https://rotary.de/gesellschaft/der-westbalkan-gehoert-in-die-eu-a-23634.html
Entscheider

„Der Westbalkan gehört in die EU“

Entscheider - „Der Westbalkan gehört in die EU“
"Die EU-Erweiterung ist kein bürokratischer Prozess, sondern unser stärkstes geopolitisches Instrument", wirbt Alexander Schallenberg (links) unermüdlich für den Beitritt der Westbalkanländer, auch bei der slowenischen Außenministerin Tanja Fajon (mitte). © BMEIA/Gruber

An der Aufnahme der Westbalkanstaaten in die EU führe letztlich – auch aus geostrategischen Gründen – kein Weg vorbei, sagt Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg, wenngleich da noch manche Hürden zu überwinden seien.

Alexander Schallenberg01.06.2024

Als der Europäische Rat Ende März für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina stimmte, war das nicht zuletzt ein Erfolg von Außenminister Schallenberg. Denn Österreich hat sich schon lange für diesen Schritt eingesetzt, um letztlich den gesamten Westbalkan in die EU zu integrieren, auch wenn der Weg dorthin noch weit sein dürfte. Österreich zählt, so Schallenberg, in einigen Ländern Südosteuropas zu den größten Investoren und hat von der Ostöffnung wirtschaftlich bisher schon stark profitiert.

Nun sind bisherige Erweiterungsschritte der EU bisweilen mehr aus geopolitischen Gründen erfolgt denn aufgrund wirtschaftlicher Augenhöhe – Stichworte Griechenland, Rumänien oder Bulgarien. Besteht nicht auch bei Bosnien und dem gesamten Westbalkan wieder die Gefahr, sich durch einen zu frühen Beitritt teure wirtschaftliche Problemzonen einzuhandeln?

2024, entscheider, alexander schallenberg,
Österreichs Außenminister Schallenberg erkennt viele positive Schritte von Bosnien-Herzegowina in Richtung eines EU-Beitritts © BMEIA/Michael Gruber

Die Entscheidung des Europäischen Rats zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina wurde wohlüberlegt getroffen. Die Regierung Bosnien und Herzegowinas hat in den letzten Monaten beachtliche Ergebnisse erzielt und gezeigt, dass ihr die EU-Integration ein echtes Anliegen ist. Gleichzeitig möchte ich festhalten: Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedeutet nicht gleich Beitritt. Beitrittskandidaten haben es selbst in der Hand und der Prozess erfolgt unter Einhaltung etablierter Kriterien und Verfahren. Zu diesen Kriterien gehört natürlich auch die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Der bosnische Außenminister Elmedin Konaković sagte zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen: "Wenn wir in den Zug einsteigen, ist das auch die Botschaft an Russland, sich aus diesem Teil der Welt zurückzuziehen." Sehen die EU-Länder in den nun möglichen Beitrittsgesprächen auch diese Botschaft an Präsident Putin?

Wir haben ein strategisches Interesse in Europa, unsere Nachbarstaaten klar an uns zu binden und Stabilität, Wohlstand und Demokratie in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu stärken. Da zähle ich nicht nur die osteuropäischen Nachbarstaaten dazu, sondern auch unsere Partner am Westbalkan. Entweder es gelingt uns, dort unser Lebensmodell zu stärken, Stabilität und Sicherheit zu exportieren oder wir laufen Gefahr, irgendwann Instabilität und Unsicherheit zu importieren. Es gibt in der Politik kein Vakuum. Es wird sich entweder das europäische Modell durchsetzen oder wir werden plötzlich mit Lebensmodellen aus Moskau, aus Peking oder anderen Staaten konfrontiert. Und das ist mit Sicherheit nicht im Interesse Österreichs.

Nicht alle Mitgliedsstaaten ziehen bei Beitrittsprozessen gleich stark an dem Strang, je nach eigenen Interessen. Auf welche Länder kann Österreich bezüglich Bosnien da besonders zählen?

