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Das Versagen der Eliten

Magazinplus - Das Versagen der Eliten
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Wer Probleme über einen langen Zeitraum verdrängt oder kleinredet, nimmt in Kauf, dass er ihrer nicht mehr Herr wird. Dies gilt im persönlichen Leben genauso wie für Gemeinschaften und Staaten.

22.02.2023

Deutschlands Eliten sind Weltmeister im Schönreden. Wir sind zur Republik der Euphemisten geworden. Es wird verschwiegen, beschwichtigt und verharmlost. Besonders in Parteien, Parlamenten und Regierungen haben seit Jahren Gesundbeter die Herrschaft übernommen. Die Lage wird stets besser dargestellt, als sie ist. Dies gilt für fast alle Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert ist. Dramatisch hohe Energiepreise und unsichere politische Rahmenbedingungen treiben immer mehr Unternehmen ins Ausland. Deindustrialisierung made in Germany. Was auf die deutschen Bürgerinnen und Bürger in Zukunft zukommt, wird geflissentlich verschwiegen. Renten, Gesundheit und Pflege sind nur einige der Megathemen.

Was zur Lösung der Probleme notwendig wäre, wird nicht gesagt, weil die Regierenden ihr Wahlvolk nicht verschrecken wollen. Das Handeln der meisten Politikerinnen und Politiker wird nach wie vor vom starren Blick auf den nächsten Wahltermin bestimmt – und nicht von der Sache. Mit anderen Worten: Als Maßstab für politisches Handeln gilt, was ankommt und nicht, worauf es ankommt.

Ich halte es allerdings für einen Trugschluss, wenn Politiker glauben, die Menschen würden die Wahrheit nicht vertragen. Im Gegenteil: Die meisten erwarten von unserer politischen Elite, dass man ihnen reinen Wein einschenkt. Manchmal versucht man es ja und lässt aus den Parteizentralen zaghaft einen Versuchsballon steigen, den man mit der Botschaft "Wir müssen bis 70 arbeiten" gen Himmel schickt. Meist beenden sie das Experiment schon nach wenigen Stunden, weil sie Angst vor der eigenen Courage bekommen. Was zeigt uns das? Es fehlt der politische Mut, die Wahrheit zu sagen und es fehlt am Willen und der Fähigkeit, notwendige Zusammenhänge überzeugend zu erklären. Erklärungsarbeit kostet zwar Zeit und Kraft, aber sie ist leistbar. Bei unserem Beispiel ginge das so: Die Deutschen werden länger arbeiten müssen, weil sonst die gesetzlichen Rentensysteme nicht mehr zu finanzieren sind. Die Lage ist deshalb so dramatisch, weil die Menschen immer älter werden und immer weniger junge und mittlere Altersgruppen ins System einzahlen. Hinzukommt, dass wir heute doppelt so alt sind wie vor 100 Jahren. Diese Entwicklung wird sich zuspitzen, weil künftige Generationen noch älter werden. Immer mehr Rentner und immer weniger Beitragszahler – so lautet die besorgniserregende Rentenformel der nahen Zukunft. So könnte man es erklären, wenn man wollte.

Die konsequente Schwester der Beschönigung heißt Tabu. Täglich tauchen neue Themeninseln auf, um die man in Deutschland einen großen Bogen macht. Die Tabuzonen dehnen sich immer weiter aus. Nehmen wir das Beispiel Zuwanderung. Jahrzehnte lang war es in Deutschland tabu, darüber offen zu diskutieren, dass Sprachkenntnisse für Ausländer im Gastland unverzichtbar sind. Diese Selbstverständlichkeit wurde von vielen gesinnungsethisch Verblendeten in der Politik erst zähneknirschend akzeptiert, als im Herbst 2015 Tausende von Flüchtlingen nach Deutschland kamen. War es nicht viele Jahre lang ein Tabu, darauf hinzuweisen, dass Integration auch integrationswillige Menschen verlangt? War es nicht ein Tabu, Wahrheiten wie die des langjährigen Bezirksbürgermeisters von Neukölln, Heinz Buschkowsky, auszusprechen? Man müsse Jugendlichen, auch Ausländern, klarmachen, dass sie sich an unsere Wertvorstellungen und Gesetze zu halten haben. Wer nicht akzeptieren wolle, dass Juden keine Feinde und Raub kein Kavaliersdelikt sei, habe in Deutschland nichts verloren – so der Bürgermeister. Warum wird in Politik und Medien nach wie vor die Nationalität von Straftätern tabuisiert? Eine Vorgehensweise, die selbst ausländische Mitbürger nicht verstehen können.

