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Krise der Mitte

Das Rätsel von Dresden

Ende 2014 schreckte eine stetig wachsende Gruppe von Demonstranten unter dem Namen „PEGIDA“ die deutsche Öffentlichkeit auf. Bis heute sind sich Beobachter nicht sicher, wie sie die„Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ und ihren Zulauf bewerten sollen.
Text: Stine Marg und Lars Geiges

01.07.2015

Ende Mai, Anfang Juni 2015 demonstrierten hinter dem Dresdner PEGIDA-Banner nur noch knapp zweitausend Menschen, in anderen Städten kamen kaum mehr als hundert Personen zusammen. Überall war von „Sommerpause“ und „Demo-Aus“ die Rede. Von den vermeintlich zornigen Bürgern, den „Patriotischen Europäern“, ist in diesem Frühsommer auf den ersten Blick nicht mehr viel übrig geblieben. Ohnehin ist die Zeit der großen Kundgebungen des Winters 2014/2015 mit mehr als 20.000 PEGIDA-Anhängern in der Elbestadt anscheinend vorbei. Die Protestbewegung hat beinahe ebenso rasch an Zugkraft verloren, wie sie – sichtbar durch eine wöchentliche Verdoppelung der Demonstrationsteilnehmer – im November und Dezember 2014 an Anziehungskraft gewonnen hatte. Auch das Interesse der Öffentlichkeit hat sich reduziert. Sie sind zu einem lokalen Protestphänomen geschrumpft. Kurzum: Es hat sich offenbar ausspaziert.

Es gärt

Indes: Schaut man zurück auf die Motive und die Beweggründe derjenigen Menschen, die sich an PEGIDA beteiligten, die sich von den Losungen der Gruppierung sächsischer Provenienz angesprochen fühlten, die auf den Plätzen Dresdens, aber auch andernorts protestierten, wird klar: Die Bewegung mag quasi zum Erliegen gekommen sein, ihr gesellschaftlicher Treibstoff dürfte jedoch keinesfalls verbraucht sein. In einem Teil der Bevölkerung gärt es. Dieser ist empfänglich für rechtspopulistische Ansprachen, die damit verbundenen Vereinfachungen, Zuschreibungen, auch Abgrenzungen und Ablehnungen anderen gegenüber – Ausländer, Flüchtlinge, Muslime. Keineswegs handelt es sich bei den Spazierenden um die gesellschaftlich Abgehängten, das Prekariat, die sogenannte „Unterschicht“, bei denen Botschaften wie jene von PEGIDA zuvörderst zünden. Erkenntliche Rezipienten finden sich vielmehr in der Mitte der Gesellschaft, genauer: in einem politisch heimatlos gewordenen Teil der Mitte.

Schaut man auf die Sozialstruktur, sind die PEGIDA-Anhänger zweifelsohne den (klein)bürgerlichen Milieus zugehörig. Zwar war die Quote der formal Hochgebildeten zum Zeitpunkt unserer Erhebung im Januar bei PEGIDA erheblich geringer als beispielsweise bei den Gegnern des Bahnhofprojektes Stuttgart 21, doch das Proletariat repräsentierten die neuen Demonstranten von rechts nicht, wie auch Studien der TU Dresden und der Berliner Arbeitsgruppe um Dieter Rucht zeigen. Das muss, wie man aus der Entstehungszeit und Verlaufsgeschichte anderer rechtspopulistischer Bewegungen in Europa weiß, nicht so bleiben. Fast immer stand an deren Anfang die verunsicherte soziale Mitte. Die von Sozialisten und Sozialdemokraten enttäuschten Arbeiter und Arbeitslosen schlossen sich als Befürworter erst später, dann aber in rasch wachsender Zahl dem Populismus von rechts an. Gut Zwei Drittel der vom Institut für Demokratieforschung befragten PEGIDA-Demonstranten verfügten über einen Universitäts- und Fachhochschulabschluss, als Absolventen von Haupt- oder Volksschulen gaben sich unter den Teilnehmern der Umfrage nicht einmal ein Prozent aus – demgegenüber liegt der sächsische Bevölkerungsanteil hier bei rund 32 Prozent, während ca. 14 Prozent aller Sachsen über einen Hochschulabschluss verfügen.

Engagiertes Bürgertum

Auch der Arbeiteranteil von 7 Prozent unter den PEGIDA-Demonstranten ist im Verhältnis zur sächsischen Bevölkerung gering. Das Gros der „Pegidisten“ sind Angestellte (37 Prozent) und Freiberufler/Selbstständige (16 Prozent). Insgesamt voll erwerbstätig sind 77 Prozent; knapp zehn Prozent beziehen Rente. Wohingegen in der sächsischen Bevölkerung insgesamt – und knapp sechzig Prozent der von uns befragten Demonstranten leben in diesem Bundesland – beinahe jeder dritte Rente bezieht und nur knapp 50 Prozent erwerbstätig sind. Auf die Abgehängten und Mittellosen stießen wir bei unserer Untersuchung nicht.

