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Titelthema

Das jüdische Litauen

Titelthema - Das jüdische Litauen
1941 kamen die Deutschen: Ein Wehrmachtssoldat deutet zwei jüdischen Männern den Weg. © United Archives/DDP

Einst galt Vilnius als Jerusalem des Nordens. Dann kamen die sowjetischen Besatzer, dann die deutschen. Hunderttausende Juden fielen dem NS-Regime zum Opfer. Über die Schuldfrage werden bis heute heftige erinnerungspolitische Debatten geführt.

Joachim Tauber01.07.2021

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten die litauischen Juden eine weithin bekannte Gruppe innerhalb der osteuropäischen Judenheit. Die Litvaken, wie sie sich stolz nannten, standen sowohl für eine jahrhundertealte orthodoxe Tradition als auch für jüdische Modernität.


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In Vilnius schlug das religiös-intellektuelle Herz der osteuropäischen Juden. Der berühmte Gaon von Vilnius, ein Talmud-Gelehrter, lebte in dieser Stadt, hier fand im frühen 19. Jahrhundert die von Berlin ausgehende jüdische Aufklärung, die Haskala, ihr osteuropäisches Zentrum, und hier wurde 1897 der berühmte "Bund", die erste jüdische Arbeiterpartei, gegründet. Nicht umsonst hatte Vilnius den außergewöhnlichen Beinamen eines Jerusalem des Nordens, mehr als 40 Prozent seiner Einwohner sprachen Jiddisch als Muttersprache. Doch auch in Kaunas und vielen anderen kleineren Orten gehörte die jüdische Bevölkerung zum Stadtbild.

Mehr neben- als miteinander

Das Schicksal der litauischen Juden wurde zunehmend durch den im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalismus und die weltpolitischen Zeitläufte bestimmt. Bereits der Erste Weltkrieg erschütterte die jüdischen Gemeinden. Da die Juden mit den Deutschen über das Jiddische kommunizieren konnten, galten sie den zarischen Behörden als Spione und Verräter, weswegen viele von ihnen 1914 und 1915 nach Russland deportiert wurden. Nach 1918 prallten die polnischen und litauischen nationalen Aspirationen aufeinander, was schließlich zum Streit um die staatliche Zugehörigkeit von Vilnius führte – und den Juden eine nationale Entscheidung abnötigte, die viele von ihnen nur schwerlich treffen konnten und wollten. Die Grenze zwischen Litauen und Polen trennte auch die Juden von Vilnius von denjenigen, die in Litauen lebten. 

Der 1918/19 neu entstandene litauische Staat war der jüdischen Minderheit in den 20er Jahren durchaus gewogen: Es gab ein Ministerium für jüdische Angelegenheiten und die Gemeinden waren kulturell autonom. Gegen Ende der 20er Jahre trübte sich das Verhältnis langsam ein, da im Dezember 1926 ein autoritäres Regime an die Macht gekommen war, das einen litauisch-nationalen Kurs einschlug. Dieses Dezennium war ein letzter Höhepunkt, versinnbildlicht in der Gründung des „Yivo“ in Vilnius, eines wissenschaftlichen Institutes zur Erforschung der jüdischen Kultur in Osteuropa. Heute hat das Yivo seinen Sitz in New York.

Am Ende der 30er Jahre war die Lage der litauischen Juden dennoch weitaus besser als beispielsweise die der polnischen. Zwar gab es keinen offiziellen Antisemitismus, aber antijüdische Stimmungen wurden mehr und mehr spürbar, vor allem im akademischen Umfeld und unter den jüngeren Intellektuellen sowie im wirtschaftlichen Bereich, wobei offenkundig vor allem die neue litauische ökonomische Mittelschicht antisemitische Vorurteile pflegte und damit eigene Interessen gegen ihre jüdischen Konkurrenten durchsetzen wollte. Obwohl inzwischen viele Juden Litauisch sprachen und eine erste jüdische Zeitung auf Litauisch erschien, stand die Genese einer litauisch-jüdischen Identität erst am Anfang. Meist lebten Litauer und Juden (vor allem auf dem Lande) mehr neben- als miteinander, was in den kommenden Jahren eine nicht unbedeutende Rolle spielen sollte.

Die Russen, das kleinere Übel

Als grundlegender Einschnitt erwies sich die sowjetische Okkupation des Landes im Sommer 1940: Viele Litauer empfanden den sowjetischen Einmarsch und den Verlust der eigenen Staatlichkeit als tiefes Trauma, während für die jüdische Bevölkerung die sowjetische Herrschaft im Vergleich zu einer deutschen Okkupation das „kleinere Übel“ (Dov Levin) darstellte. Zum Katalysator der Entfremdung wurde in den folgenden zwölf Monaten ein in ganz Ostmitteleuropa anzutreffendes Stereotyp, das des „jüdischen Bolschewismus“. Dieses Vorurteil entfaltete umso mehr Wirkungskraft, als in ganz Litauen darüber geredet wurde, dass die Juden die Rote Armee begeistert willkommen geheißen hätten. Jetzt galten sie nicht nur als Kollaborateure und als fünfte Kolonne der Okkupanten, sondern auch als Verräter an Litauen, und zwar deswegen, weil sie Juden waren.