Besonders hervorheben möchte ich hier die anderen Mitglieder der "Friends of the Western Balkans"-Initiative, die ich letztes Jahr ins Leben gerufen habe und der sich bereits sechs weitere Staaten angeschlossen haben: Griechenland, Italien, Kroatien, die Slowakei, Slowenien und Tschechien. Die Freundesgruppe fungiert als Taktgeber für eine Region, bei der wir seit über 20 Jahren im Wort sind, Teil der Familie der Europäischen Union zu werden. Der Westbalkan ist umgeben von EU-Staaten, ohne sie ist die Europäische Union also unvollständig. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges setzt sich diese Sichtweise auch in mehr und mehr Mitgliedsstaaten durch.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gesagt, Bosnien habe "beeindruckende Schritte in unsere Richtung" gemacht, aber es würde für einen Beitritt noch weitere Fortschritte brauchen. Beitrittsgespräche können ja auch ewig dauern, siehe Türkei. Könnten nicht skeptische Länder, wie etwa Frankreich oder Spanien, bewusst darauf setzen, das auf die lange Bank zu schieben?

Bereits in bisherigen Verhandlungsschritten haben wir den Gegenwind von einigen EU-Mitgliedstaaten zu spüren bekommen. Österreich wird sich weiterhin für einen konstruktiven Dialog und eine sachliche Bewertung der Fortschritte Bosnien und Herzegowinas einsetzen, während wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die Integration dieser Länder in die EU vorantreiben. Denn ohne den Westbalkan ist die EU nicht vollständig. Wir haben den Staaten des Westbalkans vor 20 Jahren, am EU-Westbalkan-Gipfel in Thessaloniki, den Weg in die EU versprochen. Viel zu lange ist nichts geschehen. Wir müssen jetzt das Momentum, das sich aus der geopolitischen Lage ergeben hat, nutzen und dem Ring des Feuers, der Europa umgibt, einen Ring der Stabilität entgegensetzen. Die derzeitige Situation ist eine Gelegenheit für die EU und die Westbalkanstaaten, mehr strategische Weitsicht zu zeigen, ihre Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Erweiterung wiederherzustellen und das gegenseitige Vertrauen zu stärken, das im Laufe der Jahre teilweise verloren gegangen ist. Daher setzen wir uns so nachdrücklich dafür ein, den Erweiterungsprozess für den Westbalkan voranzutreiben und den Dialog mit denjenigen zu suchen, die es noch zu überzeugen gilt.

Durch den Vertrag von Dayton ist die Verwaltung in Bosnien-Herzegowina sehr kompliziert, viele Funktionen sind durch die drei Ethnien dreifach besetzt, die sich untereinander oft auch nicht einigen können. Ist das ein besonderes Hindernis auf dem Weg zum EU-Beitritt?

Die Koalition in Bosnien und Herzegowina hat in den letzten zwei Jahren mehr Fortschritte hinsichtlich der EU-Reformprioritäten gemacht, als in den zwei vorhergehenden Legislaturperioden. Das sind positive Schritte in die richtige Richtung, die es nun weiterzuverfolgen gilt. Natürlich sind noch wichtige Punkte offen. Aber Bosnien und Herzegowina hat deutlich gezeigt, dass der Wille da ist, und dass die Aussicht auf EU-Erweiterung das wirksamste Instrument ist, um Reformen umzusetzen.

In Bosnien ist die Mehrheit der Bevölkerung für einen Beitritt, aber das Land ist gespalten. In der Republika Srpska gibt es da wenig Interesse – wie ist da eine Einheit zu erzielen?

Sie spielen auf den Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, und dessen Querschüsse an. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass auch er am Ende des Tages weiß, ein Bremsblock auf dem Weg in die EU zu sein, wird ihn Popularität kosten und seinen politischen Einfluss langfristig untergraben. Darauf setze ich. Wir werden die EU-Annäherung also weiterhin vorantreiben. Seine erste Reaktion auf den Vorschlag der Kommission, Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, war, dass das sicher nie geschehen würde. Und nun hat der Europäische Rat doch dafür gestimmt. Er ist derjenige, der am meisten zu verlieren hat.

Bei Beitrittsverhandlungen können sich immer noch Hürden auftun. Welche könnten aus derzeitiger Sicht die größten sein?

