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Titelthema

Der Kampf ums große Ganze

Titelthema - Der Kampf ums große Ganze
Monumentalfriedhof Certosa ~ Bologna ~ Italien © Sven Fennema

Voller Nationalstolz verehren die Ukrainer ihre Kriegsgefallenen. Zu lange war ihnen das Trauern untersagt worden.

Guido Hausmann01.11.2023

59 Menschen kamen Anfang Oktober im Dorf Hrosa im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine bei einem russischen Raketenangriff ums Leben. Die Berichte und Bilder des Ereignisses gingen als ein Beispiel für die Grausamkeit des russischen Angriffskrieges gegen das Nachbarland um die Welt. Denn die Opfer waren Teil einer Trauergemeinde gewesen, die sich in einem Café und Lebensmittelgeschäft versammelt hatte, um den Tod eines Soldaten aus dem Dorf zu betrauern und ihn zusammen mit der Familie des Verstorbenen auf dem örtlichen Friedhof beizusetzen. Auch wenn die ukrainische Luftabwehr inzwischen besser ausgestattet ist, bleibt die Zivilbevölkerung immer noch häufig schutzlos den Angriffen ausgeliefert. Bilder aus der Ukraine zeigen die frisch ausgehobenen und geschmückten Gräber, häufig mit Holzkreuzen, an denen Fotos der Verstorbenen angebracht sind, Nationalflaggen, Kränzen in Gelb-Blau und Blumen, davor die versammelte Trauergemeinde.


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„Ehre der Ukraine!“

Laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte (OHCHR) beklagt die Ukraine bis zum 8. Oktober 2023 etwa 10.000 zivile Tote und mindestens 15.000 tote Soldaten, wahrscheinlich liegen die realen Zahlen aber viel höher. Viele Familien, Gemeinden und Regionen sind außerdem durch Fluchtströme zerrissen. Es sollen seit Februar 2022 etwa sechs Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen sein, ein Teil Richtung Westen, ein anderer Teil Richtung Russland, allein über eine Million bis August 2023 auch nach Deutschland. Aber obwohl Tausende Familien zerstört und auseinandergerissen werden, zeigt das Land eine Einigkeit in der Abwehr der Aggression von außen, die zuvor unbekannt war und die Russland nicht erwartet hatte. Diese Einigkeit zeigt sich auch in der Trauer und Ehre, die in der ganzen Ukraine immer wieder Soldaten oder Kommandanten geschenkt wird, die durch ihren Mut bekannt geworden und im Kampf gefallen sind – so etwa Dmytro Kotsiubailo. Ihm war als einer der jüngsten Kommandanten der ukrainischen Armee im Dezember 2022 der Titel „Held der Ukraine“ verliehen worden. Schon mit 21 Jahren hatte er 2014 auf dem Maidan die Volkserhebung gegen den korrupten Präsidenten Janukowitsch unterstützt und dann im Osten der Ukraine gegen die von Moskau unterstützten Separatisten gekämpft. Als er Anfang März 2023 bei Bachmut im Kampf starb, strömten Tausende auf dem Kiewer Zentralplatz Maidan zusammen, um gemeinsam mit dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj seinen Tod zu betrauern und ihm die letzte Ehre zu erweisen. „Ehre der Ukraine!“, skandierten sie, und die Trauergemeinde antwortete mit „Ehre den Helden!“. Wie auf den Friedhöfen kleiner Ortschaften wie Hrosa wiederholt sich das Ritual und skandiert die Trauergemeinde diesen Spruch, wenn Soldaten im Kampf oder auch einfache Menschen sterben. Viele Friedhöfe werden jetzt aufgeteilt, und neben dem zivilen Teil entstehen Kriegsabteilungen für Gräber gefallener Soldaten. In Kiew ist ein nationaler Heldenfriedhof geplant. Tote in Würde beizusetzen ist Teil des Selbstverständnisses der Ukraine. So soll auch ein Unterschied zu Russland gemacht werden. Denn die russische Armee lässt auf ihrem Rückzug tote russische Soldaten häufig einfach liegen, und in Russland selbst wird den eigenen gefallenen Soldaten keine öffentliche Ehre zuteil. Vertreter des Staates zeigen sich dort nicht bei Beisetzungen, auch nicht bei Beisetzungen von Generälen und anderen hohen Offizieren.

Es geht um mehr als territoriale Fragen

Die Bedeutung, die in der Ukraine der Trauer und würdevollen Beisetzung zugemessen wird, hängt auch mit der Geschichte des Landes zusammen. Das Land erlebt nicht zum ersten Mal, dass es als Nation erniedrigt und ausgelöscht werden soll. Eine neue nationale Erinnerungskultur hat sich seit der Staatsgründung von 1991 herausgebildet, die Orientierung im gegenwärtigen Krieg bietet. Es geht in diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur um die Krim und einige Gebiete im Osten und Südosten des Landes, sondern es geht um die politische Souveränität der Ukraine, das heißt um ihre Möglichkeit, sich politisch, kulturell und ökonomisch selbstständig orientieren und organisieren zu können und sich nicht den imperialen Interessen Russlands fügen zu müssen. Anders gesagt: Es geht um die Freiheit der Ukraine. Ein wichtiger Teil der Freiheit ist auch die Möglichkeit, frei und öffentlich der Toten zu gedenken, mit der Trauer vergangene und neue Traumata zu überwinden und selbstbewusst leben zu können.