Diese Überzeugung verfestigte sich im Jahr der Sowjetherrschaft: In den sowjet-litauischen Behörden seien Juden angeblich überrepräsentiert, sie seien Nutznießer der Sowjetisierung und in den sowjetischen Sicherheitsorganen an führender Stelle tätig gewesen, wobei sie sich durch besondere Brutalität gegen litauische Opfer ausgezeichnet hätten. Litauische Historiker haben mit ihren Forschungen in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, diese Behauptungen durch geschichtliche Fakten zu widerlegen. So kann von einer Bevorzugung der Juden schon deswegen keine Rede sein, weil die Sowjetmacht nicht nach ethnischen, sondern nach sozialen Kriterien gegen ihre vermeintlichen Gegner vorging, weswegen auch viele Juden zu den Klassenfeinden zählten. Der prozentuale jüdische Anteil in den sowjetischen Staatssicherheitsorgangen entsprach in etwa dem der jüdischen Minderheit, in führenden Positionen finden sich zudem keine Juden, sondern Litauer und Russen.

Die aufgestauten Ressentiments und Vorurteile entluden sich im Moment des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Das Land befand sich in Aufruhr, da ab dem 14. Juni groß angelegte Massendeportationen begonnen hatten: Tausende von vermeintlichen Feinden der Sowjetmacht wurden mit ihren Familien verhaftet und in Güterzügen nach Osten abtransportiert, darunter übrigens auch Juden, die durch die stalinistische Repression den deutschen Mordkommandos entkamen.

Systematische Massenmorde

Unter diesen Umständen wurden die deutschen Soldaten von den Einheimischen mit Jubel begrüßt und als Befreier vom bolschewistischen Joch empfangen. Die litauischen Juden dagegen standen unter Schock: Ihnen blieben nur wenige Stunden zur Flucht, denn innerhalb von vier Tagen hatte die Wehrmacht Litauen besetzt. Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch begann die Abrechnung mit den „Verrätern“, angestachelt und wohlwollend geduldet von der Besatzungsmacht brach eine Welle der Gewalt gegen die wehrlose jüdische Bevölkerung los: Pogrome, Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde an jüdischen Männern kennzeichnen die Junitage in Litauen.

Nach den ersten unkoordinierten Mordwellen begannen systematische Massenmorde, die von speziellen SS-Einsatzkommandos mithilfe von litauischen Hilfstruppen durchgeführt wurden. Spätestens ab August wurden nicht nur jüdische Männer, sondern auch Frauen und Kinder erschossen: Weit mehr als 100.000 Menschen fielen den Mördern bis zum 1. Dezember 1941 zum Opfer. Die Überlebenden wurden in drei Ghettos zerniert: in Šiauliai, Kaunas und Vilnius.

In den Ghettos entwickelte sich relativ schnell eine Art von Alltag, der vom Arbeitseinsatz und vom Hunger geprägt war. Selbst in dieser extremen Situation gab es kulturelle Veranstaltungen (Theater, Konzerte, Vorträge), um den Menschen ein wenig Erholung zu verschaffen und sich den deutschen Herren, die ihren Opfern jegliche kulturelle Fähigkeiten absprachen, zu widersetzen. Daneben entstanden bewaffnete Widerstandsgruppen. In Vilnius gründete sich die Fareinikte Partisaner Organisatzije. Zwischen Herbst 1943 und Juli 1944 liquidierten die Deutschen die Ghettos, das Leiden der Überlebenden endete nach einer blutigen Odyssee im Inneren des Deutschen Reiches. Viele Juden aus Kaunas wurden im April/Mai 1945 von amerikanischen Truppen in Außenlagern des KZ Dachau befreit.

Schwierige Erinnerungskultur

Die Bilanz ist entsetzlich: Die litauische Judenheit war ausgelöscht, eine Kultur vollständig vernichtet worden. Viele der Überlebenden kehrten nicht mehr nach Litauen zurück oder suchten von dort den Weg nach Nordamerika und nach Palästina. Die Erinnerung an die jüdische Bevölkerung unterlag den Zeitläuften: Während der Sowjetunion ging der jüdische Opferanteil im Bild des heldenhaften Widerstands der gesamten Bevölkerung gegen die Faschisten auf, sodass oft nur von friedvollen Bürgern der Sowjetunion die Rede war, die den Faschisten zum Opfer fielen. Damit wurde natürlich das eigentliche antisemitische Mordmotiv verschleiert und die Vernichtung einer ganzen ethnischen Gruppe umgedeutet in ein nationalsowjetisches Narrativ.

Erst die Wiedererlangung der Unabhängigkeit ermöglichte einen neuen Umgang mit der jüdischen Geschichte Litauens und den Kriegsjahren. Obwohl viel erreicht und getan wurde (empfohlen sei das staatliche jüdische Museum „Gaon von Vilnius“, jmuseum.lt), war und ist dieser erinnerungspolitische Dialog nicht einfach. Immer wieder kommt es zu Eklats, die meist in einem erinnerungspolitischen Zusammenhang mit Litauern stehen, die nach 1945 gegen die Sowjetmacht kämpften, aber unter der deutschen Besatzung in antisemitische Aktionen verstrickt waren.


Ort des Erinnerns

Im neu eröffneten „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin wird anhand einer Familiengeschichte die Vertreibung aus dem Memelland nach 1945 erzählt. Ebenso dokumentiert wird das Schicksal der Wolfskinder anhand einer persönlichen Geschichte.

Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Europahaus, Stresemannstraße 90, 10963 Berlin. Der Eintritt ist frei.
flucht-vertreibung-versoehnung.de

Joachim Tauber

Joachim Tauber ist Historiker und Leiter des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (IKGN). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert, der Holocaust im Baltikum sowie deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
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