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Titelthema

Der große Bruch

Titelthema - Der große Bruch
© Mario Wagner/2 Agenten

Für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Gesundheit der Bürger ist Sport essenziell. Das weiß die Politik, sendet aber andere Signale.

Friedhard Teuffel01.06.2021

Ein Wochenende im Mai. Wer möchte, kann sich im Fernsehen anschauen, wie Alexander Zverev das Tennis-Masters-Turnier in Madrid gewinnt. Oder wie Kiel und Flensburg sich um die Krone des deutschen Handballs duellieren. Kann zuhören, wie der Manager eines Fußball-Bundesligisten im Abstiegskampf den Schiedsrichter kritisiert, die „aberwitzige“ Entscheidung, ein Tor wegen angeblichen Handspiels nicht gegeben zu haben. Außerdem wird der FC Bayern vorzeitig deutscher Meister.

Ein Wochenende im Mai. Die Sporthallen sind geschlossen. Wer Sport machen will, kann das im Park tun oder zum Beispiel im Ruderboot – das aber nur alleine oder mit jemandem aus dem eigenen Haushalt. Nachwuchssport ist auf eine Gruppe bis fünf Kinder beschränkt, bei 13 Jahren ist Schluss. Und Gesundheitssport gibt’s nur mit ärztlicher Verordnung.

Eigentlich funktioniert der Sport wie eine schöne Pyramide. Man fängt unten an, und mit Talent und Training und Glück kann man es bis an die Spitze schaffen. Von oben wirkt es dann wieder nach unten: Die Olympiasieger von heute inspirieren die Olympiasieger von morgen und zudem viele Breitensportler, ihren inneren Schweinehund zu besiegen. Nur hat Corona dieser Pyramide einfach mal das Fundament weggerissen. Zu sehen ist gerade noch die Spitze.

Wie Märchen aus alten Zeiten

Davon wird sich die Basis des Sports nicht so schnell erholen. Zu viel ist verloren gegangen, Vertrauen vor allem und auch ein guter Teil des Selbstbilds. So oft, so blumig und salbungsvoll war der Sport mit seinen Leistungen beschworen worden, bei Empfängen und Ehrungen, in politischen Reden: als sozialer Kitt, als Integrationsmeister. Dass er die Kinder von der Straße hole und die beste Medizin sei. Dann kam es zum Schwur – und zur großen Enttäuschung.

Es geht dabei nicht ums Geld. Auch für den Sport haben Bundes- und Landesregierungen Rettungspakete geschnürt, für den Profisport wie für kleine ehrenamtlich geleitete Vereine. Diese Millionen haben das Schlimmste verhindern können. Obwohl monatelang kein Sport stattfand, gibt es kein Vereinssterben. Vor allem deshalb nicht, weil die Mitglieder ihren Verein nicht als Dienstleister begreifen, sondern als Gemeinschaft, und deshalb weiter ihre Beiträge zahlen. Und zum anderen, weil eben Politik und Verwaltung die Vereine finanziell unterstützt haben. Dieses Geld hat gerettet. Aber es hat nicht glücklich gemacht. Denn es kann eine bittere Erkenntnis aus dieser Pandemie nicht aufwiegen: Der Sport ist aus der Ecke „Freizeit und Hobby“ noch nicht herausgekommen.

In den politischen Runden auf Bundes- und auf Länderebene hätte sich zeigen können, wie ernst die Regierenden den Sport nehmen. Wie groß sie seine Leistung einschätzen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Gesundheit. Doch all die schönen Reden über den Sport klangen auf einmal wie Märchen aus einer vergangenen Zeit. Wer in Gesprächen mit politisch Verantwortlichen auf die Schäden für Kinder und Jugendliche durch Bewegungsmangel hinwies, auf Übergewicht, fehlende Schwimmfähigkeit und depressive Verstimmungen, auf erhöhte Gewaltbereitschaft, bekam zu hören, dass sich alle an die Einschränkungen halten müssten. Dass wir nicht noch mehr Coronatote bräuchten. Dass die Infektionszahlen jederzeit wieder explodieren könnten. Oder dass gerade die Intensivstation eines Stadtteilkrankenhauses den Aufnahmestopp erklären musste, weil alle Betten belegt sind und die Pflegekräfte mit ihren Nerven am Ende.

