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Demokratie in der Krise?

Deutschlands Demokratie befindet sich in einem merkwürdigen Zustand. Obwohl sie seit Jahrzehnten stabil und lebendig ist und unsere politischen Institutionen über die deutschen Grenzen hinaus als gelungen, wenn nicht gar als vorbildlich gelten, findet das Murren an den Stammtischen der Nation kein Ende. Das lohnt Gedanken über die Ursachen dieses Phänomens und über mögliche Lösungswege

Werner J. Patzelt01.03.2016

Einfach übersetzt meint Demokratie „Herrschaft des Volkes“. Wie aber soll man die organisieren? In der Praxis meint Demokratie deshalb eine solche Ausgestaltung eines Regierungssystems, bei der die Regierenden nicht allzu lange oder allzu weit von dem abweichen können, was die Regierten zu akzeptieren bereit sind. Eine solche Praxis kann man unterschiedlich organisieren.

Am einen Ende der Möglichkeiten steht das, was man „direkte Demokratie“ nennt. Sie läuft darauf hinaus, dass die Bürger sich nicht nur durch Wahlen und Abstimmungen, sondern vor allem durch eigene zivilgesellschaftliche Aktivität an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligen. Doch so wenig wie jeder sein Auto selbst reparieren mag, will sich auch jeder persönlich an der Politik beteiligen. Diesem Wunsch kommt die „repräsentative Demokratie“ entgegen. Dort wählt man Repräsentanten und überlässt ihnen das politische Alltagsgeschäft. Natürlich kann man sich jederzeit in die Politik einmischen, etwa mit Demonstrationen oder über die Einfluss-möglichkeiten von Parteien und Verbänden. Perfekt wäre es, wenn man vom Volk aus – doch wegen der dann eröffneten Manipulationsmöglichkeiten niemals von der Regierung oder einer Parlamentsmehrheit aus! –auch Volksabstimmungen herbeiführen könnte. Im Regelfall aber wirkt repräsentative Demokratie so: Weil die Abgeordneten ihr Mandat freien Wahlen verdanken, können sie – solange sie wiedergewählt werden wollen – nicht allzu weit und ohnehin nur bis zum nächsten Wahltermin von dem abweichen, was die Wählerschaft zu akzeptieren bereit sind. Das wissen sie auch, weshalb der Wahltermin „vorauswirkt“ – und zwar umso mehr, je kürzer die Zeitspanne bis zur nächsten Wahl ist.

So ein System kann gut funktionieren. Doch oft wird gerade der Bürger zum „Schwachpunkt der Demokratie“. Er informiert sich wenig über Politik und folgt in der Wahlkabine einfach seinen Gefühlen. Er zieht sich ins Private zurück. Mitarbeit in einer Partei? Kommt nicht in Frage. Tätigkeit im vorpolitischen Raum, also bei Verbänden und Vereinen? Lieber nicht. Das alles ist derzeit wirklich nicht in Mode. Obendrein sinkt von den Bundestagswahlen bis zu den Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung. Da ist aber wohl nicht nur Zufriedenheit mit unseren Verhältnissen im Spiel. Anscheinend machen Politiker und Parteien kein die Ansichten und Interessen der Bürger treffendes Personal- und Positionsangebot mehr. Dann setzen gar nicht wenige ihre Hoffnungen in eine Protestpartei. Eine solche groß werden zu lassen, wirkt aber oft wie Chemotherapie bei Krebs: Es gibt üble Begleiterscheinungen. Besser wäre es deshalb, die Politiker würden feinfühlig den tatsächlichen Willen der von ihnen anzusprechenden Gesellschaftsschichten ermitteln und so in problemlösende Politik umsetzen, das gar nicht erst das Bedürfnis nach einer Alternative zu ihnen aufkommt.

Politische Willensbildung

Sowohl die Bürger als auch die Politiker brauchen die Medien, um sich über Probleme und Politikpräferenzen zu informieren. Medien spielen deshalb für das Funktionieren von Demokratie eine zentrale Rolle. Vor allem sie vermitteln zwischen der Lebenswelt der professionellen Politik und jener der Bürger.

