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Des Volkes neue Stimmen

Titelthema - Des Volkes neue Stimmen
"Wir sind als Partei groß geworden gegen bestimmte Fehlentwicklungen." Alexander Gauland im ZDF-Sommerinterview 2018 © Florian Gaertner/Photothek via Getty Images

Immer wieder brachten Bürgerbewegungen neue Impulse und sogar neue Parteien hervor. Doch nun versucht die Zivilgesellschaft immer stärker, Einfluss über „direkte Demokratie“ zu erlangen.

Ansgar Klein01.05.2021

Die jetzt ihrem Ende zugehende Ära von Angela Merkel als Bundeskanzlerin (seit 2005) war geprägt insbesondere von großen Koalitionen mit der anderen Volkspartei, der SPD. Und von starken Entscheidungen der Kanzlerin jenseits bestehender klarer Mehrheiten in der Union: Dies trifft etwa auf die Abschaltung der Atomkraftwerke nach dem Unglück in Fukushima zu, aber auch auf die deutsche Reaktion in der Flüchtlingskrise 2015. Die Dominanz der Kanzlerin hatte sich schrittweise in Auseinandersetzung mit innerparteilichen Konkurrenten entwickelt, und die Entscheidungen der Kanzlerin haben nicht zuletzt auch dazu beigetragen, dass im Protest etwa gegen die Flüchtlingsaufnahme sich Akteure eines dynamischen Rechtspopulismus stark entwickelt haben. CDU und CSU machen jetzt – wie die SPD schon früher mit den Grünen und den Linken – die Erfahrung, dass Teile der vermeintlichen Kernwählerschaft Angebote rechtspopulistischer Akteure den eigenen Angeboten vorziehen.

Erosion der Volksparteien

Und jetzt, kurz vor einer neuen Bundestagswahl, wird deutlich: Die Rolle der Union als Volkspartei erodiert – wie schon lange vorher bei der SPD zu sehen war. Die Grünen haben in Baden-Württemberg diese frühere Rolle der CDU mittlerweile erobert und stellen seit 2011 in wechselnden Koalitionen bereits zum dritten Mal einen grünen Ministerpräsidenten, der auch aus dem konservativen Lager deutliche Unterstützung erhält. Im Superwahljahr 2021 sind daher in Bund und Ländern ganz neue Konstellationen der Regierungsbildung vorstellbar geworden. Die deutsche Parteienlandschaft befindet sich in einer tief greifenden Umgestaltung, und die Dynamik neuer Beteiligungsansprüche und -formate ist nicht zu übersehen.

Der Einfluss sozialer Bewegungen hat seit der Arbeiterbewegung die Entstehung von Parteien einer repräsentativen Demokratie geprägt. Ohne sie keine SPD, aber auch keine kommunistische Partei. Die nationalsozialistische Bewegung hat dann den Zusammenbruch der repräsentativen Demokratie und die folgende Herrschaft des Nationalsozialismus ermöglicht.

Vor diesem Hintergrund versteht sich die deutsche Demokratie seit dem Grundgesetz als demokratischer Rechtsstaat, der auf dem unwandelbaren Fundament von Menschenrechten beruht. Die sozialen Bewegungen in der alten Bundesrepublik ab den 1970er Jahren (vor allem zu den Themen Umwelt, Frieden, Solidarität) waren ihrerseits, anders als noch die vorangegangene Studentenbewegung, nicht mehr orientiert an einem Systemwandel, sondern an demokratischen Reformen. Die Bürgerbewegung der untergehenden DDR hat maßgeblich zur deutschen Einheit und auch zur demokratischen Entwicklung beigetragen. Diese demokratische Wertebindung der zivilgesellschaftlichen Akteure änderte sich erst mit aufkommenden rechten sozialen Bewegungen.

Parteien und soziale Bewegungen haben stets verschiedene Formen der Kooperation praktiziert. Eine der spektakulärsten waren sicher die Runden Tische im Kontext der deutschen Einheit, bei denen Akteure der Bürgerbewegung wichtige Rollen einnahmen. Doch aus Bewegungen entstehen bis heute auch neue Parteien – dies galt in Westdeutschland für die Grünen in den 1980er Jahren, und es gilt auch für die AfD mit ihren zahlreichen Verzweigungen auch in rechte Milieus, Bewegungen und Organisationen.

In der Kanzlerschaft von Angela Merkel hat diese sich oftmals auf mobilisierungsstarke soziale Bewegungen und die Zivilgesellschaft verlassen können. Dies gilt für die Umweltverbände bei der Entscheidung der Kanzlerin nach dem GAU in Fukushima, die Atomkraft in Deutschland auslaufen zu lassen. Dies gilt auch für die enorme Mobilisierung der Flüchtlingshilfe seitens der Zivilgesellschaft 2015. Und es gilt mit Blick auf eine Priorisierung des Klimaschutzes auch für Fridays for Future.

