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Titelthema

Der Westen auf der Suche nach seiner Zukunft

Titelthema - Der Westen auf der Suche nach seiner Zukunft
Auf dem Gipfel in London fanden die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedstaaten alte und neue Gemeinsamkeiten. © Dan Kitwood/Getty Images

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar stehen Nato und EU im Zentrum der Debatte.

Peter Köpf und Lutz Lichtenberger01.01.2020

Es gab eine Zeit, da schien die Geschichte zu enden und die Zukunft zu beginnen. Der demokratische und kapitalistische Westen hatte Kommunismus und Planwirtschaft niedergerungen, auch durch das Wettrüsten, das der Sowjetunion nicht gut bekommen war. Der Kampf der Systeme war entschieden, und so schien auch die Zeit der Kriege vorüber zu sein. Schon stand hin und wieder die Frage im Raum, ob die North Atlantic Treaty Organization (Nato) überhaupt noch nötig sei, wo doch die Sowjetunion und der Ostblock sich aufgelöst hatten. Und wenn schon, sollte die Allianz dann nicht Russland einbinden und gemeinsam auch gleich eine gigantische Freihandelszone und eine „harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok“ schaffen, wie es Wladimir Putin formulierte, einen „gemeinsamen Kontinentalmarkt“? Die Welt schien dafür bereit zu sein und alles möglich: Kooperation statt Konfrontation, Demokratie und Frieden, vielleicht sogar „one world“?

Russland spielt seine alte Rolle
Tempi passati. Für die USA blieb die Russländische Föderation, was die Sowjetunion gewesen war: das Feindbild. Gleichzeitig galt Moskau nicht mehr als satisfaktionsfähig, weshalb die von den USA geführte Nato die Gelegenheit nutzte, ihren Machtbereich nach Osten auszudehnen. Auch die EU nahm, was ihr in den Schoß fiel.

Die aufgestaute Wut brach sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2007 Bahn, als Putin über die „monopolare Weltherrschaft“ der USA und „ungezügelte Militäranwendung“ der Nato wetterte, die „ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten“ hätten. Nato und EU drückten anderen Ländern gewaltsam ihren Willen auf und rückten ihre militärische Infrastruktur „bis an unsere Grenzen“ vor. Putin will sich nicht mehr bevormunden und als „Regionalmacht“ (Barack Obama im März 2014) herum schubsen lassen. Schließlich schickte er seine Berater auf die Krim und in die Ost-Ukraine. Längst hat die Nato wieder einen Gegner an seiner östlichen Grenze.

Das erschreckt die Osteuropäer. Sie hatten sich, gerade dem Kommunismus entkommen, „dem Westen“ an den Hals geworfen. Doch bald sahen sie, dass die bedingungslose Nachahmung nur geringe Rendite erzielte. Der Widerstand gegen den Zeitgeist der Globalisierung wuchs, in dem die Menschen für den Markt da sind, nicht der Markt für die Menschen. Das liberale Versprechen hat nicht gehalten, inzwischen haben die Leuchtfeuer der Zukunft, die westliche Demokratie und die Moderne, in ganz Osteuropa an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev berichtet schmerzlich über „das Licht, das erlosch“ und eine „Europadämmerung“.

Auch der afrikanische Krastev, der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr, will nicht weiter „universalisieren“, was im Westen seinen Ursprung habe und dem die afrikanischen Eliten „verfallen“. Er will „den Wettlauf verweigern“ und den Kontinent „von allem befreien, was den Menschen erniedrigt, seine Kraft und Kreativität auslöscht, ihn mit Haut und Haar den monströsen Strukturen einer erbarmungslosen globalen Wirtschaftsordnung ausliefert; stattdessen will er abstreifen, was Afrika von der Europäern übernommen hat, er strebt Autonomie an und will ein „Afrotopia“ entwickeln. Darüber kann man immerhin einmal nachdenken.

Mit der liberalen Gesellschaft steht auch das transatlantische Verteidigungsbündnis erneut zur Disposition, aber aus anderen Gründen als 1990. Sogar ein deutscher Historiker stellt die Frage, ob wir die Nato und die EU überhaupt noch brauchen. Gregor Schöllgen will die „anachronistischen Monstren“ auflösen, EU und Nato, sie seien nur noch eine „Reminiszenz an ein abgeschlossenes Kapitel der Weltpolitik“. Es brauche, so Schöllgen in Essays in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in The German Times, einen Neuanfang.

Wieso das? Weil EU und Nato nicht mehr funktionieren, sie keine gemeinsamen Lösungen für die Probleme der Zeit finden. Bei der Aufnahme der Flüchtlinge zeigten die meisten EU-Staaten ein erschreckendes Maß an Egoismus und Abschottung, auch beim Klima ist allen das ökonomische Hemd näher als die humanitäre Hose. Die Briten verlassen die EU, der US-Präsident sagte schon einmal, die Nato sei „obsolet“.