Doch das gelingt nicht immer gut. Medienunternehmer, Journalisten und Bürger haben nämlich nicht die gleichen Interessen. Bürger wollen – neben „Politainment“ genannte „Unterhaltung durch Politik“ – verlässliche Informationen sowie Argumente zur eigenen Meinungsbildung. Medienunternehmer müssen – anders als die öffentlich-rechtlichen Medien – Geld verdienen. Das macht Zielgruppenbindung im Dienst verlässlicher Werbeeinnahmen wichtig. Und Journalisten betreiben einesteils „anwaltschaftlichen Journalismus“ im Dienst dessen, was sie selbst für gut halten, und trennen dabei nicht sorgsam Nachricht und Kommentar. Andernteils orientieren sie sich an „Nachrichtenwerten“. Dann gilt etwa: „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten!“, weil sich das Publikum gerade für sie besonders interessiert. Aus dem gleichen Grund berichtet man eher über sich Veränderndes als über Gleichbleibendes, über Personalisierbares und Dramatisierbares lieber als über Strukturelles. Dann entsteht als „Medienwirklichkeit“ ein ins Negative und Überdynamische verzerrtes Bild der „Welt da draußen“. Verschärft wird das durch „Rudeljournalismus“ (hat einer die Story, müssen die anderen nachziehen) sowie durch „Themenkarrieren“: Wurde ein eindringlich berichtetes Problem gelöst, ist längst „das Thema durch“ – und der Bürger weiß weiterhin nur vom Problem, nicht aber von seiner Bewältigung.

Hinzu kommt eine „Linksverschiebung“ der Journalistenschaft im Vergleich zur Bevölkerung. Dort gibt es in etwa eine „Normalverteilung“ der Positionen zwischen links und rechts, mit den allermeisten in der politischen Mitte. Journalisten aber geben mehrheitlich an, links von der Mitte zu stehen. Parteipolitisch sympathisieren viel mehr von ihnen mit den Grünen und der SPD als mit den Unionsparteien – oder gar mit der AfD. Was sich aber für einen Grünen als „mittig“ und „objektiv“ anfühlt, kann für einen Durchschnittsangestellten als „links“ und „ideologisch“ wirken. Auf diese Weise klaffen dann reale und in den Medien wiedergespiegelte Meinungsverteilung auseinander. Wenn solche Akzentunterschiede – wie derzeit bei der Medien- und Bevölkerungshaltung zur deutschen Einwanderungspolitik – als besonders stark empfunden werden, fangen viele Bürger an, sich von „den Medien“ nicht ernstgenommen, ja falsch informiert zu fühlen. An sinkenden Abonnentenzahlen oder Einschaltquoten merken Zeitungen und Sender das dann.

Politische Institutionen

Repräsentative Demokratie braucht im Kern Parteien, Parlamente mit ihren Fraktionen, sowie Regierungen – von der kommunalen Ebene über Land und Bund bis hin zur EU.

Die zentralen Träger moderner Demokratie sind die Parteien. Sie wirken nicht einfach nur „an der politischen Willensbildung mit“, wie es schmallippig im Grundgesetz heißt. Sie erfüllen die zentrale „Bindegliedfunktion“ zwischen vom Volk und seiner Regierung. Sie rekrutieren politischen Nachwuchs und nominieren ihn für öffentliche Ämter („Personalmarktsfunktion“). Sie nehmen – solange sie sich nicht ideologisch verhärten – ständig Anliegen aus der Bürgerschaft auf und bringen sie in die parlamentarische Willensbildung ein („Responsivitätsfunktion“). Und sie organisieren die Entscheidungsfindung sowie das politische Handeln im Staat und erklären – idealerweise – ihr Tun dem Volk in verständlicher Weise („Führungsfunktion“). Schaffen sie derlei nicht, büßen sie an Wählerstimmen und Macht ein.

Das alles funktioniert leider nicht (mehr) so gut, wie das möglich wäre. Es ist zwar schön, dass junge Leute heute in den politischen Parteien so gute Aufstiegschancen haben wie noch nie. Doch wer nicht in jungen Jahren in die Politik geht, sondern erst einmal sich im „normalen Leben“ bewähren will, hat später kaum mehr Chancen auf ein Parlamentsmandat. Er stößt nämlich auf Leute, die – mangels beruflicher Alternativen – von der Politik leben müssen und ihre Posten möglichst bis zum Pensionsalter verteidigen. Und wer, wie es für heutige Leistungsträger üblich ist, gerade nicht von der Oberschule bis zum möglichen Berufseintritt am gleichen Ort bleibt, der hat schon in jungen Jahren geringere Chancen, in seiner Partei aufzusteigen. Auf diese Weise erschließen wir das Humankapital unseres Landes nur unzureichend für die Politik.