Den Sport einfach nicht verstanden

Auf das eben noch Beschworene wollte sich kaum jemand einlassen. Nicht auf ein Abwägen. Nicht auf das Argument, dass in einer Gesundheitskrise doch gerade ein Immunstärker wie der Sport nicht Teil des Problems ist, sondern der Lösung. Aber was fällt einem noch dazu ein, wenn bei einem Treffen von Jugendleitern aus kommunalen Sportverbänden ein Regierungsvertreter jubiliert, dass doch Sport sehr wohl stattfinde, sogar mit einem Modellversuch in der Bundesliga unter den Augen von Hunderten anwesenden Zuschauern? Es führt zu einem weiteren bitteren Befund: dass selbst politische Entscheider den Sport nicht verstanden haben. Nicht einmal die, die qua Amt für ihn verantwortlich sind.

Die Pandemie ging schon mit einer Schieflage los. Als das Land im ersten Lockdown das Homeschooling lernen musste, fiel der Sport hinten runter. Hauptsache Mathe und Deutsch liefen. Es waren Vereine wie der Berliner Basketballklub Alba Berlin, die mit Online-Angeboten für Kita- und Schulkinder Bewegung in die Wohnungen brachten, mit einem „Sommersprossentanz“ oder einer „Barfußreise“. Manche Schule kopierte in den wöchentlichen Stundenplan einfach den Link zu Albas täglicher Sportstunde.

Übungsleitende gaben sich größte Mühe, alle so fit wie möglich zu halten mit Videos und Trainingsplänen für zu Hause. Da war die Unsicherheit noch groß und die Erkenntnislage über Infektionen gering. Das gute Wetter bewahrte vor noch mehr Stillstand, der Sommer wurde zur Lockerungsübung, nach den Schulferien konnte auch der Breiten- und Freizeitsport seinen Betrieb wieder aufnehmen. Im Herbst stiegen die Infektionszahlen, und die politisch Verantwortlichen drückten beim Sport mit wenigen Ausnahmen wieder die Pausetaste. Die blieb lange eingerastet. Als ob in der Zwischenzeit nichts geschehen wäre.

Da ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass es im Freien bei Teamsportarten, beim Tennis, Rudern oder Joggen ein „extrem geringes Infektionsrisiko gibt“, wie Christof Asbach, der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, feststellte. Belegt hat das eine Studie aus Irland, nach der von 232.000 Infektionen nur 260 im Freien aufgetreten seien. Was daraus für die politische Bewertung folgte? Herzlich wenig.

Ebenso wenig wie aus der europaweiten wissenschaftlichen Befragung von gut 8000 Kindern, die zu dem Ergebnis kam, dass sich im ersten Lockdown nur ein Fünftel aller Kinder entsprechend dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Mindestmaß bewegte. Im zweiten waren es noch weniger. Die Ratschläge der Forscher: Eltern sollten mit ihren Kindern jeden Tag mindestens zwei Stunden für Aktivitäten im Freien einplanen, Schulen dem Sportunterricht Priorität einräumen und politisch Verantwortliche Sportflächen wirklich als Letztes schließen.

Auch die Ergebnisse aus dem British Journal of Sports Medicine verhallten, in dem Forscher nach der Untersuchung von 50.000 Coronafällen aus den USA zu dem Schluss kamen, dass Bewegungsarmut die größere Gefahr für einen schweren Krankheitsverlauf sei als Rauchen, Fettleibigkeit oder Bluthochdruck.

All das ging unter, wurde erdrückt von anderen Zahlen, vor allem von der Fixierung auf Inzidenzen. Der Frust darüber nahm auch deshalb zu, weil Sportverbände ein Fundament für einen verantwortungsvollen Sportbetrieb geschaffen hatten. Mit Hygienekonzepten für jede einzelne Sportart, die nachweislich funktionierten. Mit einer TÜV-Zertifizierung. Mit Teststrategien und Modellprojekten. Sollte das alles umsonst gewesen sein?