Register für Lobbyismus nötig

Wie aktuelle Korruptionsskandale um Abgeordnete der Union im Zusammenhang mit der Beschaffung von Coronamasken deutlich machen, ist ein Transparenzregister für den parlamentarischen Raum dringend nötig. Der intransparente Einfluss eines partikular interessierten Lobbyismus auf die Politik reicht oft bis in einzelne Formulierungen von Gesetzentwürfen. Und es haben sich mit Akteuren – von der Wirtschaft über einzelne einflussreiche Interessengruppen bis hin zu den Wohlfahrtsverbänden – vor dem Hintergrund engster Kooperationen und gemeinsamer Interessenlagen schon lange informelle und einflussreiche Geflechte der Abstimmung entwickelt. Die Einflussnahme zahlreicher Lobbyisten, die in Bundestag und Ministerien ein- und ausgehen, ist vielfältig. Erst langsam wächst die Transparenz. Die Unionsfraktion hat erst nach den jüngsten Skandalen ihren Widerstand gegen ein solches Lobbyregister für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags aufgegeben.

Transparent sein müssen freilich auch Akteure der Zivilgesellschaft. Sie haben Ansprüche auf mehr Beteiligung auch an politischen Willensbildungsprozessen angemeldet. Zivilgesellschaftliche Interessenvertretungen für Menschenrechte und soziale Rechte, für Gender-Gerechtigkeit, für Vielfalt oder auch für die Förderung von Engagement und Teilhabe unterstützen als „Public Interest“-Lobbyisten eine solche Transparenz.

Ambivalenz der direkten Demokratie

Formate der direkten Demokratie sind in den Bundesländern nach der deutschen Einheit mittlerweile beinahe flächendeckend realisiert. Ihre Etablierung auf Bundesebene hat in dieser Legislaturperiode auch die AfD gefordert. Sie schlug die Einrichtung einer Enquete-Kommission zu direkter Demokratie auf Bundesebene vor und reichte zugleich einen eigenen Gesetzentwurf ein, nachdem einige Hunderttausend Voten den Bundestag zur Befassung eines Themas veranlassen können.

Erkennbar wird hier die Absicht, das Instrument der direkten Demokratie politisch zur Mobilisierung von „Wutbürgern“ gegen die politische Klasse zu nutzen. Das Instrument der direkten Demokratie auf Bundesebene ist daher mit all seinen Ambivalenzen zu bewerten. Immerhin wären in Deutschland – anders als etwa in der Schweiz – Volksbegehren zu Themen, die im Grundgesetz in den ersten 20 Artikeln als Wertesockel festgeschrieben sind (etwa zur Todesstrafe), nicht möglich.

Engagement- und Demokratiepolitik

Die Entstehung der jungen Politikfelder der Engagement- und Demokratiepolitik hat wesentliche Anstöße bekommen durch die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages.

Diese hatte noch in der Amtszeit des von einer rot-grünen Koalition getragenen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Jahr 2002 ihre Befunde und Handlungsempfehlungen abgegeben.

Seit den Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission hat sich unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel in den jungen und fragilen neuen Politikfeldern der Engagement- und Demokratiepolitik wie auch im Umgang mit unzivilen Akteuren in den zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen einiges getan. Der Umgang von Angela Merkel mit der Flüchtlingskrise war aus Sicht der Zivilgesellschaft durch ein geteiltes Verständnis von Menschenrechten getragen.

Angst vor linken Strömungen

Doch bleibt der Aufbau der neuen Politikfelder unvollendet – insbesondere eine Strukturförderkompetenz des Bundes für Engagement und Teilhabe ist erforderlich, um flächendeckend nachhaltige und kompetente zivilgesellschaftliche Infrastrukturen und Netzwerke zu ermöglichen und dabei der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation strukturell den Vorrang in der staatlichen Förderpolitik zu lassen.

Das von den Bundesfamilienministerinnen Schwesig und Giffey vorgeschlagene „Demokratiefördergesetz“ sollte laut Empfehlung des Kabinettsausschusses „Rechtsextremismus und Prävention“ der Bundesregierung über den Aufbau gemeinsamer Eckpunkte durch das Innen- und das Familienministerium vorbereitet werden. Die Unionsfraktion hat dagegen jedoch mittlerweile – aus Angst vor einer Stärkung „linker“ Akteure – ihr Veto eingereicht, sodass das Vorhaben in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt wird.

Ansgar Klein

PD Dr. Ansgar Klein ist seit 2002 Gründungsgeschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE), Publizist und Privatdozent für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.