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Titelthema

Der große Irrtum

Titelthema - Der große Irrtum
© Illustration: Klawe Rzeczy, Fotos: Picture Alliance/DTS-Agentur, Library of Congress/Geography and Map Division

Neutralität garantiert keine Sicherheit. Österreichs Bürger hängen einer gefährlichen Illusion nach, die auch nicht mehr zeitgemäß ist.

Gerhard Mangott01.04.2024

Österreich ist ein neutrales Land. Im Oktober 1955 wurde die immerwährende Neutralität als Verfassungsgesetz beschlossen. Es gab zwar keine rechtliche Verbindung, aber die Neutralität war der „Preis“ für das Wiedererlangen staatlicher Unabhängigkeit. Das Gesetz verpflichtet Österreich, keinem militärischen Bündnis beizutreten und keine ausländischen Militärstützpunkte auf österreichischem Territorium zuzulassen. Österreich war allerdings von Beginn an nicht politisch neutral, sondern klar in den Westen integriert.

Genährt von ideologischer Überzeugungsarbeit durch die politischen Eliten, hat sich trotzdem ein Neutralitätsmythos in der österreichischen Bevölkerung entwickelt. Das ist der tiefe Glaube, dass die Neutralität Schutz vor militärischen Angriffen garantiert. Es dominiert die Ansicht, dass niemand Österreich militärisch angreifen dürfe, weil Österreich eben neutral sei. Ein verhängnisvolles Missverständnis dieses Konzepts.

Begleitet wurde diese irrige Sicherheitserwartung von einer politischen Entscheidung, die militärische Wehrhaftigkeit des Landes nicht sonderlich intensiv zu betreiben. Österreich versteht seine Neutralität zwar als „bewaffnete Neutralität“, aber die Militärausgaben waren deutlich begrenzt; vor allem nach dem Ende der Teilung Europas 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Diese Minderrüstung ging einher mit dem Glauben, dass es gar keine reale militärische Gefahr für Österreich gebe. Die Erweiterung der Nato nach Osteuropa führte dazu, dass das Land von Nato-Mitgliedsstaaten umgeben ist beziehungsweise die neutrale Schweiz und Liechtenstein wohlwollende Nachbarn sind.

Diese militärische Minderrüstung Österreichs hat bei vielen anderen Staaten des westlichen Militärbündnisses zum Vorwurf der „Trittbrettfahrerei“ geführt. Österreich leiste sich eine schwache militärische Rüstung, weil man sich durch die umliegenden Bündnismitglieder ohnehin abgesichert fühle.

Durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 hat sich der rechtliche Charakter der Neutralität allerdings geändert. Nach dem Lissabonner Vertrag der EU, genau nach Artikel 42 (7) EU-Vertrag, hat sich Österreich zur Solidarität mit den anderen Mitgliedsstaaten der EU verpflichtet. Dort ist formuliert: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats schulden die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ Alle in ihrer Macht stehende Hilfe umfasst nach allgemeiner Interpretation auch militärische Hilfe. Gleichzeitig wurde in diesem Vertragsartikel allerdings auch festgehalten: „Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten unberührt.“ Das bedeutet, dass Österreich wegen seiner immerwährenden Neutralität die militärische Unterstützung für andere EU-Mitgliedsstaaten auch verweigern kann.

Der Befund der öffentlichen Meinung im Land ist deutlich: Die österreichische Bevölkerung erwartet von den anderen EU-Mitgliedsstaaten, das eigene Land bei einem militärischen Angriff zu verteidigen. Gleichzeitig ist eine deutliche Mehrheit dagegen, dass Österreich militärisch angegriffene EU-Partner verteidigt. Das sei als neutraler Staat nicht möglich.

Die Neutralität ist in den Augen der österreichischen Bevölkerung nicht nur rechtlich klar definiert, sondern auch ein glaubwürdiger Schutz davor, militärisch angegriffen zu werden. Der neutrale Status verbiete es anderen Ländern rechtlich, Österreich militärisch anzugreifen. Es gibt aber viele historische Beispiele, wo genau dieser angebliche Schutz vor Aggressoren nicht gehalten hat.

