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Der digitale Leninismus

Titelthema - Der digitale Leninismus
STRATEGEM 22 - Die Türe schließen und den Dieb fangen. © Illustration Claudia Lieb

Die chinesischen Bürger werden von 600 Millionen Kameras überwacht, doch das ist nichts im Vergleich zum Schicksal der Uiguren in der Provinz Xinjiang.

Theo Sommer01.03.2020

Kein Zweifel: China ist eine Diktatur. Das ist keine verleumderische Behauptung, denn es steht in der chinesischen Verfassung. Deren Artikel 1 lautet: „Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes.“ Sie wurde seit ihrer Gründung am 1. Oktober 1949 autoritär regiert, aber seit Mao Zedong nicht mehr mit so harter Hand wie unter dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Xi Jinping. Seit er 2013 an die Spitze trat, hat er zielstrebig die Kommunistische Partei, die Armee, die Unternehmen, die Medien und das Internet unter scharfe Kontrolle genommen. Darüber hinaus ist er dabei, die Gesellschaft einer digitalen Gesinnungs- und Tugenddiktatur zu unterwerfen, die Orwells „1984“ weit in den Schatten stellt. Unter ihm macht sich China auf den Weg vom autoritären zum totalitären Staat, von der Einparteienherrschaft zur Einmannherrschaft. Da er sich dabei der fortgeschrittensten digitalen Technologie bedient, kann man mit Fug und Recht von einer IT-Diktatur sprechen. Nicht von ungefähr nennen manche Xis politisches System digitalen Leninismus.

Zensur und Überwachung sind seit jeher Pfeiler der chinesischen Parteiherrschaft. Xi hat sie in seinen ersten sieben Amtsjahren massiv verstärkt. Eine Unzahl ausländischer Medien ist blockiert, darunter Google, Twitter, Facebook und die New York Times. Vom Bildschirm verbannt sind Künstler, die als „unanständig, vulgär oder obszön“ gelten – überhaupt alle, die den „Kernwerten der Partei“ entgegenstehen. Wenn die „Scheren im Kopf“ nicht funktionieren, wird ohne Zögern robust nachgeholfen. Unliebsame Plattformen werden abgeschaltet; allein 2017 sollen es 128.000 Webseiten gewesen sein.

Die Suchmaschine Baidu, der Online-Händler Alibaba und der Chat-Dienst Tencent beschäftigen viele Tausende von Schnüfflern, die das Text- und Bildmaterial sichten, sieben und gegebenenfalls löschen. Angeblich durchstöbern zwei Millionen Zensoren permanent das Internet. Herausgefiltert und geahndet wird dabei Anstiftung zur Verletzung von Verfassung und Gesetzen, zum Sturz der Regierung oder des sozialistischen Systems, zur Spaltung des Landes, zum Schüren von Hass und Terrorismus; ferner die Verbreitung von Fake News, Gerüchten, feudalistischem Aberglauben und sexuell anzüglichem Material; schließlich die Verführung zu Spielsucht, Gewalt und Kriminalität.

Bereits heute sind Chinas Unternehmen, ob staatlich oder privat, gesetzlich verpflichtet, mit den Behörden, darunter auch den Geheimdiensten, eng zusammenzuarbeiten. Elizabeth Economy hat in Foreign Affairs darauf hingewiesen, dass die Polizei ermächtigt ist, Daten aus privaten Mobiltelefonen abzugreifen. Neuerdings gibt es auch glaubwürdige und belegte Berichte, dass Peking Touristen ausforscht, die auf dem Landweg in die Provinz Xinjiang einreisen. Bei der Operation Fengcai – „Sammelnde Honigbiene“ – müssen sie ihre Handys entsperren und der Grenzpolizei übergeben. Diese spielt insgeheim eine App auf, die dann die gespeicherten Daten – Kontakte, Kalender, Anruflisten und SMS – ausliest und absaugt. Der Verfassungsschutz empfiehlt deutschen China-Reisenden, einen speziellen Laptop und ein Prepaid-Wegwerfhandy zu nutzen.

