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Der Brexit und die europäische Ordnung

Titelthema - Der Brexit und die europäische Ordnung
Alte Herrenhäuser, edle Pferde und kernige Typen: Es mag sein, dass die Mehrzahl der Briten heute überwiegend in Städten lebt, die schöneren Bilder bietet jedoch das Landleben © Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus

Warum Großbritannien für die Zukunft weit besser gerüstet ist als es in Europa viele wahrhaben wollen

01.03.2019

Für die meisten Europäer ist die Entscheidung der Brit en, den grundlegenden Funktionsmechanismus unseres Kontinents, die Europäische Union, zu verlassen, eine Tragödie der Maßlosigkeit, verursacht durch eine beinahe lächerliche Überbewertung der aktuellen Bedeutung und der eigenen Verhandlungsposition. Es werden die „Regeln“ des europäischen „Vereins“ betont, dessen Mitgliedschaft auf Gleichheit basiert. Es wird keine „Rosinenpickerei“ akzeptiert, wie beispielsweise die Versuche der Briten, weiterhin Zugang zum Binnenmarkt zu haben, ohne aber die „Kosten“ dafür zu tragen, einschließlich des freien Personenverkehrs, den der Brexit verhindern sollte.

Joseph Muscat, Premierminister von Malta, der zu Beginn des Jahres 2017 die rotierende Ratspräsidentschaft innehatte, verglich die EU mit einem „Sportverein“, von dem das Vereinigte Königreich nach dem Brexit nicht mehr erwarten könne als ein paar kleinere Gefallen. Er sagte: „Man kann darauf hoffen, sein Auto auf dem Parkplatz des Vereins parken zu dürfen, wenn es einen freien Platz geben sollte, oder ab und zu das Fitnessstudio benutzen zu können“, aber das wäre auch alles. Anhand dieser Aussagen sieht die britische Zukunft düster aus, „ziellos und belanglos“, wie einige es ausdrücken. Großbritannien sei den kalten Winden der ökonomischen Globalisierung und freundloser Fremdartigkeit hilflos ausgeliefert.

Kein normales „Vereinsmitglied“
An diesen Ansichten ist durchaus etwas dran, jedoch sehr viel weniger, als viele Europäer denken. Die Warnung vor den wirtschaftlichen Konsequenzen des Brexits, vor allem bei einem Brexit „ohne Deal“, ist absolut gerechtfertigt. Es wird kurz- und mittelfristige Konsequenzen für das britische Finanzzentrum, britische Hersteller und auch andere Wirtschaftsbereiche geben. Diese Analysen beruhen jedoch leider auf einem fehlerhaften Verständnis der europäischen Ordnung und Großbritanniens Platz darin. Und deshalb sind diese Ansichten keine zuverlässigen Leitfäden für das, was uns noch bevorsteht.

Um dies zu verstehen, müssen wir an das historische und politische Fundament des europäischen Systems zurückdenken, in dem wir heute leben. Das Vereinigte Königreich spielte in diesem System eine einzigartige Rolle und tut es heute noch immer. Das Land ist keineswegs mit den anderen Staaten des „Clubs“ gleichzusetzen, den es verlassen wird. In den vergangenen 350 Jahren, vom Vertrag von Utrecht im Jahre 1713, während der europäischen Balance im 18. Jahrhundert, über den Staatsvertrag von Wien im Jahre 1815, bis hin zum Versailler Vertrag von 1919 und dem Potsdamer Abkommen von 1945 hat Großbritannien eine zentrale und weitaus größere Rolle in der europäischen Ordnung gespielt als irgendeine andere Macht im Laufe der Zeit. Dies gilt auch noch heute, denn die Sicherheit der Europäischen Union hängt voll und ganz von der NATO ab, in der Großbritannien das dominierende europäische Mitglied ist. Die EU mag ein Club sein, und sie kann Regeln aufstellen, wie es ihr gefällt – aber sie sollte nicht vergessen, dass die Anglo-Amerikaner die ideellen Grundbesitzer jenes Bodens sind, auf dem der Verein errichtet wurde. Brüssel und die kontinentalen Hauptstädte sind höchstens Pächter und die meisten nur Mieter dieser Ordnung. Anders ausgedrückt: Das Vereinigte Königreich ist keine beliebige europäische „Fläche“, die einfach bestellt werden kann, sondern eine der wichtigsten Ordnungsmächte des Kontinents.