Wir beobachten die jüngsten Entwicklungen in der Republika Srpska genau, und die sind wahrlich wenig erfreulich. Aber wie ich bereits gesagt habe, setzen wir darauf, dass auch Dodik einsehen wird müssen, dass die Bevölkerung und speziell die Jugend Bosnien und Herzegowinas eine andere Zukunft für ihr Land sieht. Darüber hinaus hat Bosnien und Herzegowina weiterhin wichtige Reformen umzusetzen, um die nächsten Schritte im Beitrittsprozess zu gehen und Beitrittsverhandlungen formell eröffnen zu können. Dazu zählt auch die Verabschiedung wichtiger Gesetze.

Auch die Ukraine möchte in die EU. Diese Beitrittsbestrebungen der Ukraine entspringen wegen des Krieges zweifellos geopolitischen Überlegungen. Kommt es da gerade wegen des Krieges zu einem Wettlauf zwischen der Ukraine und schon länger vor der Tür stehenden Ländern?

Für die EU-Erweiterung ist durch den russischen Angriffskrieg eine neue Dynamik, ein neues Momentum entstanden, das es auch für die Kandidatenstaaten des Westbalkans zu nützen gilt. Die Kriterien sind aber für alle gleich. Wer also zuerst die Ziellinie überquert, das hängt von den Reformfortschritten der Beitrittskandidaten ab.

Wer wird aus heutiger Perspektive wohl früher aufgenommen sein – Bosnien oder die Ukraine?

Wichtig ist, dass es keine Zweiklassengesellschaft unter den Beitrittskandidaten gibt. Es scheint oft, als würde man mit der rosaroten Brille auf die Ukraine blicken und gleichzeitig die Staaten am Westbalkan mit der Lupe beäugen. Man darf nicht vergessen, dass der Westbalkan der Innenhof der Europäischen Union ist. Er ist umgeben von 17 EU-Mitgliedstaaten. Es kann für die Ukraine kein Fast-Track-Verfahren geben, während der Balkan am Pannenstreifen zurückbleibt. Das sehen die EU-Verträge auch nicht vor.

Welche Rolle spielt die Geschichte bei Österreichs Engagement für Bosnien-Herzegowina, weil das Land ja einmal zu Österreich gehört hat? Es war zunächst okkupiert und dann 1908 annektiert, aber letztlich ist in der Monarchie doch eine enge Beziehung entstanden zwischen Wien und Sarajevo. Wirkt das bis heute nach?

Österreich und Bosnien und Herzegowina verbinden schon lange enge Beziehungen und wir haben eine große und erfolgreiche Diaspora in Österreich. Natürlich ist das mit ein Grund, warum wir uns seit vielen Jahren für Bosnien und Herzegowina engagieren. Speziell in Bezug auf die bosnische Diaspora möchte ich unser Engagement im Rahmen des "Speak Up!" Formats hervorheben, das wir gemeinsam mit den USA letztes Jahr ins Leben gerufen haben. Wir bestärken eine neue Generation von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Diaspora in Österreich darin, sich für die EU-Annäherung ihres Landes einzusetzen. Ich habe mich im vergangenen Jahr bereits drei Mal mit Vertreterinnen und Vertretern getroffen, das letzte Treffen fand diesen April statt.

Wie geht es mit den anderen Balkanstaaten weiter? Von den sechs Westbalkan-Staaten Serbien, Bosnien Herzegowina, Montenegro, Kosovo, Albanien und Nordmazedonien ist aktuell nur noch der Kosovo kein Beitrittskandidat. Allerdings hat auch das kleinste Land Südosteuropas bereits einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt.

