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Titelthema

Der Störfall als neue Normalität?

Titelthema - Der Störfall als neue Normalität?
Resilienz durch Perspektivwechsel: Baden in kaltem Wasser ist gesund für Körper und Seele (Foto von 1974). © Bridgeman Images

Die gegenwärtige Multi-Krise erfordert ein radikales Umdenken. Ob die Gesellschaft dazu bereit ist, wird sich in Kürze zeigen.

Jean-Pierre Wils01.09.2022

Das Unbehagen wächst. Wer von uns kennt mittlerweile nicht das ungute Gefühl, dass unsere Gesellschaft sich in einem Stolpern befindet, das womöglich mit einer Bruchlandung endet? Die Krisenhäufigkeit spricht Bände. Im Jahr 2008 befand sich die Finanzwelt am Rande eines globalen Zusammenbruchs. Die Pandemie konfrontierte uns mit einer Invasion viraler Natur in nahezu allen Abläufen unserer Existenz und führte zu einer ungeheuren Unterbrechung. Für eine Welt, die die Tugend permanenter Beschleunigung kultiviert, kam dieser Stillstand einer Schmach gleich. Das Leben wurde radikal ausgebremst. Der Habitus der ständigen und immer schnelleren Reichweitenvergrößerung unseres Tuns kollabierte während der Lockdowns, und nach anfänglichem Aufatmen einiger Milieus darüber, dass wir vom Gewohnten pausieren durften, wuchs der Pegel der Ungeduld und der Aggression stetig.

Der Ukrainekrieg konfrontierte uns mit dem Einbruch einer hässlichen Realität in die friedensverwöhnten Regionen Europas. Die Verwerfungen, die durch diesen Krieg verursacht werden, sind offenkundig: Die Gasknappheit und Weizenknappheit versinnbildlichen die Schäden, die dieser militärische Konflikt auch dort anrichtet, wo er territorial betrachtet nicht stattfindet. Seine Beben sind weltweit spürbar, jedoch mit höchst unterschiedlichen Wirkungen: Was für die einen ein kälterer Winter mit knappem Auskommen bedeutet, heißt für andere, mit einem leeren Magen dazustehen beziehungsweise im Extremfall mit dem Hungertod rechnen zu müssen.

Nicht zuletzt sind es die gravierenden Konsequenzen der manifesten ökologischen Krise, die unseren Alltag inzwischen wie ein düsterer Basso continuo begleiten. Die Überschwemmungen im Sommer letzten Jahres und die Hitzewelle dieses Sommers bedürfen im Grunde keines Kommentars. Sie sind Ergebnisse einer Entwicklung, die dazu angetan ist, alles infrage zu stellen, was wir bis vor wenigen Jahren mit einem Garantievermerk ausstatteten – die Vermehrung unseres Wohlstands aufgrund permanenten Wachstums. Wir sollten diese beiden Ereignisse als Menetekel für das Kommende betrachten.

Moderne Gesellschaften haben den Ruf, leistungsfähige und funktional ausgerichtete Gebilde zu sein. Sie verfügen – soziologisch formuliert – über ein hohes Maß an Systemrationalität: Komplexe, aber hocheffiziente Prozeduren und Verfahrensprozesse steuern die Abläufe, technologische und digitale Innovationen bilden das Rückgrat ständigen Fortschritts, motiviert durch das Versprechen, Wachstum bedinge Wohlstand. Wir haben angefangen, mit diesem Modell zu fremdeln. Die ökologische Misskommunikation, die wir uns jahrzehntelang erlaubt haben, fordert ihren Preis. Was nun?

Schmerzhafte Eingriffe sind unvermeidbar

An erster Stelle muss die Bereitschaft zur Anerkennung der Realitäten genannt werden. Uns war es gelungen, die Schlagseiten unseres Lebensstils zu externalisieren – teils buchstäblich durch die Auslagerung des Zivilisationsmülls in von Armut geprägte Länder, teils mental durch die Verbannung der unschönen Fakten unseres Lebensstils in die Randzonen unserer Wahrnehmung. Eine solche Illusionspolitik können wir uns nicht mehr leisten. Sich zu konfrontieren mit den Folgelasten unserer Existenzweise wird zu den primären Aufgaben gehören. Dazu zählt zwangsläufig – zweitens – die Überprüfung unseres Bedürfnishaushalts. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind unsere Bedürfnisse ins Exzessive gewachsen und haben wir die falsche Doktrin internalisiert, das Übermaß sei bei näherer, durch pausenlose und emotionalisierte Werbung stimulierter Betrachtung nur das künftige Normalmaß. Die Neujustierung unserer Bedürfnisökologie wird schmerzhafte Eingriffe in die Gewohnheitsstrukturen unseres Tuns und Lassens erforderlich machen. Angesichts der Deregulierungs- und Privatisierungswellen der letzten Jahrzehnte werden wir – drittens – die öffentlichen und fundamentalen Güter (Wasser, Nahrung, Energie, Bildung, Gesundheit, Verkehr, basale Infrastrukturen) zurückerobern und einer demokratischen Kontrolle unterstellen müssen.

