Rotary Entscheider
„Das letzte Lagerfeuer der Gesellschaft“
Der Ball rollt wieder und die ganze Welt schaut zu. DFB-Präsident Fritz Keller über die Bedeutung des Fußballs, seine Verantwortung und Lehren aus Corona.
Eigentlich hätte in den kommenden Wochen die Fußball-Europameisterschaft stattfinden sollen. Eigentlich. Stattdessen wird die Saison in der 1. und 2. Bundesliga fortgesetzt. Das erfreut viele Fans, aber längst nicht alle. Ein Gespräch über Geld, leere Ränge und große Emotionen.
Herr Keller, die Bundesliga und die 2. Liga spielen die Saison seit Mitte Mai ohne Zuschauer zu Ende. Welches Signal senden Sie damit?
Wir haben in Abstimmung mit den Teamsportverbänden Deutschlands und mit dem DOSB ein Konzept zur Fortführung des Spielbetriebs entwickelt. Auch weil die Vertreter anderer Sportarten zu uns gesagt haben: Ihr im Berufsfußball habt die Strukturen, voranzugehen. Wir wollen mit der 1. und 2. Liga starten, dann die 3. Liga, die Flyeralarm-Frauen-Bundesliga und den DFB-Pokal nachziehen. Der Berufsfußball muss vorangehen, dann können die Vereine aus dem Amateurbereich und weitere Sportarten folgen. Und in den anderen Ländern, in denen die Saisons abgebrochen wurden oder die noch in der Zwangspause sind, wird man sehr genau auf uns schauen und von uns lernen.
Wie ist es zu begründen, dass der Profifußball mit seinen 1100 hoch bezahlten Spielern wieder starten darf, während das öffentliche Leben weiterhin zu großen Teilen brachliegt?
Hier geht es nicht um Millionäre in kurzen Hosen, sondern um die mehr als 55.000 Mitarbeiter der Vereine, die rund um den Profifußball ihr Geld verdienen. Auch andere Branchen fahren ihre Aktivität wieder hoch, etwa die Automobilindustrie. So muss jeder Wirtschaftszweig nun belastbare, kreative Wege aus der Starre finden, um sein Geschäftsmodell wieder aufnehmen zu können. 2,25 Millionen Menschen spielen in Deutschland Fußball, aber nur der Profifußball kann derzeit die Bedingungen an einen möglichst sicheren Spielbetrieb erfüllen und damit die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Breitensport nachziehen kann. Wir sind uns sehr bewusst, dass die Erlaubnis, wieder spielen zu dürfen, ein großer Vertrauensvorschuss ist. Dafür sind wir sehr dankbar. Der Fußball wird sehr verantwortungsvoll agieren.
Wie soll das gelingen?
Wir haben gemeinsam mit der DFL und der ‚Task Force Sportmedizin/Sonderspielbetrieb‘ unter Leitung von Nationalmannschaftsarzt Prof. Dr. Tim Meyer ein sehr gutes und sehr detailliertes Konzept entwickelt. Die Maßnahmen wurden unter Berücksichtigung der Vorgaben der zuständigen Behörden und Gesundheitsexperten erarbeitet und sollen kontinuierlich überprüft und bei Bedarf entsprechend angepasst werden. Eines aber ist unabdingbar: Jeder einzelne Beteiligte muss mit höchster Disziplin Verantwortung übernehmen.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich die Fans zum gemeinsamen Gucken auf dem heimischen Sofa treffen, dass es Fanansammlungen vor Stadien an Spieltagen sowie am Saisonende private Meisterfeiern geben wird?
In zahlreichen Gesprächen mit Fangruppen, die ich in den vergangenen Wochen geführt habe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Fans genau wissen, worum es geht. Nämlich um das Überleben ihrer Vereine. Ich habe also großes Vertrauen in die Anhänger, die sich bislang in der Zeit der Krise sehr verantwortungsvoll verhalten und sich in vielen Städten und Gemeinden mit tollen Initiativen eingebracht haben. Aber natürlich müssen auch die Vereine an ihre Fans appellieren, diese Saison nun gemeinsam ordentlich zum Abschluss zu bringen – auch wenn niemand Spiele ohne Publikum tatsächlich sehen will.
Was hätte es für Folgen für die Klubs, wenn die Saison nicht zu Ende gespielt werden könnte?
Es hätte starke rechtliche und finanzielle Auswirkungen, weil viele Verträge nicht eingehalten werden könnten. Große Teile der Einnahmen kommen schließlich aus der Fernsehvermarktung. Die Wohnzimmerspiele, wie wir sie nennen, sind der beste Schutz vor möglichen Insolvenzen. Je später der Fußball wieder in den Spielbetrieb gefunden hätte, desto mehr Vereine hätten Probleme bekommen. Allein acht Vereine aus der Bundesliga waren akut vom finanziellen Kollaps bedroht, noch mehr in der 2. Liga. In der 3. Liga sieht es noch schlimmer aus.
Was muss der Profifußball aus der Corona-Krise lernen?
Sehr viel. Zum Beispiel müssen die Klubs lernen, längerfristig zu denken. Manche denken offenbar nur von Saison zu Saison. Aber sie müssen lernen, mehr Rücklagen zu bilden und verantwortlicher zu handeln. Wir sollten alle viel mehr in Generationen denken und nicht in Quartalen. Darum müssen wir im gesamten deutschen Fußball auch verstärkt den Amateur- und Frauenfußball fördern.