Es müssen beide Seiten ihre Hausaufgaben erledigen, um die Beitrittsverhandlungen voranzutreiben. Österreich hat Vorschläge für eine graduelle Integration in den Binnenmarkt und andere EU-Politikbereiche in Verbindung mit verstärktem politischen Austausch gemacht und treibt deren Umsetzung gemeinsamen mit den "Friends of the Western Balkans" voran. Die graduelle Integration soll den Erweiterungsprozess keinesfalls ersetzen, sondern auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft raschere Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger bringen. Andererseits müssen die Beitrittskandidatenländer weiterhin Anstrengungen unternehmen, um Rechtsstaatlichkeitsstandards zu verbessern und ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeitauszubauen. Der Beitrittsprozess ist und bleibt merit-based, also leistungsbasiert. Das gilt natürlich auch für den Kosovo als potentiellen Beitrittskandidaten. Die EU arbeitet eng mit den sechs Westbalkan-Staaten zusammen, die sich auf dem Weg in Richtung Mitgliedschaft befinden. Denn der Westbalkan ist ein Teil Europas. Die Geschichte zeigt, dass es ohne Stabilität in Südosteuropa keine Stabilität in Zentraleuropa gibt.

Die Beitrittsgespräche mit Montenegro laufen seit 2012, da drängt Ihre deutsche Amtskollegin Annalena Baerbock auf einen baldigen Beitritt, etwa bis 2028. Ist das aussichtsreich?

Montenegro ist das am weitesten vorangeschrittene Land im Beitrittsprozess. Die Wiederaufnahme des Reformkurses unter der proeuropäischen Regierung, die letztes Jahr ihr Amt angetreten hat, hat Montenegro in den letzten Monaten näher an dieses Ziel herangebracht. Es gilt jetzt, die positive Dynamik zu nützen und Montenegro bei der Umsetzung wichtiger Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundfreiheiten und Medienfreiheit zu unterstützen. Wir sind zuversichtlich, dass heuer weitere Fortschritte im Beitrittsprozess gelingen werden.

Serbien gilt als russlandfreundlich bis -hörig. Die EU kann aber kein Interesse daran haben, neben Ungarn und der Slowakei eine weitere Achse zu Putin zu installieren. Beeinflusst das die Beitrittsverhandlungen mit Serbien?

Österreich unterstützt die europäische Perspektive Serbiens. Allerdings ist klar, dass der Weg nach Brüssel nicht über Moskau führt: Wir erwarten von Serbien, hinsichtlich des russischen Angriffskrieges und den EU-Sanktionen gegen Russland Farbe zu bekennen. Zwar hat sich Serbien in internationalen Foren wie der Generalversammlung der Vereinten Nationen einigen EU-Positionen angeschlossen. Aber es trägt nach wie vor keine EU-Sanktionen mit.

Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen muss Serbien seine Politik gegenüber Drittstaaten – also auch gegenüber Russland – schrittweise an die von der EU vertretenen Positionen und Standpunkte, einschließlich der Sanktionen, anpassen. Nur unter dieser Voraussetzung kann ein EU-Beitritt erfolgen.

Wenn Sie die Beitrittsbestrebungen im gesamten Westbalkan der rotarischen Vier-Fragen-Probe unterziehen, zu welchem Schluss kommen Sie?

Auch unter Berücksichtigung der Vier-Fragen-Probe kann man nur zum Schluss kommen, dass die Europäische Union ohne den Westbalkan unvollständig ist und wir ein strategisches Interesse haben, diese Region klar an uns zu binden und damit Stabilität, Wohlstand und Demokratie in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu fördern. Davon profitieren am Ende alle.

Können diese vier Fragen auch generell als Leitlinie für Entscheidungen in der Politik dienen?

Absolut! Die Vier-Fragen-Probe ist nicht nur für uns Rotarier ein Wegweiser zum richtigen Denken und Handeln, sondern kann auch in der Politik eine wertvolle Stütze beim Treffen von Entscheidungen sein.

Das Gespräch führte Hubert Nowak.

Alexander Schallenberg

Magister Alexander Schallenberg, LL.M, RC Wien-Ring, geb. 1969, studierte Rechtswissenschaften in Wien, Paris und Brügge. Als Diplomat unter anderem für Österreich in Brüssel tätig, später im Außenministerium in Wien. 2019 erstmals Außenminister, 2021 für zwei Monate Bundeskanzler, seither wieder Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich.

<small><em>Copyright: BMEIA/Gruber</em></small>

www.bmeia.gv.at/ministerium