Kann Europa sich selbst verteidigen?
Seither geistert das Schreckgespenst durch die sicherheitspolitische Debatte: Könnten die USA aus der Allianz austreten und all ihre Waffen mitnehmen, einschließlich der Atomraketen? Der Kongress hat derartigen Überlegungen vor einem Jahr mit dem Nato Support Act einen Riegel vorgeschoben (Repräsentantenhaus 357:22 Stimmen, Senat: 97:2), im Jahr 2020 wird Defender-Europe 20 das größte Übungskontingent amerikanischer Soldaten seit 25 Jahren aus den USA nach Europa führen. Und die Ramstein Airbase wird ausgebaut. Das sieht nicht nach Rückzug aus.

Aber man wird ja mal ein Szenario entwerfen dürfen. Was bedeutete ein „syrischer Abgang“ der USA in Europa für dessen Sicherheit? Könnte Europa sich selbst verteidigen? Auch wenn Russlands Verteidigungsausgaben lediglich denen von Frankreich entsprechen, seine Mittelstreckenraketen könnten das Herz Europas erreichen. Und schließlich: Welcher europäische Mitgliedstaat würde ohne die USA die Beistandspflicht gegenüber – zum Beispiel – dem Baltikum garantieren? Solche Überlegungen lösen dort und in Polen Zähneklappern aus. Dort sehen zwar Mehrheiten die EU kritisch, aber die Idee, sich von der Nato abzuwenden oder ihre Existenz anzuzweifeln, käme niemandem in den Sinn.

Der Nato größter Feind scheint derzeit sie selbst zu sein – oder einige ihrer Mitglieder. Recep Tayyip Erdogan ordert Raketenabwehrsysteme in Moskau, reklamiert ein Recht der Türkei auf Atomwaffen und ist völkerrechtswidrig in Syrien eingefallen, wodurch auch französische Soldaten zwischen alle Fronten gerieten. Und Europa fehlt ein verlässlicher Partner auf der anderen Seite des Atlantiks.

Die USA entscheiden, die Europäer müssen, oft zähneknirschend, zustimmen, auch wenn es gegen ihre Interessen geht: Die US-Regierung interessierte sich schon zu Obamas Zeiten nicht für Europas Ansichten bezüglich der Ukraine, die Diplomatin Victoria Nuland brachte es mit dem Satz „fuck the EU“ auf den Punkt. Obamas Nachfolger kündigte den INF-Vertrag, der die Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen in Europa verbot – auch der letzte Abrüstungsvertrag aus dem vorigen Jahrhundert, New Start, wackelt. Trump beendete das Atomabkommen mit dem Iran, und er zog sich ohne Konsultationen mit den Verbündeten aus Syrien zurück, was Erdogans völkerrechtswidrigen Angriff im Norden ermöglichte.

Mehr Fragen als Antworten
Wer wird für die Kosten des neuen Rüstungswettlaufs aufkommen? Wer wird die Scherben im Iran und in der Ukraine aufkehren? Und wer wird den Kurden helfen, die möglicherweise bald wieder in den Folterkerkern von Assad sitzen? Der amerikanische Präsident handelt nach der Devise „America first“, im Trumpschen Zeitalter, das immerhin noch fünf weitere Jahre dauern könnte, gibt es nur noch Deals, wo früher von Kompromissen die Rede war, und er bevorzugt, auf dem Thron des Mächtigen sitzend, bilaterale Vereinbarungen statt multilaterale.

Jetzt, wo man die Nato vielleicht doch noch gebrauchen könnte, ist sie uneinig. Die Nato muss über ihr Selbstverständnis, ihre Strategie und gemeinsame Ziele diskutieren. Was soll sie leisten? Das will Macron erzwingen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas plädiert dagegen für eine „Reflexionsgruppe“, was klingt wie: Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.

Der Weg zu mehr europäischer Eigenständigkeit ist indes bereits eingeschlagen, allerdings innerhalb der Nato: Mit der Permanent Structured Cooperation (PESCO, Ständige strukturierte Zusammenarbeit) haben vor zwei Jahren 25 EU-Staaten engere Zusammenarbeit und 20 Verpflichtungen vereinbart, inzwischen sind 34 Projekte begonnen, von denen Deutschland sechs koordiniert. Der Grundgedanke lautet beispielhaft: Die EU braucht nicht 17 verschiedene Kampfpanzer; sie braucht mehr Effizienz und Kostenersparnis. Die Haushalte für Verteidigung sollen regelmäßig erhöht, der Rüstungsanteil mittelfristig um ein Fünftel gesteigert werden. Der Einstieg in die europäische Verteidigungsunion außerhalb der Nato ist das freilich nicht, PESCO soll den europäischen Pfeiler in der Allianz stärken. Es geht darum, transatlantisch zu bleiben und europäischer zu werden.