DFL-Chef Christian Seifert hat vorgeschlagen, die Klubs dazu zu verpflichten, eine höhere Eigenkapitalquote zu bilden.
Das kann ein Weg sein. Aber reine Vereine dürfen ja keine hohen Rücklagen bilden. Bevor man dieses Thema rechtlich angeht, sollten die Vereine anfangen umzudenken. Da ist das Management der Klubs selbst gefordert. Wenn ein Trainer immer Angst haben muss rauszufliegen, wenn er mal drei oder vier Spiele am Stück verliert, wird er keine jungen Spieler einsetzen. Wir brauchen Mut zu nachhaltigem Denken im Verein. Alles andere ist nicht mehr zeitgemäß.
Oder ist es nicht mehr zeitgemäß, im Profibereich als Verein zu fungieren?
Die 50+1-Regel hat uns in Deutschland bisher erfolgreich vor zu viel Einfluss durch Investoren bewahrt. England kann doch kein Vorbild für uns sein, wo sich Investoren einkaufen, einen Verein übernehmen und Geld abziehen, wenn sie das Interesse verlieren. Der Fußball ist das letzte Lagerfeuer der Gesellschaft, an dem alle teilnehmen können. Er muss für alle offen und erschwinglich sein. Auch Studenten und Arbeitssuchende müssen sich ein Ticket leisten können.
Wie sehen Sie die Debatte um die Einführung einer Gehaltsobergrenze für Spieler und Berater?
Das wurde schon oft probiert und ist immer gescheitert. Dennoch muss das Thema, sobald wir die Krise überstanden haben, wieder offen diskutiert werden. Daneben sollten wir in Deutschland aber auch über Financial Fairplay sprechen.
Und über gesellschaftliche Verantwortung.
Es gibt wenige Branchen, die so viele Sozialprojekte unterstützen wie der Profifußball. Auch jetzt in der Krise haben die Spieler zahlreicher Vereine auf erhebliche Teile ihres Gehalts verzichtet, um die Belastungen für ihre Klubs zu mildern.
Was halten Sie eigentlich von FIFA-Boss Gianni Infantino?
Gianni Infantino hat sein Amt zu einem Zeitpunkt angetreten, als die FIFA dringend einer radikalen Kursänderung bedurfte. Er hat viele notwendige Reformen angestoßen und umgesetzt. Dennoch ist es eine stete Aufgabe, das erschütterte Vertrauen der vielen Fußballanhänger weltweit in die Institutionen des Fußballs zurückzugewinnen und dauerhaft zu bestätigen. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten. Transparenz und Compliance sind unerlässlich und müssen gelebte tägliche Praxis sein.
Und wie stehen Sie zu seiner Idee, eine Klub-WM einzuführen?
Die Idee ist legitim, denn jeder Verband verfolgt seine eigenen Interessen. Aber für mich bleiben die nationalen Ligen das Wichtigste im Fußball, sie gilt es zu stärken. Der Fußball muss sich dadurch auszeichnen, dass er für alle offen und zugänglich ist. Denn es geht doch darum, dass man die Spiele auch besuchen kann, wenn dies hoffentlich bald wieder möglich ist. Fußball zeichnet sich auch durch Derbys aus.
Werden Sie die Arbeitsbedingungen im Vorfeld der WM 2022 in Katar thematisieren?
Wir haben Missstände schon offen benannt und werden das auch weiterhin tun. Ich habe bereits erklärt, dass ich die Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar für eine in vielerlei Hinsicht sehr problematische Entscheidung halte, die damals nicht uneingeschränkt im Sinne des Sports, der Sportler und Fans getroffen wurde.
Man darf bei allem aber nicht vergessen: Es geht dort um Sport, der Menschen verbinden kann. Die Bedingungen für die Gastarbeiter auf den Baustellen der WM-Stadien haben sich dank des öffentlichen Drucks schon leicht verbessert, das belegen die Berichte des unabhängigen FIFA-Beratungsausschusses für Menschenrechte. Außerdem haben die FIFA und Katar ihre gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie für das Turnier vorgestellt. Darin werden die Probleme, die im Austragungsland bestehen, angesprochen, aber auch die Maßnahmen und Chancen aufgezeigt, dank des Fußballs über das Turnier hinaus Gutes zu bewirken und den notwendigen Veränderungsprozess in Katar anzustoßen beziehungsweise zu beschleunigen, der ohne die Austragung dieses sportlichen Großereignisses in dieser Form nicht möglich wäre.
Wenn die Stadien endlich wieder für Zuschauer öffnen, werden die Fans dann herbeiströmen wie vor der Krise? Wird die Sehnsucht nach Fußball noch mehr Menschen mobilisieren, oder werden sich viele einen Stadionbesuch nicht mehr leisten können?
Der Fußball ist immer noch der beliebteste Sport in Deutschland, und die Klubs müssen dafür sorgen, dass sich weiterhin Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen ein Ticket leisten können. Wir müssen uns anstrengen, dass der Fußball Antworten und Lösungen auf die Krise findet und aus ihr lernt. Am Interesse der Fans wird es nicht mangeln, aber auch der Fußball wird nach der Krise nicht mehr derselbe sein wie vorher. Wenn wir hoffentlich bald die Pandemie hinter uns haben, wird die Freude an gemeinsamen Erlebnissen so groß sein wie nie zuvor, davon bin ich überzeugt.
Das Gespräch führte Björn Lange.