Als biete all dies nicht schon ausreichenden Schutz vor elektronischer Infiltration und genug Instrumente der Überwachung, soll 2020 das „Sozialkreditsystem“ zur Bewertung der „gesellschaftlichen Vertrauenswürdigkeit“ eingeführt werden. In diesem System erfasst der staatliche Datenkrake sämtliche Lebensbereiche. Als sich Bundeskanzlerin Merkel im Frühsommer 2018 über Chinas Digitalisierungsstrategie informierte, entfuhr ihr beiläufig der Kommentar, George Orwells 1984-Fantasien seien gegen die chinesische Realität bloß „ein laues Lüftchen“.

Das Privatleben ist nicht mehr privat

Anders als bei der Schufa geht es dabei nicht nur um Bonitätsauskünfte über Kreditverträge und Zahlungsverhalten. Gesammelt und gespeichert werden auch Gerichts- und Gesundheitsakten, biometrische Angaben, Reisepläne, Typ, Wagenfarbe und Nummernschilder der Autos, die Nutzung der sozialen Medien, Einkäu- fe per Kreditkarte oder Bezahl-App. Dazu kommt die Bild-Erfassung durch Gesichtserkennungskameras, von denen es 2016 schon 176 Millionen gab; inzwischen sollen 600 Millionen installiert sein. Sie finden unter 50.000 Besuchern eines vollen Sportstadions in Sekundenschnelle eine gesuchte Person.

Seit 2014 wird das Sozialkreditsystem in 43 Distrikten oder Kommunen erprobt. In diesem Jahr soll es landesweit eingeführt werden. Es gibt nichts an Tu- genden und Untugenden, was der Staat nicht wissen, bewerten, bestrafen oder belohnen will. Gesetzestreue, moralisches Wohlverhalten, soziales Engagement bringen Punkte, säumiges Zahlen von Rechnungen und Verkehrsstrafzetteln, Betrug und regierungskritische Äußerungen („Gedankendelikte“, sagt Orwell) haben Punkteabzug zur Folge. So wird zur Rechenschaft gezogen, wer bei Rot über eine Ampel fährt, zu oft hupt, sich nicht anschnallt oder sein Auto in Parkverbotszonen abstellt; wer sich weigert, „freiwillig“ beim Pflanzen von Bäumen mitzuhelfen, wer Pornos schaut oder zu viel Zeit mit Computerspielen verdaddelt, wer seine Eltern nicht regelmäßig besucht, mancherorts sogar, wer allein in einer großen Wohnung lebt oder ein großes Auto fährt. In einigen Pilotprogrammen gelten 1000 Punkte als optimal, wer unter 600 Punkte fällt, wird nach der Devise behandelt „Einmal unehrlich, überall eingeschränkt“.

Öffentlich an den Pranger gestellt

Drastische Sanktionen erwarten die Übeltäter. Sippenhaft ist an der Tagesordnung. Sie dürfen keine Hochgeschwindigkeitszüge und Flugzeuge mehr benutzen – bereits 2017 wurde sechs Millionen Menschen der Kauf von Flugtickets verwehrt und weiteren 17 Millionen die Ausgabe von Eisenbahnfahrkarten. Die Sozialsünder dürfen auch nicht mehr in Hotels der gehobenen Klasse absteigen. Zudem erhalten sie weder Kredite noch Kreditkarten; im schlimmsten Fall können sie ihren Job verlieren. Und sie werden – naming and shaming – in Wandzeitungen, im Internet und per telefonischer Information des Bekanntenkreises öffentlich an den Pranger gestellt. Den Punktsiegern hingegen – etwa Knochenmarkspendern und Blutspendern – winken öffentliche Belobigung, Beförderung, vergünstigte Kredite und bessere Krankenversicherungen.