Die Beziehungen der Nationen
Die Beziehungen zwischen den vier britischen Nationen wurden gleichermaßen durch die europäische Ordnung beeinflusst. Wales und Irland wurden unterworfen, um ihre Ressourcen zu sichern und dem Gegner eine „Hintertür“ nach England zu verschließen. Im Jahre 1707 schlossen sich England und Schottland aus den gleichen Gründen zusammen. Mit der Unterwerfung und der Union kam auch die Repräsentation. Einige der ältesten Wahlkreise im britischen Parlament sind walisisch, die Schotten schicken Unterhausabgeordnete nach Westminster, so wie die Iren nach dem Act of Union von 1802, und kurz danach auch Katholiken. Die Vereinbarung war durchaus mit Fehlern behaftet, aber sie hielt die Spannungen zwischen den Nationen, und vor allem zwischen Irland und den Nationen, in Schach. Außerdem führte die Regelung dazu, dass kleinere Nationen in der Regierung repräsentiert wurden, in der „Unabhängigkeit“ sowohl für die englische Dominanz stand, als auch für die Darstellung gegenüber ausländischer Subversion und der englischen Angst davor. Englische oder britische Souveränität ist daher geopolitisch bedeutend, da die Souveränität der Irischen Republik es nicht ist und auch ein unabhängiges Schottland oder Wales nicht bedeutend wären. Politisch gesehen wird der Ausgang des Brexits die Beziehungen zwischen den Nationen des Vereinigten Königreichs erheblich unter Druck setzen, aber sobald die Mittlerrolle der Europäischen Union in den Hintergrund rückt, könnten sich die Beziehungen auf lange Sicht festigen. Ein Beispiel dafür ist der Widerstand der Democratic Unionist Party aus der Region Ulster gegen den im Raum stehenden „Backstop“.

Britannien ist gerüstet
Die Nationen des Vereinigten Königreichs, und vor allem die Engländer, haben also schon ihren Bund, der sich bereits bewährt hat. Dieser steht im Gegensatz zu den Kontinentaleuropäern, die entweder zu groß sind, um nationale Souveränität haben zu dürfen (die Deutschen) oder zu klein sind, als dass diese von Bedeutung wäre (fast alle anderen). Der konstitutionelle und geopolitische Körper der Engländer hat eine „Goldlöckchen“-Form: Er ist klein genug, um abgegrenzt zu sein und groß genug, um zu überleben. Aus diesem Grund ist es für die Briten nicht nötig, ihre Souveränität einem größeren Bund unterzuordnen. Für sie ist der uneingeschränkte Personenverkehr unnötig und möglicherweise gefährdend für die eigene Identität, da dieser – falls er richtig gehandhabt wird – die Kontinentaleuropäer erhebt und den verrufenen Nationalismus bekämpft. Sie ähneln hier also den Sizilianern des 19. Jahrhunderts, über die der Prinz von Salima im Roman von Giuseppe de Lampedusa ganz ohne Ironie sagte, dass sie bereits perfekt seien und sich nicht mehr verbessern müssten.

Ob das heute noch stimmt, müsste natürlich erstmal geprüft werden. Viele Europäer und die pessimistischeren Vertreter glauben, dass das postimperiale Vereinigte Königreich zu schwach sei, um außerhalb der Europäischen Union überleben zu können und es als Konsequenz des Brexits wahrscheinlich zerfallen werde. Doch das ist unwahrscheinlich. Die Macht des Vereinigten Königreichs beruht letztendlich auf der Stärke Englands, und diese Macht wird durch die Unterstützung der Schotten, Waliser und (Nord-)Iren noch gestärkt.

England war in Europa bereits lange vor dem Empire in Übersee eine starke Macht, und das Vereinigte Königreich ist bis heute eine Macht in den Bereichen Militär, Wirtschaft und Kultur. Die britische Wirtschaft ist doppelt so stark wie die russische. Und im Gegensatz zu beispielsweise Deutschland oder Japan besitzt das Vereinigte Königreich Atomwaffen und hat auch die Kapazität, um diese zu benutzen. In einem Europa, das von Putin bedroht wird, ist dies besonders den Nord- und Osteuropäern wichtig, die von Trump die kalte Schulter gezeigt bekommen.

Die Schwächen Europas
Aus diesem Grund ist ein „No-Deal-Brexit“ für die Europäische Union so gefährlich. Beim Thema Handel hätte die EU zuerst die Oberhand, und in der Tat ist ein Handelskrieg das Einzige, was Brüssel effektiv führen könnte. Großbritannien kann im Gegensatz zu Griechenland nicht allein durch wirtschaftliche Maßnahmen zum Nachgeben gezwungen werden und würde sich, ebenfalls im Gegensatz zu Griechenland, an die Situation anpassen und diversifizieren. Außerdem würden in London die eigenen beträchtlichen Talente und Ressourcen der verschiedenen Institutionen genutzt werden, um die EU zu untergraben. Das Vereinigte Königreich könnte seine Sicherheitsgarantien in der NATO nicht wahren, wenn diejenigen, die beschützt werden sollten, sich gleichzeitig in einem grausamen Wirtschaftskrieg gegen die britische Existenz befinden würden.

Letzten Endes würde nicht derjenige siegen, der dem anderen am meisten zufügt, sondern derjenige, der am meisten aushält – und das wären die Nationen des Vereinigten Königreichs. Die britische Gesellschaft wird unter Druck zusammenhalten, wohingegen die Nationen der meisten europäischen Staaten wackeln würden. Egal, wie man es auch ausdrückt: Deutschland, Osteuropa und viele andere Mitgliedsstaaten haben nicht die Entschlossenheit, um gegen Großbritannien zu kämpfen. Die Europäische Union würde lange vor dem Vereinigten Königreich zerfallen (leider).

Brendan Simms