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Das Leid nach dem Krieg
Christian Neefs Buch über den Terror des sowjetischen Geheimdienstes hilft auch beim Verstehen von Putins Großmachtfantasien.
Christian Neefs Buch handelt davon, wie der sowjetische Geheimdienst NKWD, der Vorläufer des sowjetischen KGB und des heutigen FSB in Russland, von 1945 bis in die frühen 1950er Jahre Anteil an der Besetzung und Beherrschung zunächst der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland und dann der DDR hatte. In den Mittelpunkt seines Buches stellt Neef die Eigenständigkeit und Willkür des NKWD. Er behandelt Verhaftungen, Erschießungen und Deportationen, die zwar auch Nationalsozialisten, vielfach jedoch Menschen trafen, die ins Fadenkreuz des sowjetischen Terrors geraten waren, ohne zu den Haupttätern im Nationalsozialismus gehört zu haben. Neef schildert auch, wie der NKWD sich unter dem Deckmantel der Reparationen Infrastrukturen und Produktionsgüter aneignete sowie Archivalien und Kulturgüter in die Sowjetunion überführte. Zu den in die Sowjetunion Deportierten gehörten schließlich auch deutsche Spezialisten aus rüstungsrelevanten Wissenschaften wie vor allem der Physik. Seine direkte Unterstellung unter Stalin nutzte der NKWD für die Etablierung seines Schattenregimes in der SBZ/ DDR, das sowohl der sowjetischen Militäradministration als auch den deutschen Kommunisten um Ulbricht und Pieck wiederholt negativ aufstieß. Ihre Einwände etwa gegen willkürliche Verhaftungen oder die Reduktion von Lebensmittelrationen perlten jedoch am NKWD ab.
Die Suche nach Parallelen
Christian Neef erzählt diese Geschichte nicht chronologisch. Seine Darstellung ist thematisch aufgebaut und leuchtet in 24 Kapiteln die Facetten des Themas aus. Das Buch beruht auf einer äußerst soliden Materialgrundlage. Neef hat die einschlägige Fachliteratur sowie edierte und Archivquellen aus deutschen und russischen Archiven ausgewertet. Wo er nicht selbst aus den Quellen schöpft, sondern den Darstellungen anderer, zumal kritischer russischer Historiker aus den 1990er und 2000er Jahren folgt, macht er dies nicht nur im Anmerkungsapparat, sondern direkt im Text deutlich. Archivmaterial und Literatur sind akkurat nachgewiesen. Jedoch hätte man gerne mehr über eine zentrale Quelle im Buch erfahren: das Tagebuch von Iwan Serow, der dem NKWD in der SBZ von 1945 bis 1947 vorstand. Neef erwähnt Zweifel an der Quelle, die er mit dem Satz zerstreut, er selbst habe das Manuskript 2023 in Moskau einsehen und sich von seiner Echtheit überzeugen können. Hier hätte man gerne mehr über die Kritik an der Quelle und die Gründe für ihre Echtheitseinschätzung erfahren.
Dem Buch ist Neefs jahrzehntelange Erfahrung als Russlandkorrespondent und Buchautor auf jeder Seite anzumerken. Es profitiert von Neefs Russlandexpertise und einem eleganten und eingängigen Schreibstil, der die Lektüre trotz der bedrückenden Thematik eingängig und angenehm macht. Der Autor hat zwei zentrale Anliegen: Erstens möchte Neef jenen Teil der Öffentlichkeit in Deutschland wachrütteln, der noch nicht begriffen hat, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine kein isolierter und begrenzter Gewaltakt gegen ein Nachbarland ist, sondern der erste Schritt zu einer umfassenden Revision der europäischen Sicherheitsordnung. Und zweitens folgt aus diesem Vorsatz offenbar die Analogie zwischen der sowjetischen Besatzung Deutschlands 1945 und Russlands Krieg gegen die Ukraine 2022. All jenen, die in Deutschland glauben, der Krieg in der Ukraine gehe Deutschland nichts an, scheint Neef zuzurufen: Erinnert euch an die sowjetische Besatzung Ostdeutschlands. Was Ukrainerinnen und Ukrainern momentan widerfährt, haben unsere Vorfahren erleben müssen. Lasst es kein zweites Mal geschehen. Zwar kann Neef einzelne Parallelen zwischen 1945 und 2022 aufweisen. In beiden Fällen hatten die Invasionstruppen Namenslisten politisch missliebiger Personen dabei, die sie in Gewahrsam bringen wollten. In beiden Fällen sind willkürlicher Terror und Vergewaltigungen von Frauen dokumentiert.
