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Demokratie des Grundgesetzes

Titelthema - Demokratie des Grundgesetzes
Mit Bollenhut und Sträußchen: Bundestagswahl 2017 in Gutach im Schwarzwald © Thomas Kienzle/AFP via Getty Images

Eine rechtlich begründete Resilienz allein reicht nicht, um eine Erosion der rechtsstaatlichen Demokratie zu verhindern. Entscheidend ist der Wille des Volkes.

Hans-Jürgen Papier01.11.2024

Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine dezidiert parlamentarische Demokratie, das Regierungssystem der Bundesrepublik ein dezidiert parlamentarisches Regierungssystem. Der Deutsche Bundestag ist auf der Ebene des Bundes das einzige Verfassungsorgan, das über eine unmittelbare Legitimation durch das Staatsvolk verfügt. Ebenso sind es in den Ländern ausschließlich die Landesparlamente, die unmittelbar vom Volk gewählt werden. Sämtliche andere Verfassungsorgane in Bund und Ländern leiten ihre Legitimation von den Parlamenten ab. Hinzu kommt, dass das Grundgesetz Formen der unmittelbaren oder plebiszitären Demokratie – also etwa das Volksbegehren und den Volksentscheid – nur in einem sehr speziell gelagerten Ausnahmefall kennt (Art. 29 Abs. 2 des Grundgesetzes: Neugliederung des Bundesgebiets).


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Diese ausgeprägte Entscheidung des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie und für ein parlamentarisches Regierungssystem erklärt sich – historisch gesehen – aus den negativen Erfahrungen der Weimarer Republik. Die Weimarer Reichsverfassung kombinierte Elemente der repräsentativen und der plebiszitären Demokratie ebenso wie solche eines parlamentarischen und eines präsidialen Regierungssystems. Auf dieser Kombination sich zum Teil ergänzender, zum Teil jedoch konterkarierender Bauprinzipien beruhten strukturelle Schwächen der ersten deutschen Republik, die das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vermeiden wollte.

Parteiverbot als letztes Mittel

Auch in einer weiteren Hinsicht wollte sich das Grundgesetz deutlich von der Weimarer Reichsverfassung absetzen. Bekanntlich war die Weimarer Demokratie von Beginn an die Zielscheibe heftigster antidemokratischer und antiparlamentarischer Angriffe von rechts und links. Nach ihrem positivistischen staatsrechtlichen Selbstverständnis vermochte die Republik allerdings nur den Methoden, nicht aber den Zielsetzungen dieser antidemokratischen Kräfte entgegenzusteuern. Die Vorstellung verfassungswidriger Zielsetzungen war der Weimarer Reichsverfassung nämlich zumindest ihrem Wortlaut nach völlig fremd. Einer Vernichtung der Verfassung durch antidemokratische Mehrheiten setzte die Reichsverfassung demnach bewusst keinerlei Schutzmechanismen entgegen. Spezifische Instrumente für die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats enthielt die Verfassung nicht.

Die Erfahrungen der durch keinerlei verfassungsrechtliche Schutzmechanismen gehinderten „legalen Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten hatten erheblichen Einfluss auf die Entstehung des Grundgesetzes. Zahlreiche Bestimmungen wurden gerade mit dem Ziel geschaffen, die Demokratie effektiv gegen ihre Gegner zu verteidigen. Unter den verfassungsrechtlichen Neuerungen, die auf historische oder vermeintliche Fehler der Reichsverfassung und ihre Unfähigkeit zur Selbstverteidigung zurückgeführt werden, bildet die Verfassungsentscheidung für eine wertgebundene Demokratie die Wichtigste. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes untersagt jede Änderung des Grundgesetzes, welche unter anderem die in Art. 1 und Art. 20 niedergelegten Grundsätze berührt. Als Vorbedingungen seiner Wehrhaftigkeit entzieht das Grundgesetz diese verfassungsrechtlichen Grundstrukturen jeder politischen Disposition, formuliert einen entsprechenden Geltungsanspruch auch gegenüber demokratischen Mehrheiten und garantiert mit dem Kernbestand der Verfassung selbst deren substanzielle Identität. Bewusst sollte damit eine scheinbar legale Vernichtung der Verfassung durch revolutionäre antidemokratische Bewegungen wie im Falle des sogenannten Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff „streitbare“ oder „wehrhafte“ Demokratie durchgesetzt, der in erster Linie ein Sammelbegriff ist für die grundgesetzlichen Schutzmechanismen zur Verteidigung der wichtigsten in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierten Werte gegen Bedrohungen „von oben“ – also durch den Staat selbst – wie auch „von unten“. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Regelungen in Art. 9 Abs. 2 GG über die Möglichkeiten des Vereinigungsverbots, in Art. 18 GG zur Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung sowie die Möglichkeit des Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG als Ausdruck einer Entscheidung des Grundgesetzes für die streitbare Demokratie zu nennen.