Kaum einer will die Neutralität aufgeben

Der russische Überfall auf die Ukraine und der damit verbundene Antrag bündnisfreier Staaten – Schweden und Finnland – auf Aufnahme in die Nato haben auch in Österreich eine zaghafte Debatte darüber ausgelöst, ob Österreich an der Neutralität festhalten sollte. Auf der Ebene der Regierung wurde sofort versucht, die Debatte, die ohnehin kaum in Gang gekommen war, wieder abzuwürgen. Bundeskanzler Karl Nehammer dekretierte: „Österreich war neutral, ist neutral und wird neutral bleiben.“ Das hatte weniger mit inhaltlichen Überzeugungen zu tun, womit die militärische Sicherheit des Landes gewährleistet werden kann, sondern mit der Furcht vor der öffentlichen Meinung. Derzeit wollen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung an der Neutralität festhalten. Gegen die Neutralität aufzutreten, käme einem elektoralen Suizid gleich. Nur die liberale Nischenpartei Neos spricht sich verhalten für den Beitritt zur Nato aus.

Die Invasion Russlands war aber Anstoß zur Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsstrategie, die bereits im Dezember 2023 vorliegen sollte. Die noch gültige Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2013 spricht noch vom Aufbau einer strategischen Partnerschaft mit Russland. Die Ausarbeitung der Strategie erfolgte aber nicht sehr inklusiv. Die Bevölkerung war nicht eingebunden, die Parteien nominierten „ihre Experten“. Bislang wurde die Strategie noch immer nicht vorgelegt. Es gebe keine Einigung zwischen den Regierungsparteien Volkspartei und Grüne. Wahrscheinlich wird diese Strategie vor den anstehenden Nationalratswahlen im September dieses Jahres auch nicht mehr veröffentlicht werden. Kritische Bemerkungen zur Fortsetzung der Neutralität würden den beiden Parteien schaden. Die Strategie würde nur dann vorher vorgelegt werden, wenn zu diesem heiklen Punkt nur verwässerte Sätze zu finden wären.

Der Krieg in der Ukraine hat aber jedenfalls dazu geführt, dass der Verteidigungshaushalt langfristig deutlich erhöht wurde. Das Konzept der „bewaffneten Neutralität“, nach dem Österreich sich selbst verteidigen könnte, findet nun deutlich mehr Anklang.

Auch wenn von den Regierungen mancher Mitgliedsstaaten der Wunsch nach einem österreichischen Beitritt zum Bündnis zu hören ist, wird ein solcher Schritt auch in mittelfristiger Perspektive nicht erfolgen – außer der Krieg in der Ukraine würde sich auf weitere Länder ausdehnen. Das könnte auch in der Bevölkerung zu einem Umdenken führen. Neue Mitglieder sollten allerdings auch zur Erhöhung der Sicherheit des Bündnisgebietes beitragen; das könnte das österreichische Heer derzeit nur bedingt leisten.

Die Äußerungen des möglichen nächsten Präsidenten der USA Donald Trump zur Einhaltung der Bündnisverpflichtungen seines Landes im Militärbündnis berührt Österreich daher nur indirekt. Die Äußerungen Trumps – wenn sie umgesetzt werden sollten – würden die Abschreckungsfähigkeit der Nato und deren Glaubwürdigkeit deutlich schwächen. Aber davon fühlt sich Österreich nur am Rande berührt. Wenn nun Macron nicht ausschließen will, dass Soldaten von Nato-Staaten in die Ukraine entsandt werden könnten, verstärkt das nur die tiefe Ablehnung des Bündnisbeitritts in der österreichischen Bevölkerung. Lieber hängen die Bürger einer Illusion nach.

Gerhard Mangott

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit dem Schwerpunkt Osteuropa und Russland