – und welche Methoden es gegebenenfalls anwendet – ist eine Gewissensfrage, die Mann und Frau allein treffen müssen. Die Kirche kann Orientierung geben, aber die letzte Entscheidung liegt beim Einzelnen. Das verstehen wir unter verantworteter Elternschaft. Dazu haben die katholischen Ethiklehrer klar Stellung bezogen, besonders in den Schriften der Päpste Paul IV., Johannes Paul II. und Benedikt XVI.

Das Gewissen als oberste Instanz – widerspricht das nicht jeder kirchlichen Heilslehre, angefangen bei den Zehn Geboten?

Der Mensch kann sich erst dann im Sinne seines göttlichen Schöpfers vollenden, wenn er in der Lage ist, nach seinem guten Gewissen zu handeln. Das ist das Ziel. Das Gewissen steht über allem, im Extremfall sogar über dem Gesetz, wenn es um Grundfragen des Naturrechts geht.

Wo sehen Sie die Voraussetzungen, um dieses gewissenhafte Leben zu erreichen?

Das ist zweifellos Bildung. Und das ist der Punkt, an dem ich mit Rotary in Kontakt gekommen bin. Viele Rotarier, vor allem in der von Robert Zinser maßgeblich geprägten Rotary Action Group for Reproductive, Maternal and Child Health (früher: for Population & Development – Anm. d. Red.), engagieren sich in verschiedenen Projekten in Nigeria, um neben Gesundheitsvorsorge vor allem Frauen über Bildungsangebote ein selbstbewusstes Leben zu ermöglichen. Empowerment ist das Schlüsselwort mit Auswirkungen auch auf die Familienplanung. Denn erst wenn ich weiß, wie die menschliche Biologie funktioniert, kann ich auch Verantwortung in der Elternschaft übernehmen.

Wie sehen Sie die Chancen der Menschheit, die globalen Probleme in den Griff zu bekommen?

Es muss uns gelingen, die materiellen und spirituellen Bedürfnisse der Menschen in Einklang zu bringen. Darin liegt der Kern meines Hauptthemas, der Ethik. Der Appell richtet sich nicht zuletzt an die Menschen im reichen Norden, die ihr Glück auf materielle Fülle ausrichten. Sie sollten von der afrikanischen Mentalität lernen. Für uns sind Leib und Seele nicht zu trennen. Wenn wir beidem wirklich gerecht werden, steht nicht das Ich im Vordergrund, sondern das Wir, Solidarität und Gemeinwohl. Meine Verbundenheit mit Rotary liegt in dieser praktischen Ethik begründet: Die Vier Fragen weisen den Weg.

Das Gespräch führte Matthias Schütt.


Zur Person

Professor Obiora Francis Ike leitet neben vielfältigen Aufgaben in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft das Online-Netzwerk globethics.net mit der Aufgabe, ethische Fragestellungen weltweit in die Curricula der universitären Lehre zu integrieren. Das Netzwerk mit Hauptsitz in Genf unterhält Büros in 45 Ländern.