Der Demokratie abträglich ist es auch, wenn – wie derzeit am rechten Rand des politischen Spektrums – eine „Repräsentationslücke“ aufgetan wird. Das verschuldete eine CDU, die sich zwar nach links öffnete („Sozialdemokratisierung“), doch nicht länger die politische Heimat auch von Konservativen und von Rechten sein wollte. Die sammeln sich nun bei der AfD als Protestpartei.

Deren Einzug in die Parlamente macht – solange niemand mit der AfD zu koalieren wagt – „Große Koalitionen“ von einem Notbehelf zum Dauerzustand. Einesteils lässt solches „Regieren aus der Mitte“ die Bürger links und rechts zu den jeweiligen Protestparteien abdriften. Andernteils verringern übergroße Koalitionsmehrheiten die parlamentarische Kontrollkraft gegenüber der Regierung. Die kann dann leicht ihre Politik für „alternativlos“ erklären – wie vor kurzem bei der „Euro-Rettung“ und lange Zeit bei der Einwanderungspolitik.

Und solange die Möglichkeit des Volkes fehlt, von sich aus eine Volksabstimmung mit der einfachen Frage herbeizuführen, ob ein vom Parlament beschlossenes Gesetz wirklich in Kraft treten soll („fakultatives gesetzesaufhebendes Referendum“), wird das Verfassungsgericht zur letzten politischen Kontrollinstanz. An es – und nicht ans Volk – wendet sich nämlich die Opposition, nachdem sie den parlamentarischen Kampf verloren hat, nämlich über die „abstrakte Normenkontrolle“. Doch auch Regierungsmehrheiten finden immer wieder Wege, unliebsame politische Entscheidungen ans Verfassungsgericht zu delegieren – am bequemsten über ein Organstreitverfahren. Auf diese Weise wird die repräsentative Demokratie ausgehöhlt. Wäre es denn nicht die Aufgabe von Parlamenten, Recht zu setzen und Gesetze zu novellieren – und ein wünschenswertes Mittel der Bürger, auch zwischen den Wahlen durch die Drohung mit gesetzesaufhebenden Referenden die Politiker zu beeinflussen?

Regieren in Mehr-Ebenen-Systemen

Hinzu kommt die heutige Notwendigkeit, auf verschiedenen Ebenen zu regieren. Jede Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an die Europäische Union bedeutet aber einen Rückbau von Demokratie. Die können wir bislang nämlich nur im Rahmen des Nationalstaates verlässlich organisieren. Auf EU-Ebene gibt es hingegen eher eine Simulation von Demokratie als diese selbst. Da nützt es auch nichts, dem Europäischen Parlament mehr Rechte zu geben – denn in ihm werden die europäischen Völker gerade nicht proportional vertreten, und haben die Stimmen der Wähler aus kleineren Staaten ein viel stärkeres Gewicht als etwa die Stimme der deutschen Wähler.

Im Übrigen zeigt sowohl die Euro-Krise wie auch die derzeitige Einwanderungskrise, dass sich bei national wichtigen Fragen die Regierungen ohnehin nicht um EU-Recht scheren, sondern im Stil klassischer Kabinettspolitik handeln. Das führt dann zum Schwinden der Steuerungsfähigkeit sowohl europäischen Regierungssystems als auch der EU-Staaten, die ja vielfältig miteinander verflochten sind. So ist das aber nun einmal mit einem unfertigen bzw. zu kühn gebauten Regierungssystem. Die Bürger reagieren darauf mit Unverständnis und innerer Kündigung. Und das alles potenziert sich, wenn die EU so gravierende Probleme wie die unkontrollierte Zuwanderung nicht in den Griff bekommt.

Was tun?

Wir sollten unseren bewährten demokratischen Institutionen weiterhin vertrauen, sie aber verbessern. Erstens brauchen wir das vom Volk – nicht vom Parlament oder der Regierung – ausgehende gesetzesaufhebende fakultative Referendum. Zweitens sollten wir über die Einführung von Vorwahlen für alle Parlamentsmandate diskutieren. Und drittens sollten wir die Gebote und Verbote politischer Korrektheit zurückbauen, damit wir wieder lebendige politische Debatten darüber bekommen, was die Leute wirklich bewegt.

Werner J. Patzelt
Prof. Dr. Werner J. Patzelt lehrt Vergleichende Politik­wissenschaft an der TU Dresden und ist Kuratoriumsmitglied der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Zuletzt erschienen „Neue Deutsche in einem alten Land: Über Zuwanderung, Integration und Beheimatung“, ( Ergon Verlag, 2018). wjpatzelt.de