Die Krisen der Nato und der EU werden im Mittelpunkt stehen, wenn sich mehr als 500 Experten aus Politik, Wissenschaft und Militär Mitte Februar im Bayerischen Hof in München zur 56. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) treffen. Der Ausdehnungsdrang Chinas wird ebenfalls Thema sein, noch mehr Russland. Soll die westliche Welt Putin mit der Peitsche begegnen oder mit Zuckerbrot? Verbietet es sich, wegen der Morde an Regimekritikern und -gegnern in Russland und möglicherweise auch in London und Berlin Putin anzuhören, der Baltikum und Polen, Ukraine und Georgien zusammenzählt und unterm Strich sein Land von einer aggressiven Nato eingekreist sieht?

Die MSC wird sich auch mit dem Terrorismus befassen, da hat Macron recht, der sich gegen die Islamisten auch im eigenen Land wehren muss. Deutschland wird sich bereit erklären, mehr Geld fürs Militär auszugeben, um „als Land unserer Größe und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft“ die eigenen „globalen Interessen“ verteidigen zu können, statt „einfach nur am Rande (zu) stehen und zuschauen“, so die CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Aber was heißt es, Europa müsse „weltpolitikfähig“ (Jean-Claude Juncker auf der MSC 2018) werden, die „Sprache der Macht“ (Ursula von der Leyen) lernen und weltpolitisch mehr Einfluss zu gewinnen? Auf der MSC wird darüber gesprochen.

Eine eigene Sektion wird sich mit den Gefahren aus dem Cyberspace sowie Künstlicher Intelligenz beschäftigen, auch mit den neuen autonomen Waffensystemen. Aber die MSC ist längst nicht mehr die Wehrkundetagung, auf der neben Politikern Militärs und Waffenfabrikanten das Wort führten und Demonstranten von der Polizei eingekesselt wurden. Es gibt Foren für Klimaschutz und Menschenrechte, weil Trockenheit und staatliche Willkür Fluchtbewegungen erzeugen, die längst ein Sicherheitsthema geworden sind.

Doch die große Show, das was auf den Bühnen geschieht und im Fernsehen und Internet übertragen wird, „ist das Unwichtigste“, so Oliver Rolofs, Sprecher der MSC von 2009 bis 2016. Viel entscheidender für die Lösung der Konflikte der Welt ist die Pendeldiplomatie zwischen den Suiten des Bayerischen Hofs. Hinter den Kulissen ist es möglich, dass Politiker verfeindeter Staaten informell verhandeln, auf neutralem Boden. „Im Bayerischen Hof ist es so eng, da kann man sich gar nicht aus dem Weg gehen“, sagt Rolofs. Deshalb komme es dort immer wieder zu „Munich Moments“.

Konfrontation und Annährung
Joe Biden wandte sich nach langem transatlantischen Hickhack wieder den Europäern zu und verhandelte 2009 in Hinterzimmern erstmals mit russischen Kollegen über den neuen Rüstungskontrollvertrag New Start; 2011 wurden dort auch die Ratifizierungsurkunden ausgetauscht. In München trafen sich heimlich Politiker aus Transnistrien und Moldau, öffentlich schüttelten sich 2010 der israelische Vize-Außenminister Danny Ayalon und der ehemalige saudische Geheimdienstchef Prinz Turki al Faisal die Hand. Vitali Klitschko konfrontierte den ukrainischen Außenminister Leonid Koschara 2014 auf offener Bühne und vor laufenden Fernsehkameras mit Bildern von schwer verletzten Maidan-Demonstranten. Und immer wieder haben in München auch Iraner und US-Amerikaner miteinander geredet.

Munich Moments – vielleicht gibt es ja wieder welche. Die Welt kann sie gebrauchen.

Peter Köpf und  Lutz Lichtenberger
Peter Köpf (links) ist Chefredakteur der im Times Media Verlag erscheinenden Zeitungen, darunter The Security Times. Er ist Autor mehrerer Biografien und politischer Sachbücher, zuletzt gemeinsam mit Franziska Schreiber: "Inside AfD. Der Bericht einer Aussteigerin", Europa Verlag 2017.

times-media.de
Lutz Lichtenberger (rechts) ist Senior Editor der im Times Media Verlag erscheinenden Zeitungen, darunter The Security Times. Er schrieb Beiträge für die Süddeutsche Zeitung und die Berliner Zeitung und ist Dozent an der Universität der Künste Berlin.

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