Das Parteiverbot ist eine wichtige Lehre aus der Geschichte, zum Schutz der Demokratie auch notfalls undemokratische und autoritäre Mittel zuzulassen. Weil dieses Mittel des Parteiverbots aber so zweischneidig ist, stellt die Verfassung sehr strenge Voraussetzungen auf, um zu verhindern, dass politische Mehrheiten die Möglichkeit haben, die politische Konkurrenz auszuschalten.

Dazu gehört auf der einen Seite das im Art. 21 Abs. 2 GG zugleich verkörperte sogenannte „Parteienprivileg“, wonach die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei allein durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Das Parteiverbot ist in der Sache auch kein Instrument, bloße Anschauungen, Gesinnungen oder gar Gedanken zu verbieten. Es muss hinzukommen, dass die Partei – und zwar in Gänze, nicht nur in Einzeläußerungen oder in Einzelfällen – die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie nicht nur mit Meinungen und Bekenntnissen attackiert, sondern mit einer kämpferisch-aggressiven Haltung und qualifizierten Vorbereitungshandlungen. Die Voraussetzungen für eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht und ein daraus folgendes Parteiverbot sind also äußerst streng, sodass man nur empfehlen kann, einen solchen Antrag allein dann zu stellen, wenn diese Voraussetzungen in einem gerichtlichen Verfahren auch wirklich bewiesen werden können. Der Weg des Parteiverbots ist möglicherweise für die politischen Kräfte in diesem Land leichter als das argumentative Bekämpfen einer extremistischen Partei, aber dieser Weg schafft keine größere Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie. Ein Verbot oder schon die Einleitung eines Verbotsverfahrens schafft in erster Linie Märtyrer, Spaltung der Gesellschaft und Stärkung demokratiefeindlicher Kräfte, aber keine Integration und keine bessere Akzeptanz des gegenwärtigen demokratischen Systems.

Dringende Absicherung des Rechtsstaats

Vor einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei durch das Bundesverfassungsgericht dürfen an die angebliche Verfassungswidrigkeit dieser Partei keine rechtlichen Folgen geknüpft werden. Das gilt insbesondere für die Stellung der gewählten Abgeordneten und ihrer Fraktionen. Das Grundgesetz garantiert den Abgeordneten die zur Ausübung ihres Mandats erforderlichen Befugnisse zur gleichberechtigten Mitwirkung an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Parlaments. Daher muss etwa jeder Ausschuss, soweit er Aufgaben des Plenums übernimmt beziehungsweise dessen Entscheidungen vorbereitet, ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung dessen Zusammensetzung widerspiegeln. Dies erfordert eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der im Plenum vertretenen Fraktionen. Dem kann eine angebliche Verfassungswidrigkeit einer Partei beziehungsweise ihrer Fraktion nicht entgegengehalten werden. Allerdings gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Recht auf Besetzung von Posten als Ausschussvorsitzenden. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit sei nicht auf die Leitungsämter des Parlaments anzuwenden. Das bezieht sich sowohl auf die Mitglieder des Präsidiums des Bundestages und der Landtage wie auch auf die Vorsitzenden der Ausschüsse. Diese werden jeweils durch Wahlen bestimmt. Daher ist es von Verfassungs wegen nicht geboten, von einer bestimmten Fraktion vorgeschlagene Abgeordnete auch zu wählen. Dies wäre mit dem Gedanken einer freien Wahl schlechthin unvereinbar.