Auch die PEGIDA-Organisatoren rund um Frontmann Lutz Bachmann waren keine isolierten, den gesellschaftlichen Vorgängen entkoppelten Individuen. Bachmann selbst grillte Bratwürste des Vaters, eines stadtbekannten Fleischermeisters, auf dem Dresdner Striezelmarkt, andere haben sich in den Bereichen Gastronomie oder Hausmeisterservice eine selbstständige Existenz aufgebaut. Man kämpfte 2013 gemeinsam gegen das Elbhochwasser und sammelte hier zivilgesellschaftlich-organisatorische Erfahrungen, war damals wie heute durchaus gut vernetzt in einer Szene, die sich aus dem Dresdner Party- und Nachtklubmilieu, Wach- und Sicherheitsdiensten, Motorradcrews sowie Dynamo-Dresden-Fanatikern zusammensetzt. Hier wurde PEGIDA im Herbst 2014 vordiskutiert und angestoßen. Berichte neurechter Plattformen wie der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ und „PI-News“, aber auch Meinungsmacher wie Thilo Sarrazin und Udo Ulfkotte dienten – vielfach in den sozialen Medien geteilt – dabei als Stichwortgeber.

Unsere quantitative Erhebung unter den Demonstrationsteilnehmern wurde durch eine qualitative Studie ergänzt und inhaltlich deutlich erweitert. Auch in Gruppendiskussionen, die wir mit PEGIDA-Unterstützern führten, trafen wir nicht auf den Typus des apathisch-desinteressierten Nichtwählers, sondern auf überaus politisch interessierte und informierte Menschen, die allerdings höchst unzufrieden waren mit dem Ist-Zustand der Demokratie hierzulande. Die Herrschaft des Volkes sei nicht mehr gegeben, weil „Systempolitiker“ im Verbund mit Lobbygruppen regierten. Das System sei von Grund auf fehlerhaft. Politiker hätten im Gegensatz zum Volk nicht die Weitsicht, Entscheidungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu beurteilen. Sie seien viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Wiederwahl zu organisieren. Längst hätten sie sich von den Wählern entkoppelt und machten Politik an den Leuten vorbei. Als „Korrektiv“ forderten die von uns Befragten vehement den Ausbau „echter Demokratie“ durch Volksabstimmungen und Volksentscheide auch auf Bundesebene.

Wutschnaubend losgesagt von der Parteiendemokratie haben sich die Pegida-Anhänger jedoch nicht. Vielmehr streben sie zu einer neuen politischen Repräsentanz – und das war Anfang des Jahres eindeutig die AfD. Fast zwölf Prozent der untersuchten Gruppe gehörten ihr bereits als Parteimitglied an. Auf die Sonntagsfrage antworteten 88 Prozent der Befragten, sie würden, wenn heute Bundestagswahl wäre, die Alternative für Deutschland wählen; die Union kommt hier auf nicht einmal drei Prozent. Ein bemerkenswerter Umstand ist auch, dass lediglich 14 Prozent der befragten PEGIDA-Anhänger angaben, bei der vergangenen Landtagswahl 2014 nicht gewählt zu haben, während die Wahlenthaltung auf einem sächsischen Höchststand bei fast 51 Prozent lag.

Der Erfolg der zornig-appellativen Außenseiterin – eine Rolle, die die AfD insbesondere in Ostdeutschland annahm – weist stets auf Defizite der herrschenden Eliten hin, auf den Niedergang der öffentlichen Rede, auf den Mangel an Bildern, Fantasie, Sinnlichkeit in der offiziellen politischen Ansprache. Populisten reklamieren nicht zufällig eine volksnahe Sprache für sich, zu der die Eliten nicht mehr in der Lage sind. Entbindungs- und Entfremdungs- sowie spirituelle Vakanzen bilden so eine Voraussetzung. Populismus gedeiht vorwiegend in gesellschaftlichen Räumen, die durch den Niedergang von zuvor die Lebenswelten prägenden Vergemeinschaftungen und Normen sozialkulturell entleert wurden. Populismus und geistige Obdachlosigkeit, organisatorische Verwaisung und politische Heimatlosigkeit gehören zusammen. Jedenfalls war es kein Zufall, dass der PEGIDA-Protest sich in Sachsen konzentrierte.