2023, politik, gesellschaft, staat
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Die Menschen spüren – und man sollte ihre Sensibilität nicht unterschätzen –, wie durch einen politisch-medialen Gleichklang nicht mehr das ganze Bild unserer Wirklichkeit gezeichnet wird, sondern nur mehr solche Ausschnitte das Licht der Öffentlichkeit erblicken, die einer herrschenden Politiker- und Journalistenklasse opportun oder ideologisch angemessen erscheinen. Dabei handelt es sich um eine Fehlentwicklung, die in den vergangenen Jahren erkennbar fortgeschritten ist – vor allem unter der schwülen Dunstglocke der Hauptstadt Berlin. Ich bin seit über 40 Jahren Journalist und muss feststellen, dass die Verklebungen zwischen Politik und Medienmenschen im Laufe der Jahrzehnte immer fester und unauflösbarer wurden. Diese unheilige Allianz hat sich stillschweigend darauf verständigt, bestimmte Themen auszuklammern. Ein großes Schweigen lähmt unser Land. Kontroverse Debatten sind kaum noch erwünscht. Wer sich außerhalb des vorherrschenden Meinungsrahmens einer selbst ernannten Elite bewegt, wird schnell mundtot gemacht – oft mit Ausgrenzung, nicht selten mit menschenverachtender Häme.
So wird weiter vieles totgeschwiegen, was dem Machterhalt des Systems Schaden zufügen könnte: in der Politik, in den Medien, bei der Polizei und in den Behörden. Eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern beklagt, wie ich finde zu Recht, dass sie mit ihrer Meinung und ihren Problemen kein Gehör bei denen finden, die in den Schutzzonen ihrer Eigenheime am Rande der Stadt kein Gefühl mehr dafür entwickeln, was die Leute wirklich umtreibt. Merke: Gefährlich wird es immer dann, wenn am Stammtisch nicht mehr gestritten, sondern nur noch geschwiegen wird. Deutschland ist auf dem Weg zum schweigenden Stammtisch.

Es gibt Tage, da wünsche ich mir Joachim Gauck ins Amt zurück. Er hat Missstände beim Namen genannt. Er verweist zum Beispiel darauf, dass jemand, der Bedenken gegen Einwanderung erhebt, noch längst kein Rassist ist. Es sei auch kein Nationalist oder gar Faschist, wer eine positive Beziehung zu seiner Heimat pflegt. Gauck beklagt ein Toleranzdefizit unserer Eliten, aber auch der gesamten Gesellschaft, wenn Abweichler vom Mainstream der Meinung zu unerwünschten Personen erklärt werden. Gauck wörtlich: "Die unangenehme Meinung zu früh als unmoralisch auszugrenzen und Kritik an unserer Demokratie vorschnell als faschistisch abzutun, führt zu früh zu der in anderen Fällen erforderlichen Intoleranz und spaltet die Gesellschaft."

Gleichzeitig erleben wir eine beispiellose Abfolge von Krisen, die unser politisches Personal überfordert. Corona, Ukraine-Krieg, Abzug aus Afghanistan, Hochwasserkatastrophe – politisch Verantwortliche der Jetzt-Zeit sind für diese Themen und Herausforderungen, die "Thinking out of the box" sowie unkonventionelles und schnelles Handeln erfordern, offensichtlich nicht geschaffen. Es fehlt das Eingeständnis der Spitzenpolitik, dass man die Lösung dieser komplexen Probleme nicht mehr schafft – zumindest nicht alleine. Ein Umdenken ist überfällig: Politische Entscheidungen sind erst nach intensiver Beratung mit erstklassigen und qualifizierten Frauen und Männern aus Wirtschaft und Wissenschaft zu treffen – so wie das in anderen Ländern, vor allem in den USA schon lange praktiziert wird. Aber auch hier ist Deutschland offensichtlich noch Postkutsche. Ist es nicht völlig verrückt, dass sich Friedrich Merz in den verschiedenen Stadien seiner Kandidatur für den CDU-Vorsitz immer wieder dafür entschuldigen musste, dass er in den Jahren vorher mit großem Erfolg in der Wirtschaft tätig war? Wie weit liegt Deutschland, liegen seine Politiker, seine Medien und ein beträchtlicher Teil seiner Bevölkerung angesichts einer solchen Betrachtung noch hinter anderen Nationen zurück? Auch im Umgang mit dem eigenen Versagen muten uns Politikerinnen und Politiker seit Jahrzehnten das gleiche eingeübte Fehlverhalten zu. Was ließ uns die ehemalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nach ihrem Rücktritt wissen? Die Medien seien schuld daran, nicht sie selbst.

Deutschland ist längst nicht mehr Weltmeister. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit befindet sich im Sinkflug. Auf dem Siegertreppchen stehen wir nur noch bei der Sozialbetreuung durch den Staat. Noch gibt es eine Handvoll Disziplinen, in denen wir Spitze sind – zum Beispiel bei den erstklassigen Ingenieuren, in der Medizin, beim dualen Bildungssystem und unseren Familienunternehmern. Der Rest ist Durchschnitt oder darunter. Wer in Deutschland im Internet unterwegs ist, der surft langsamer als die Bevölkerung von Panama. Doch es scheint uns zu genügen.

Wo ist eigentlich der Ruck geblieben, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog vor einem Vierteljahrhundert für dieses Land eingefordert hat? Könnte es sein, dass Herzog heute wiederholen würde, was er 1997 im Berliner Hotel Adlon gesagt hat: "Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland."

Sigmund Gottlieb


Sigmund Gottlieb (RC München-Harlaching) ist ein deutscher Journalist. Er war von 1995 bis 2017 Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens. Er ist Honorarprofessor für Journalistik an der Fachhochschule Amberg-Weiden und Mitglied des Universitätsrates der Universität Passau. Sigmund Gottlieb ist Stiftungsrat der Universität Passau und Vorstand des Neuburger Gesprächskreises für Wissenschaft und Wirtschaft. Er ist als Publizist, Buchautor und Berater tätig und darüber hinaus Mitglied des Präsidiums im Wirtschaftsbeirat Bayern. SO NICHT! - Klartext zur Lage der Nation heißt sein Buch, das vor kurzem erschienen ist.