Im Hinblick auf eine verfassungsrechtliche Absicherung des demokratischen Rechtsstaats gibt es für gewisse Bereiche einen Ergänzungsbedarf für das Grundgesetz und gegebenenfalls für die Landesverfassungen. Zu denken ist hier in erster Linie an das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte. Das Bundesverfassungsgericht wird im Grundgesetz nicht im Zusammenhang mit den anderen Verfassungsorganen des Bundes erwähnt und geregelt, nämlich im Zusammenhang mit den Abschnitten über den Bundestag, Bundesrat, den Bundespräsidenten und die Bundesregierung. Grundgesetzliche Regelungen zum Bundesverfassungsgericht finden sich erst im späteren Zusammenhang mit den Regelungen speziell zur Rechtsprechung. Die für ein oberstes Verfassungsorgan – was das Bundesverfassungsgericht der Sache nach ist – typischen Regelungen fehlen im Grundgesetz weitgehend. Sehr ausführlich werden zwar die Zuständigkeiten des Gerichts geregelt, darunter auch die zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, was erst später in das Grundgesetz aufgenommen wurde, aber zahlenmäßig immer den größten Anteil der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausmachte. Im Übrigen hält sich das Grundgesetz aber zurück. Regelungen über die innere Verfassung des Gerichts und sein Verfahren werden bislang weitgehend dem einfachen Gesetzgeber überantwortet. Zentrale Regelungen über die Organisation, die Berufung und die Stellung der Mitglieder sowie auch des Verfahrens eines Verfassungsorgans gehören aber unzweifelhaft in die Verfassung selbst und müssen der beliebigen Disposition einfacher politischer Parlamentsmehrheiten entzogen werden. Dies ist inzwischen in der Politik auch weitgehend akzeptiert, sodass diesbezügliche Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes in Vorbereitung sind.

Dies bezieht sich auch auf das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit im jeweiligen Wahlgremium, also im Hinblick auf die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Verfügt eine politische Gruppierung über ein Drittel der Mandate beziehungsweise Stimmen, dann kann sie in der Tat als Sperrminorität fungieren. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit folgt derzeit aus dem einfachen Gesetz, könnte also auch mit relativer Mehrheit im Wege der Gesetzesänderung aufgehoben werden. Aus politischen Gründen wäre es allerdings fatal, wenn eine einfache politische Mehrheit die Wahl der Verfassungsrichter bestimmen könnte. Daher sollte auch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit durch Ergänzung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich abgesichert werden – es wäre damit einer Aufhebung durch eine relative politische Parlamentsmehrheit entzogen. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts hat sich nach den jahrzehntelang gewonnenen Erfahrungen als äußerst positiv bewährt und sollte deshalb verfassungsrechtlich abgesichert werden.

Die aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen und Normen des Grundgesetzes folgende Absicherung der rechtsstaatlichen Demokratie gegenüber totalitären und autoritären Bestrebungen ist zweifellos stärker als die nach der Weimarer Verfassung. Aber der ungewöhnlich rasche Untergang der Weimarer Republik hat auch deutlich gemacht, dass eine rechtlich begründete Resilienz allein nicht reicht, eine Erosion der rechtsstaatlichen Demokratie zu verhindern. Entscheidend ist ein fortwährender Wille der großen Mehrheit des Volkes zur demokratischen Mitgestaltung, zur Freiheit und Selbstbestimmung, zur Verantwortlichkeit für das demokratische Gemeinwesen sowie das aktive Eintreten gegen Totalitarismus, Autoritarismus und Kollektivismus. Ohne diese Bürger-Tugenden droht der rechtsstaatlichen Demokratie ungeachtet aller normativer Sicherungen der allmähliche Verfall.

Hans-Jürgen Papier

Hans-Jürgen Papier ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D. und emeritierter ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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