Im Januar 1918, am Ende des Ersten Weltkrieges und nach der Oktoberrevolution in Russland, war in der Ukraine erstmals in der modernen Geschichte ein ukrainischer Nationalstaat ausgerufen worden. Die Mehrheit der Ukrainer hatte zuvor unter der Herrschaft Russlands gelebt, eine große Minderheit aber in der Habsburgermonarchie. Ukrainische Soldaten hatten im Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten der Front gekämpft und waren sowohl für die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn als auch für das imperiale Russland gefallen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Ukraine Hauptschauplatz eines Krieges, in dem Polen, Sowjetrussland, westliche Alliierte und Ukrainer mit unterschiedlichen politischen Orientierungen um die politische Zukunft des Landes kämpften. Es starben Hunderttausende Ukrainer, zivile Bevölkerung, Soldaten, in Pogromen auch viele ukrainische Juden. Der eigene Staat ging verloren, die Ukraine existierte im Folgenden als Sowjetrepublik im Rahmen der 1922 gegründeten Sowjetunion. Außerdem lebten Millionen Ukrainer in Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei. In der Sowjetunion war in den 1920er Jahren ein öffentliches Trauern über die Toten des Weltkrieges und der Jahre 1918 bis 1921/22 nicht oder kaum möglich. Nur derjenigen Toten durfte öffentlich gedacht werden, die für die Sowjetukraine gekämpft hatten und gefallen waren. So konnte die Bevölkerung weder die Traumata der Kriegsgewalt verarbeiten noch einen politischen Konsens herstellen.

Erinnerung an den Holodomor

Die nächste Katastrophe ereilte die Ukraine Anfang der 1930er Jahre. Heute wird in dem Land jeweils am vierten Samstag im November des Holodomor gedacht, der geschätzten vier Millionen Opfer der künstlichen Hungersnot der Jahre 1932/33. Als künstlich wird die Hungersnot bezeichnet, weil sie nicht durch schlechte Ernten verursacht wurde, sondern das Ergebnis der Politik des sowjetischen Diktators Stalin war. Dieser hatte seit 1928 die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft angeordnet, die in der Ukraine mit ihren fruchtbaren Böden auf den Widerstand vieler Bauern traf. Bauern flohen in die Städte, um zum Beispiel im ostukrainischen Donbass im Bergbau oder in der Metallindustrie unterzukommen und zu überleben. Andere wollten die Grenze nach Russland überqueren, wurden aber in die Hungergebiete zurückgetrieben und starben dort einen grausamen Tod. Die Trauer wurde in die Familien zurückgedrängt, aber häufig auch dort nicht geteilt, wie bei den Opfern des Terrors der 1930er Jahre unter Stalin generell. Das änderte sich auch unter der deutschen Besatzung der Ukraine 1941–1944 kaum. Mit dem Niedergang und dem Kollaps der Sowjetunion und der Gründung des ukrainischen Staates 1991 begann sich das Bild aber zu ändern. Es gab damals noch Menschen in der Ukraine, die sich an das Massensterben der frühen 1930er Jahre erinnerten, da Eltern, Großeltern oder Verwandte darüber in der Familie gesprochen hatten. Seit den 1990er Jahren sind Denkmäler in Kiew und vielen anderen Städten und Dörfern errichtet worden.

Auch die Trauer über die geschätzten acht Millionen Toten der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, darunter fünf Millionen Zivilisten, ist politisch konnotiert. Denn erinnert werden konnte in den Nachkriegsjahrzehnten in der Sowjetunion zwar an die Toten der Roten Armee und an die umgekommene zivile Bevölkerung, aber nur in politisch engem Rahmen. Das geschah zunächst zögerlich, aber seit den 1960er Jahren in aufwendigen Gedenkritualen und mit großen Gedenkkomplexen wie in Kiew hoch über dem Dnepr-Ufer. Dabei stand nicht die Trauer über die Toten im Mittelpunkt, sondern der Sieg über den Faschismus, der das sowjetische Regime legitimierte. Ein Teil der ukrainischen Bevölkerung, vor allem im Westen des Landes, hatte aber gegen die sowjetische Armee und für einen ukrainischen Staat gekämpft – und dafür 1941 zunächst auch mit den Deutschen kooperiert und war ebenfalls im Kampf gefallen. Für das Gedenken an diese Menschen konnte nach 1945 nicht öffentlich gestritten werden. Es gab nach 1945 auch kein öffentliches Trauern um die im Holocaust ermordeten ukrainischen Juden.

Nach 1991 brauchte die unabhängige Ukraine Zeit, um die Gewalterfahrungen und Traumata des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten. Dieser Prozess ist noch lange nicht an ein Ende gekommen, aber für die Menschen lebenswichtig, um zu einem gesellschaftlichen und politischen Konsens zu gelangen und zu einer selbstbewussten Nation zu werden. Die ukrainische Demokratie ist dafür ein wichtiger Rahmen, allerdings noch nicht gefestigt. Stattdessen erschüttern seit dem Februar 2022 neue Tote und Traumata die ukrainische Gesellschaft. Die Langzeitfolgen sind noch unvorhersehbar. Aber die historischen Erfahrungen scheinen auch den Überlebenswillen des Landes zu mobilisieren, denn zum wiederholten Male geht es für die Ukraine ums Ganze, ums Sein oder Nichtsein.


Buchtipp

 

Guido Hausmann, Iryna Sklokina (Hg.)

The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today

Vandenhoeck & Ruprecht 2021,

302 Seiten, 55 Euro

 

Guido Hausmann

Prof. Dr. Guido Hausmann ist Historiker und Leiter des Bereichs Geschichte am Leibniz Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg und lehrt an der Universität Regensburg. Er ist Co-Sprecher der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission.