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Titelthema

Der Moment ist günstig

Titelthema - Der Moment ist günstig
"Das macht mir keine Angst. « Es gab vor Angela Merkel eine CDU, und eine CDU gibt es auch nach Angela Merkel." Armin Laschet im ZEITmagazin vom 8. April 2021 © Julia Sellmann/Laif

Union und Grüne, das passt! Die politischen Imperative beider Parteien kollidieren. Das hilft, wenn die großen Zukunftsthemen bewältigt werden sollen.

Thomas Schmid01.05.2021

Stärkste Fraktion werden die Grünen im nächsten Bundestag wohl nicht werden. Zweitstärkste aber schon. Noch vor zehn, 15 Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. Zwar hatten sich die Grünen längst einen festen Platz im politischen Geschehen gesichert, aber nur in der Reihe der kleineren Parteien, die es besser nicht wagen, sich zur Volkspartei zu erklären. Das ist vorbei, die Grünen sind aus dem Feld der Plus-minus-zehn-Prozent-Parteien ausgebrochen. Doch das ist nicht alles. Wenn man ermessen will, welch gewaltiger Umbruchprozess im jahrzehntelang so festgefügten Parteiensystem gerade im Gange ist, muss man sich nur vergegenwärtigen, wie dramatisch sich die Verhältnisse ändern.

Lägen nämlich die Grünen im September vor den Unionsparteien, dann wäre aus der kleinsten Fraktion der zu Ende gehenden Legislaturperiode die stärkste der kommenden geworden. Etwas auch nur entfernt Vergleichbares hat man in den sieben Jahrzehnten dieser Republik noch nicht erlebt. Die deutschen Wähler, für Vorsicht und langsames Verschieben der Gewichte bekannt, trauen sich auf einmal etwas. Und die Grünen liebäugeln erkennbar damit, die Kellnerschürze, die ihnen Gerhard Schröder vor mehr als zwei Jahrzehnten verordnet hatte, abzulegen und sich die Mütze des Koches aufzusetzen. Dass ihre Themen vom Koalitionspartner damals als „Gedöns“ abgetan wurden – so etwas werden sich die Grünen nicht mehr gefallen lassen. Schröder konnte sich noch über sie lustig machen. Das ist vorbei. Als Juniorpartner stehen die Grünen nicht mehr zur Verfügung. Und mit Annalena Baerbock verfügen sie über eine Kanzlerkandidatin, die zwar einen Hang zu wolkigen Zukunftsvisionen hat, deren stählernen Machtwillen aber niemand unterschätzen sollte.

Die Grünen werden die Wahl haben

Nach der Wahl werden es die Grünen sein, die die Wahl haben. Numerisch dürfte eine nicht ganz so große „große“ Koalition ebenso möglich sein wie ein Bündnis mit der schrumpfenden SPD und den um Anerkennung heischenden Liberalen. Aber auch Grün-Rot-Dunkelrot wäre möglich. Man kann nur hoffen, dass die Grünen letzterer Option widerstehen. Obwohl es in der Ökopartei immer noch etliche gibt, die darin ihren alten Traum von einem linkstraditionell gestrickten Bündnis links der Mitte verwirklicht sähen – die Partei ist in ihrer Mehrheit aber längst klug genug, um von dieser verstaubten Vision aus den Anfängen und der Mitte des 20. Jahrhunderts Abstand zu nehmen. Auch wenn das Bürgerliche an den Grünen noch immer oft genug wie eine einstudierte Attitüde wirkt – die machtbewusste Führung der Partei weiß ganz genau, dass sie ihre Wählerinnen und Wähler auf Dauer nur halten kann, wenn sie sich auf die Mitte der Gesellschaft ausrichtet. Dazu passt ein aus der Zeit gefallenes grün-rot-rotes Menü sicher nicht.

Demut und ein langer Atem

Die grün-rot-gelbe Ampel setzt dagegen schon mehr Fantasie frei. Drei Parteien, die – jede auf spezifische Weise – das Lied der Freiheit singen. Nachdem in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die sozialliberale Koalition zerbrochen war, gelang es der SPD nicht mehr, die Liberalen zurückzuholen und zur alten Stärke zurückzufinden. Vor allem auch deswegen nicht, weil es nun die Grünen gab. Die SPD sah in ihnen – nur teilweise zu Recht – ihre entlaufenen, missratenen Kinder, die in ihrer Selbstsucht die große Sozialdemokratie an der Rückkehr zur Macht hinderten. In der Ampel wären dann heute die Akteure von damals wieder glücklich vereint. Das sozialliberale Projekt, einst von Helmut Kohl so abrupt unterbrochen, könnte fortgesetzt werden. Und die entlaufenen Grünen wären – um das Glück zu vollenden – auch mit von der Partie.