Keine kollektive Vernichtungsabsicht
Die Ausgangssituationen von 1945 und 2022 sind jedoch sehr unterschiedlich, wie Neef auch selbst einräumt. Deutschland hatte die Sowjetunion mit einem beispiellosen Vernichtungskrieg überzogen. Die Ukraine hat sich auf die Tragfähigkeit und Sicherheitsgarantien des Budapester Memorandums von 1994 und des russischukrainischen Freundschaftsvertrags von 1997 verlassen. Die Rote Armee befreite Deutschland und Europa tatsächlich vom Nationalsozialismus. Die Armee Russlands führt demgegenüber einen verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Die Bandbreite und Frequenz russischer Gewalt in der Ukraine sowie entsprechende Säuberungsfantasien aus den Mündern von Dmitri Medwedew und Margarita Simonjan, nicht zu vergessen Putins Auszeichnung der Truppen, die für das Massaker in Butscha verantwortlich sind, begründen den Verdacht des Genozids. Die Gewalt der Sowjetunion in Ostdeutschland lässt sich nicht auf diesen Begriff bringen, sie bleibt unterhalb der Schwelle des Genozids. Eine kollektive Vernichtungsabsicht lässt sich im sowjetischen Agieren in Deutschland 1945 nicht beobachten.
Einige Kritikpunkte sind zu ergänzen: Neef zieht eine gerade Linie von der Schreckensherrschaft Iwans IV. und seiner Terrortruppe „Opritschniki“ im 16. Jahrhundert über die politische Polizei des 19. Jahrhunderts, die sogenannte Dritte Abteilung, und den NKWD Stalins hin zu Putins FSB. Auch wenn Russlands Krieg die Frage nach den Quellen der Gewalt auch an die Geschichte Russlands stellt: Wie viel Erkenntnis ein Rückblick auf teils sehr unterschiedliche Repressionsgeschichten aus verschiedenen Jahrhunderten bietet, erscheint zweifelhaft. Recht hat Neef, wenn er die Kontinuität zwischen KGB und FSB sowie die bewusst unterlassene Auseinandersetzung mit den Tätern des stalinistischen Terrors und des KGB als ermöglichenden Faktor des gegenwärtigen Krieges benennt. Im ganzen Buch beschreibt Neef den NKWD als eine „russische“ Einrichtung und die sowjetischen Besatzer als „Russen“. Gewiss, Stalin hatte Mitte der 1930er Jahre die Russen zur führenden Nation im Sowjetstaat ausgerufen und ihre Leistung im Großen Vaterländischen Krieg bei einer Siegesfeier im Moskauer Kreml 1945 über die der übrigen Völker in der Sowjetunion gestellt. Nichtsdestoweniger war auch der NKWD eine multiethnische sowjetische Institution. Allein in Neefs Buch begegnen dem Leser in den Reihen des in Deutschland agierenden NKWD außer Russen ein Jude, ein Ukrainer und ein Georgier. Wir sollten Putins russischen Anspruch auf die Sowjetunion bewusst die sowjetische Vielvölkergeschichte entgegenhalten.
Neuer Blick auf Russland
Insgesamt ist Christian Neef nicht nur ein gut lesbares Sachbuch gelungen. Es steckt auch eine autobiografische Unterströmung darin. Am Anfang und am Ende des Buches ist sie offengelegt. Das Werk beginnt mit Kindheits- und Jugenderinnerungen an die deutsch-deutsche Grenze und sowjetische Truppen in Brandenburg im Kalten Krieg. Es endet mit dem Blick in die Zukunft und auf die durchgedrehten Propagandareden etwa Ramsan Kadyrows, Russland könne abermals Berlin besetzen. Zu Recht warnt Neef vor einer weiteren Eskalation von Russlands Krieg. Aus Neefs Darstellung spricht eine tiefe Kenntnis von Land, Sprache und Geschichte. Wie vielen, die sich professionell mit Russland beschäftigt haben, ist Christian Neef ein Land abhandengekommen, das ihm seine berufliche Laufbahn ermöglicht hat. Sein Buch dokumentiert, wie deutsche Russlandexpertise weiter an einem ernüchterten Blick auf ihren einst bewunderten Untersuchungsgegenstand arbeitet.
Infos
Christian Neef
Das Schattenregime. Wie der sowjetische Geheimdienst nach 1945 Deutschland terrorisierte
Berlin 2024, Propyläen Verlag,
318 Seiten, 28 Euro
Martin Aust ist Professor für Geschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bonn und Vorsitzender des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker. Zuletzt ist von ihm als Co-Autor das Buch „Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigung einer Epoche“ bei Suhrkamp erschienen.