Seine schärfste und menschenrechtsverachtendste Ausprägung hat Xi Jinpings Überwachungs- und Unterdrückungsstaat in der Seidenstraßen-Provinz Xinjiang mit ihren 23 Millionen Einwohnern gefunden. Dort werden die elf Millionen Uiguren, aber auch muslimische Kasachen oder Kirgisen all ihrer Freiheiten beraubt. Der chinesische Bevölkerungsanteil – drei Prozent im Jahre 1950 – ist mittlerweile auf 41 Prozent gestiegen, der uigurische sank von 75 auf 45 Prozent. Immer wieder kam es wegen der zielbewussten Sinisierung zu Unruhen, auch verübten uigurische Täter eine Reihe von Terroranschlägen, einen kurz vor Xi Jinpings Amtsantritt. Dagegen wehrte sich der Staat. Doch jetzt wird eine Kultur ausgelöscht. Tatsächlich ist die Provinz mit Sicherheitsabsperrungen, Überwachungskameras und einem Netzwerk von mehr als 60.000 Spitzeln überzogen worden, Imame wurden abgesetzt, Moscheen abgerissen. Im Kampf gegen die drei „bösen Kräfte“ – uigurischer Separatismus, religiöser Extremismus und Terrorismus – kennt Peking keine Grenze (dies darf man buchstäblich nehmen, denn auch den anderthalb Millionen Uiguren, die im Ausland leben, wird nachspioniert und gedroht).

Die drakonischen Maßnahmen gegen Muslime gehen weit über alles hinaus, was zur Abwehr separatistischer Tendenzen und terroristischer Anschläge („Krebsgeschwüre entfernen“ in der Sprache der chinesischen Obrigkeit) nötig wäre. Über eine Million Uiguren sind monatelang, manche über ein Jahr lang, in Hunderten von Umerziehungslagern eingesperrt worden. Dort mussten sie Propaganda-Videos anschauen, ideologische Schulung über sich ergehen lassen und die Nationalhymne singen; auch wurden sie bedrängt, muslimische Alltagsgewohnheiten abzulegen und Chinesisch zu pauken. Sie „studieren“, beschönigt das Regime die Gehirnwäsche, die Lager werden als „Berufsbildungszentren“ verharmlost. Das Regime bestritt zunächst alles, doch gab es Satellitenaufnahmen und Zeugenaussagen, die den Dementis den Boden der Glaubwürdigkeit entzogen. Schließlich räumte die Partei die Existenz der Internierungslager ein; sie seien notwendig zur Abwehr von „religiösem Extremismus“ und zur „Entradikalisierung“.

Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass die Chinesen sich die Menschenrechtsauffassung des Westens zu eigen machen werden. Dem Universalismus-Anspruch des Westens werden sie die eigenen Wertvorstellungen und Traditionen geschichtlicher Lehren entgegenstellen. Für sie ist die wirtschaftliche Entwicklung das entscheidende Kriterium für Menschenrechte, ein materiell besseres Leben der einzige Maßstab. Sie haben 800 Millionen Menschen aus der Armut befreit; dies halten sie für die größte menschenrechtliche Leistung. „Wir akzeptieren nicht, dass der Westen allein den Maßstab setzt“, sagen sie. „Sie haben ihr System, wir haben unser System.“

Deutsche Regierungschefs, auch Bundeskanzlerin Merkel, haben die Pekinger Führung immer wieder auf die Menschenrechte angesprochen. Gefragt, wie die chinesischen Gesprächspartner darauf reagierten, sagte Helmut Schmidt einmal: „Sie haben chinesische Gesichter gemacht.“ Anderes wird man sich von ihnen schwerlich erwarten dürfen.


Erklärung zur Illustration STRATEGEM 22

Die Uiguren, deren Sprache der türkischen ähnlich ist, sollen im chinesischen Sinne umerzogen werden. Unter dem Dieb, der zu fangen und unschädlich zu machen ist, wären entsprechend der metaphorischen Strategemsprache uigurische Tendenzen für den Islamismus sowie Sezessionsbestrebungen zu verstehen. Solche Tendenzen will die Volksrepublik China durch Umerziehung ausmerzen.


Buchtipp

Theo Sommer, China First, 480 Seiten,

C.H. Beck, 26 Euro

chbeck.de

Theo Sommer

Dr. Theo Sommer war fast 20 Jahre lang Chefredakteur der Zeit und weitere acht Jahre Herausgeber der Wochenzeitung. Heute ist er Herausgeber der Zeitungen The Atlantic Times und The German Times.

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