Man muss dieses Vorhaben nur skizzieren, um zu merken, wie sehr es aus der Zeit gefallen, wie nostalgisch es ist. Die Ampel-Koalition wäre ein Retro-Bündnis. Eine Zeitreise in die Vergangenheit der alten Bundesrepublik, in der weder der Klimawandel noch das Problem der Mobilität, noch der Populismus, noch die Wiederkehr von Seuchen ein Thema war. In einer Ampelkoalition hätten sich die stattlich gewordenen Grünen mit zwei zänkischen Bündnispartnern herumzuschlagen. Das aber würde ihnen viel von der Energie und der Kraft rauben, die sie bräuchten, um an der Regierung zu sich selbst zu kommen. Und ihre schönen, aber auch luftigen und allzu gefälligen Zielvorstellungen in gangbare politische Schritte zu übersetzen. 30 Jahre lang haben die Grünen in dem festen Glauben gelebt, sie verkörperten geradezu exklusiv ein besseres Deutschland. Diese moralische Selbstüberhebung, die ein Oppositionsgestus ist, passt nicht zu einer Fast-Volkspartei. Wenn sie es mit dem ökologischen Umbau ernst meint, braucht sie Demut, einen sehr langen Atem und die Fähigkeit, sich nicht nur im eigenen Milieu verständlich zu machen.

All das wird die grüne Partei in der kommenden Bundesregierung brauchen, in der sie ohne Zweifel entweder die führende oder die sehr starke zweite Kraft sein wird. Dazu aber kann sie eine starke Union besser nötigen als eine verzwergte, dafür aber eine umso aggressivere SPD. Und eine profilierungsbedürftige FDP. Zwar wirkt die CDU gegenwärtig ähnlich verbraucht wie am Ende des Zeitalters von Helmut Kohl. Sie bleibt aber die Partei mit der größten Regierungserfahrung. Wie keine andere Partei hat sie die Bundesrepublik geprägt, hat es immer wieder verstanden, konservatives Beharrungsvermögen und Modernisierung zu einem Paket zusammenzuschnüren.

Das Märchen vom krassen Gegensatz

Was aber könnte die Unionsparteien und die Grünen zu einem aussichtsreichen Bündnis zusammenbringen? Keine Art von Seelenverwandtschaft. Als es 1998 zur rot-grünen Koalition kam, lag über dem Unternehmen von Anfang an der Schatten des Zu-spät-Kommens.

Union und Grüne waren einmal wie Feuer und Wasser. Hier Bewahren, dort revolutionieren, hier das nationale Erbe, dort der multikulturelle Traum, hier Anzug und Krawatte, dort Turnschuh und Jeans, hier der Glaube an Fortschritt und Industrie, dort die Hoffnung auf den Weg in ein ökologisch-soziales Auenland. Die Gegenüberstellung war in dieser Schärfe schon immer falsch. Union und Grüne verband nämlich immer schon mehr, als beide wahrzunehmen wagten. Denn beide Parteien waren von ihren Mitgliedern her immer schon sehr bürgerlich. Auch die Grünen verkörpern ein Milieu, dessen Angehörige zu den Nutznießern des altbundesrepublikanischen Modells der – forciert formuliert – klassenlosen Mittelstandsgesellschaft gehören. Der Zorn der Union auf die Grünen war gespielt, und die revolutionäre Geste der Grünen, die in der CDU eine mindestens restaurative Partei sahen, war eher ein Mummenschanz. Fast von Anfang an wohnten die Grünen Tür an Tür mit den Unionsparteien, die für den Grundriss der so erfolgreichen Bundesrepublik verantwortlich waren.

Bloß kein Sonnenscheinbündnis

Union und Grüne passen also zusammen. Es sollte aber nicht das große Versöhnungsfest werden, bei dem die entlaufenen Kinder wieder heimkehren und die Eltern endlich Verständnis für die Gedankenwelt der Jungen an den Tag legen. Denn erstens hat Rot-Grün einst schon gezeigt, dass es koalierenden Parteien nicht guttut, wenn sie einander zu ähnlich sein wollen. Und zweitens sind die Grünen ebenso wie die Union eine Partei aus eigener Kraft. Die politischen Imperative beider Parteien ergänzen sich nicht auf harmonische Weise, sie kollidieren vielmehr, stehen im Widerstreit: Die Union kann noch so innig das alte Lied von der Bewahrung der Schöpfung und der Liebe zum Hergebrachten anstimmen – sie ist nun einmal die Partei des Wirtschaftswachstums. Und die Grünen sind nun einmal die Partei, die im Wirtschaftswachstum eher ein Problem als die Lösung sehen.

Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz hätten daher kaum eine Chance, wenn das Ganze als Sonnenscheinbündnis angelegt wäre. Beide Parteien stehen für unterschiedliche Werthaltungen, die beide gleichermaßen in der Gesellschaft repräsentiert sind. Der Konflikt zwischen beiden muss nicht versöhnt, er soll ausgetragen werden. Der Moment dafür ist günstig. Denn die Coronakrise und der tastend-tapsige Umgang der Politik mit ihr macht einsichtiger und zwingender als alle Analysen und Appelle zuvor, dass alte politische Routinen in Zweifel gezogen und überdacht werden müssen. Der Föderalismus, ein geistiger Grundpfeiler dieses Staatswesens, muss neu justiert werden. Kein Abriss plus Neubau, wohl aber ein beträchtlicher Umbau.