Hinsichtlich der erheblichen Störungsanfälligkeit globaler Netzwerke, die in den genannten Krisen allzu offenkundig geworden ist, wird es – viertens – darauf ankommen, die Regionen zu stärken: Je fundamentaler das betreffende Gut, umso regionaler muss seine Bereitstellung verankert werden. In Teilen wird die radikale Globalisierung, wie es inzwischen nicht wenige Ökonomen fordern, rückgängig zu machen sein. Vor diesem Hintergrund steht – fünftens – eine radikale Ausbalancierung von Klima-, Wirtschafts-, Sozial- und Freiheitspolitik an. Hier gilt die Devise, dass die Klimapolitik den Rahmen für die anderen Bereiche bilden muss. Um es angelehnt an Hans Joachim Schellnhuber auszudrücken: Wenn die Havarie des Schiffs in vollem Gange ist, wird es völlig gleichgültig, ob die Bordkapelle Heino oder Mozart spielt, ob das Essen schmeckt oder die Besatzung anständig bezahlt wird. Zum bereits angemahnten Realismus gehört – sechstens – die Enttabuisierung von Verbots- und Verzichtsbegriffen. Der bloße Appell ist völlig ungenügend und unwirksam. Die Wünsche des Einzelnen sind nicht sakrosankt. „Wer sich das Leben ohnehin einrichten kann, wie er will, hat kein Verständnis und hat in der Regel auch kein Gefühlfür das, was dem Leben notwendig ist“, schrieb der jüdische Philosoph Theodor Lessing vor mehr als 100 Jahren.

Änderungen als Gewinn verbuchen

Nicht nur in der Anfangsphase der Coronakrise zeigte sich die Gesellschaft von ihrer besten Seite. Als wäre ein fast versiegtes Potenzial wieder angebohrt worden, konnten wir fürsorgliche, rücksichtnehmende und solidarische Verhaltensweisen beobachten, die Spontaneität und Kreativität geleitsteter Hilfemaßnahmen bewundern. Das stimmt hoffnungsvoll. Vielleicht sind wir robuster, resilienter und flexibler, als wir dachten, mündiger als angenommen, veränderungswilliger als vermutet. Aber auch Gegenteiliges ließ sich laut und deutlich vernehmen: Wut und Drohverhalten, Beschimpfungen übelster Art, unverhohlene Verachtung der auferlegten Restriktionen, die Abkehr von jeglicher Form argumentativer Auseinandersetzung. Entscheidend wird sein, ob es uns gelingt, die Umkehr als eine attraktive Perspektive glaubwürdig zu machen. Aus der Sicht des Einzelnen sollte die Änderung seines Lebensstils als Gewinn an Lebensqualität empfunden werden, nicht als Verlustrechnung. Vielleicht wäre sogar ein Sinn-Gewinn zu verbuchen, wenn uns die Zukunft der Kommenden ans Herz wachsen würde. Diese Aufgabe darf aber nicht individualisiert werden. Ohne strukturelle, also auf Institutionen fußende Umpolungen unserer Leben wird es nicht gehen. Der alte Spruch „Weniger ist mehr“ ist keineswegs antiquiert. Betrachten wir ihn als Flaschenpost aus einem Zeitalter, das die Weisheit der Genügsamkeit noch schätzte. Oder wie es der Schriftsteller Arno Geiger formuliert: „Der Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas Befreiendes.“


Buchtipp

 

Jean-Pierre Wils

Der Große Riss: Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen

S. Hirzel Verlag 2022,

272 Seiten, 24 Euro

 

Jean-Pierre Wils
Prof. Dr. Jean-Pierre Wils ist Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud-Universität in Nimwegen/NL. Er ist Mitglied im deutschen PEN und Herausgeber der Reihe Scheidewege. Schriften zur Skepsis und Kritik

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