Es ist nicht so, dass der Sport selbst alles richtig gemacht hätte. Anstatt die eigene Mannschaft zusammenzuhalten, anstatt für Öffnungen zu kämpfen, ging es in einigen Sportverbänden zu, als ob um sie herum die Welt in bester Ordnung wäre. In schmerzfreier Selbstverständlichkeit zerlegte sich die Führungsetage des Deutschen Fußball-Bundes untereinander. Der Ball in der Bundesliga rollte ja munter weiter, und damit fließt auch das Fernsehgeld, das weit wichtiger ist als der Verkauf von Eintrittskarten. Nur, wie sollen sich da Fans fühlen, die bisher alles für ihren Verein gegeben haben, die eigenen Kinder erst in ihrem Verein anmelden und dann beim Standesamt?

Immer träger, immer depressiver

Die Klagen an der Basis des Sports nehmen zu wie die einer Mutter und Ärztin: „Die Jugendlichen stecken immer für alle zurück, hocken zu Hause und verwahrlosen zunehmend.“ Oder eines Jugendleiters aus dem Fußball: „Unsere Kinder und Jugendlichen werden Tag für Tag immer unsportlicher und depressiver und werden die Lust am Sport verlieren.“ Aus den unzähligen Schilderungen sind längst belastbare Befunde geworden. Wie die des Karlsruher Sportwissenschaftlers Alexander Woll, der über Kinder sagte, „dass bei ungefähr 50 Prozent die Fitness zurückgegangen ist, bei 30 Prozent hat sich das Gewicht deutlich erhöht. Leider gerade auch bei den Kindern, die vorher schon übergewichtig waren.“

Es sind eben gerade Kinder und Jugendliche, die die Folgen dieser Pandemie besonders deutlich spüren. Wer als Kind einige Jahre im Sportverein war, dessen Bewegungsverhalten ist ein Leben lang belegbar besser. Andersherum ist ebenfalls belegt: Wer als Kind übergewichtig ist, ist es mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent auch als Erwachsener. Und wenn es um Gesundheit geht, dann ist nie allein die körperliche gemeint, sondern auch die psychosoziale. Gerade in den engen Städten brauchen Kinder Bewegung und dafür qualifizierte und motivierende Angebote in einer Gruppe. Sie gehen eben nicht alleine joggen.

Welche Lobby hat der Schulsport?

Das beste Gegenmittel wäre nun eine Bewegungsoffensive. Denn Bewegungsmangel war vorher schon ein gesellschaftliches Megathema – Corona hat es noch einmal verschärft. Vereine brauchen Lockerungen. Auch die Schule könnte mehr tun. Ein Modellprojekt aus Hessen ergab, dass die tägliche Schulsportstunde nicht nur die körperliche, sondern auch die kognitive Entwicklung fördert. Die Konzentration stieg, die Leistungsfähigkeit auch. Aber welche Lobby hat der Sport an Schulen? Wie viele Schulleitungen unterrichten eigentlich Sport?

Eine Bewegungsoffensive benötigt auch mehr Raum und Sichtbarkeit für den Sport. Durch attraktive Flächen und bewegungsfreundliche Stadtplanung. Und ein politisches Bekenntnis, das nach der Bundestagswahl auch in der Zuständigkeit zum Ausdruck kommt. Auf Bundesebene ist Sport beim Innenministerium angesiedelt, hat es dort aber im Gegensatz zur Heimat nicht einmal in den Namen geschafft. Was aber ist soziale Heimat, wenn nicht der Sportverein?

Wenn es um Sport als gesellschaftliche Gestaltungskraft geht, dann müsste er ins Bundeskanzleramt ziehen. Mit einer Staatsministerin, einem Staatsminister, deren Qualifikation sich nicht darin erschöpft, bei Olympischen Spielen mal auf dem Podium gestanden zu haben. Sondern die oder der Sport als gesellschaftspolitisches Querschnittsthema bearbeitet.

Dann würde der Sport nicht mehr im Silodenken untergehen. Es gäbe stattdessen ein Pyramidendenken – von der Breite bis hoch an die Spitze und wieder zurück.

Friedhard Teuffel

Friedhard Teuffel ist seit 2018 Direktor des Landessportbunds Berlin. Zuvor hat er knapp zwei Jahrzehnte als Journalist gearbeitet, unter anderem als Korrespondent der FAZ- Sportredaktion sowie beim Tagesspiegel als Ressortleiter Sport und verantwortlicher Redakteur für die Meinungsseite.