Ein Glück, das nicht verdient, sondern ein gütiges Geschenk war, hat die Bundesrepublik vor schweren Stürmen und wirklich dramatischen Entscheidungssituationen weitgehend bewahrt. Von Adenauers Westbindung über Willy Brandts Ostpolitik bis zu Gerhard Schröders Agenda 2010 ergab sich stets eines aus dem anderen. Kontinuität und sanfte Übergänge prägten die Republik. Fast nie war wirklich Großes zu entscheiden, selbst die Wiedervereinigung verlief alles in allem in geordneten Bahnen. Das führte dazu, dass die Politik kein Instrumentarium für große Wendemanöver entwickelte. Das beste Beispiel dafür ist der Ausstieg aus der Nutzung von Atomenergie samt der noch immer nicht gelungenen Energiewende: Der Schalter wurde bloß umgelegt, diskussionslos.

Heute steht Großes an: der Kampf gegen den Klimawandel; eine auf den bestmöglichen Umgang mit Viren ausgerichtete Umrüstung der Gesellschaft wie der Arbeitswelt; ein Mobilitätskonzept, das ökologisch ist, aber die individuelle Bewegungsfreiheit der Menschen nicht kassiert – um nur drei Beispiele zu nennen. Das sind ideale Themen für ein Bündnis aus CDU, CSU und Grünen. Für ein effektives, aber auch streitiges Bündnis.

Die Grünen wären dabei aufgefordert, aus den Wolken des Wohlgefallens herabzusteigen. Und den Gestus immerwährender moralischer Überlegenheit aufzugeben. Sie täten gut daran, sich in das vertrackte Kleingedruckte von Reformen zu versenken. Und sogar den Mut aufzubringen, ihr Allerheiligstes kritisch zu prüfen: Könnte es sein, dass der Kampf gegen den Klimawandel ein Umdenken in der Frage der Nutzung der Atomenergie nötig macht? Immerhin Bill Gates hält es für nötig.

Es waren nicht taktische, sondern sehr grundsätzliche Erwägungen, die Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann dazu gebracht haben, gegen nicht unbedeutende Widerstände in seiner Partei die Fortsetzung des Landesbündnisses mit der CDU anzusteuern. Gerade wenn man so etwas Gewaltiges wie den ökologischen Umbau will, braucht man einen starken Partner, der das Regieren gewissermaßen in den Genen und der viele Krisen überstanden hat, ohne allzu viel an Kraft und Substanz zu verlieren.

Skepsis und Weltoffenheit

Die ausgelaugte Union sollte das tun, was Angela Merkel nach jeder Wahl verhindert hat: die Gründe für die Krise der Partei zu ergründen. Die CDU ist zu einer Mitmach-Partei geworden. Was immer der Zeitgeist anschwemmt, die CDU greift es auf. Tut einen kurzen Moment so, als fremdele sie, dann wird das Neue aufgesaugt. Vermutlich bald auch das konsequente Gendern. Das aber ist ein Holzweg. Die Union hat immer einen großen Magen gehabt, besaß immer die Fähigkeit, Unbekanntes, Neues zu verdauen. Sie hat es die längste Zeit ihrer Geschichte aber auch verstanden, nicht nur die Fahne des Fortschritts zu schwingen. Sie täte gut daran, dieses Beharrungsvermögen, das skeptisch und weltoffen gleichermaßen ist, wieder zu erlernen. Ihr Spitzenmann Armin Laschet, für sein ausgleichendes Temperament bekannt, scheint dafür auf den ersten Blick nicht der Richtige zu sein. Sondern eher einer, der den Grünen zu weit entgegenkommt. Doch man sollte ihn nicht unterschätzen. Laschet hat seine ganze Karriere hindurch bewiesen: Niederlagen entmutigen ihn nicht, er steht immer wieder auf. Und vor allem: Sein Dauerlächeln verbirgt nur, dass er sehr genau weiß, wann es lohnt, hart und konfrontativ zu sein.

Leichtfertige Propheten verkündeten vorschnell, nach Corona würde nichts mehr so sein wie zuvor. Das stimmt nicht. Vieles wird wieder so sein wie früher. Manches aber sollte anders werden. Im Grunde gilt es, Gesellschaft neu zu denken. Aber nicht luftig-visionär, sondern so, dass es auch klappt. Und der grüne Mobilitätsexperte ebenso mitkommt wie die Verkäuferin, der Facharbeiter und die Taxifahrerin.

Thomas Schmid

Thomas Schmid ist Autor und Publizist. Er war Chefredak- teur der Welt-Gruppe mit den Zeitungen Die Welt, Welt am Sonntag, Welt Online und Die Welt Kompakt. Von 2010 bis 2014 war er Herausgeber der Welt-Gruppe.