Spuren der Wendezeit

Die Wurzeln des Frusts der Jahre 2014/15 finden sich Anfang der neunziger Jahre. Bereits in dieser Zeit nahmen westdeutsche Eliten und ostdeutsche Betroffene der Systemtransformation die gesellschaftlichen Verhältnisse konträr wahr: Während in der alten Bundesrepublik die Deutungseliten über einen lähmenden gesellschaftlichen „Stillstand“, einen „Reformstau“, klagten und nach einem „Ruck“ verlangten, vermochte sich im Osten Deutschlands zum gleichen Zeitpunkt niemand über einen Mangel an fortwährenden und tief greifenden Veränderungen beschweren. Trotz des großen weltpolitischen Bruchs von 1989 schien das Leben im Westen zunächst im Großen und Ganzen wie zuvor weiterzugehen. Den Bürgern der früheren DDR hingegen entglitt nahezu vollständig der Boden unter den Füßen.

Daher verwundert es auch nicht, dass die vorgebrachten Gründe für das Engagement bei PEGIDA außerordentlich diffus waren – gegen die GEZ, gegen die NATO, gegen die europäische Russlandpolitik, gegen den internationalen Terrorismus, gegen die bestehende Asylpolitik, gegen das Gender-Mainstreaming, gegen die „Lügenpresse“, gegen den „linken Meinungs-Mainstream“ im Allgemeinen und für „echte“ Meinungsfreiheit. Und natürlich: gegen den Islam, der im Kern eine politische Ideologie sei – gewalttätig, unterdrückerisch, imperial und nicht mit den westlichen Werten der europäischen Aufklärung, „der Kultur hierzulande“, vereinbar.

Die realen und imaginären Verlustempfindungen der PEGIDA-Anhänger und Sympathisanten sind für sich genommen überaus heterogen und vielschichtig, doch werden sie in verschieden starker Ausprägung auf „den Islam“ und „die Moslems“ übertragen. Das Bild des „Christlichen Abendlandes“, das auf den PEGIDA-Kundgebungen meist zum „christlich-jüdischen Abendland“ erweitert wurde, diente dann der Kenntlichmachung des Anderen. Es sollte anzeigen, wer eben nicht dazu gehört, nicht dazu gehören kann. Zu beobachten war, wie ein aus vielen Quellen sich speisender Frust umgepolt und gegen eine gesellschaftliche Minderheit gerichtet wurde. An den Themen Zuwanderung, Asyl und Integration zündeten Wut, Enttäuschungen und Ressentiments besonders stark. Hier zeigte PEGIDA tatsächlich und ganz besonders ihre schmutzige Seite, gleichsam als Teil der Zivilgesellschaft und nicht als opakes Gebilde außerhalb bestehender Sozialverbindungen.

Auch daher: Selbst wenn die Zeit der „Abendspaziergänge“ zu Ende scheint, dürfte es mit rechtspopulistischen Bewegungsanstrengungen, die sich gewaltfrei, bürgerlich, volksnah geben, nicht vorbei sein. Die sich im Winter 2014/15 teilweise offenbarten Potentiale sind durchaus reaktivierbar. Hochkomplexe Krisenlagen, wie sie beispielsweise der internationale Terrorismus, der Klimawandel, zahlreiche Flucht- und Migrationsbewegungen sowie Wirtschafts- und Finanzturbulenzen ausgelöst haben, bleiben bestehen, verschärfen und überlappen sich zeitlich. Schwierig auszuhandelnde globale Lösungen sind gefragt, die von zunehmend verunsicherten Gesellschaften getragen werden müssen. Rechtsnationale Scharfmacher werden hier auch weiterhin simple Angebote machen, ihr Zerrbild offerieren und damit Teile einer beunruhigten gesellschaftlichen Mitte ansprechen können. 


Die Autoren:

  • Dr. Stine Marg ist Geschäftsführerin des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.
  • Dr. Lars Geiges ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Redaktionsmitglied der „INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“. www.demokratie-goettingen.de

Literaturhinweis:

Zur Jahreswende 2014/15 blickte alle Welt erstaunt auf die allmontaglichen PEGIDA-Demonstrationen in Dresden. Handelte es sich dabei um harmlose Patrioten, die sich um die Entwicklung ihrer Heimat sorgten, oder um „Nazis in Nadelstreifen“, wie – fernab vom Geschehen – geunkt wurde? Eine Gruppe von Mitarbeitern des Göttinger Instituts für Demokratieforschung setzte sich kurzerhand in einen Kleinbus, fuhr in die Elbmetropole und befragte zahllose PEGIDA-Demonstranten direkt. Ihre Erkenntnisse liegen in dieser Studie vor.

PEGIDA
Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?
208 Seiten, transcript 2015, ISBN 3-8376-3192-3, 19,99 Euro