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Gedanken zur Zukunft des politischen Liberalismus

Deutschland braucht die Kraft der Freiheit

Wolfgang Gerhardt03.06.2011

Bei der Bundestagswahl 2009 hat jeder siebte Wähler seine Stimme für die FDP abgegeben und die Liberalen mit der Regierungsbildung gemeinsam mit der CDU/CSU beauftragt. Nimmt man die Landtagswahlen der Jahre 2010 und der ersten Hälfte von 2011 und die aktuellen Umfragetrends als Maßstab, so sind die Glückwunschsträuße und Ehrenkränze inzwischen verwelkt. Die Ergebnisse der Wahlen 2011 waren für die FDP ernüchternd. Die Ereignisse in Japan und Libyen wurden – zu Recht – als vordergründige Ursachen für die Ausgänge der Wahlen im März genommen. Das liegt auch nahe, aber allein reicht es nicht aus, um das enttäuschende Abschneiden der FDP zu erklären. Die Liberalen haben seit geraumer Zeit Vertrauen, Ansehen und Sympathie verloren. Liberale Politik war in vielen Fällen rein reaktiv in nahezu allen großen Herausforderungen. Die FDP hat es nicht geschafft, überzeugende Problemlösungen nachhaltig zu vertreten, geschweige denn eigene Überzeugungen zu kommunizieren. Nimmt man Umfragezahlen als Faktum, so haben sich zwei Drittel der FDP-Wähler von 2009 von der Partei abgewandt; inzwischen erklärt nur noch jeder 20. Wähler, seine Stimme den Liberalen geben zu wollen. Wir stehen vor existentiellen Fragen über die Zukunft der Partei des politischen Liberalismus. Die anstehenden Personalfragen hat die FDP vor und auf ihrem Bundesparteitag Mitte Mai in Rostock überzeugend beantwortet. Die Kommentare in den Medien zum Wechsel im Amt des FDP-Bundesvorsitzenden und die Reaktionen auf die Auftritte der neuen Parteispitze beim Parteitag und im Umfeld waren außerordentlich positiv. Der Wechsel von Rainer Brüderle an die Spitze der FDP-Bundestagsfraktion wurde ebenso positiv bewertet. Daniel Bahr hat als neuer Bundesgesundheitsminister schon in seinen ersten Tagen im Amt Gestaltungswillen und Durchsetzungsfähigkeit gezeigt. Die personellen Grundlagen für eine breitere Akzeptanz der FDP sind gelegt. Jetzt kommt es darauf an, den Menschen die inhaltlichen Aussagen und Positionen der FDP in ganzer Breite wieder näher zu bringen und sie von der Tragkraft liberaler Problemlösungsvorschläge zu überzeugen. Das, was bisher von FDP-Generalsekretär Christian Lindner dazu zu lesen ist – „Wo wollen wir hin? Welchem inneren Kompass folgen wir? Wie gestalten wir Markt, Staat und Gesellschaft?“ –, zielt in die richtige Richtung. Eine Partei wird für das Alltagsgeschäft in vielen Bereichen die Fragen beantworten, die beantwortet werden müssen, um Sozialpolitik, Bildungspolitik, Umweltpolitik, Wirtschaftspolitik oder Außenpolitik interessierten Mitbürgern fachlich-sachlich erläutern zu können. Bei der Beschäftigung mit den alltäglichen Aufgaben von Politik unterliegt das Ganze aber auch immer gewissen Verfallsdaten, und es droht Materialermüdung angesichts der hohen Beanspruchung des argumentativen Werkzeugs in der täglichen politischen Auseinandersetzung. Worauf es jetzt ankommt, und was jetzt zu tun ist, ist nicht ein Beipackzettel für das Alltagsgeschäft. Es muss für einen politischen Liberalismus, der den Anspruch erhebt, die freiheitliche Bürgergesellschaft zu gestalten, um die Markenpflege des jeweiligen Politikentwurfs, in diesem Fall um die innere Philosophie des freiheitlichen Politikentwurfs gehen. Was und wie sollen die Bürger von uns denken, worauf wollen wir hinaus – diese Fragen gilt es zu beantworten. Diese innere Philosophie stellt vor allem den Freiheitsbegriff in den Vordergrund – obwohl, vielleicht sogar gerade weil Freiheit in Deutschland nicht unbedingt ein Mehrheitsprogramm ist, sondern Paternalismus, Staatsinterventionismus und kollektive Lösungen vorherrschen. Der Prozess, in dem wir uns jetzt befinden und die Schwierigkeiten, mit denen wir es zu tun haben, das sind nicht nur Schwierigkeiten der Ökonomie. Entscheidend sind unsere eigenen Schieflagen im Denken. Es fehlt die Bereitschaft, zwischen Aufrechterhaltung eines universellen Versorgungsanspruchs und eigener Verantwortung, zum Erhalt der Freiheit neu zu disponieren. Die Unkenntnis über wirtschaftliche Zusammenhänge ist hierzulande erschreckend und die geschmäcklerische Ablehnung der Marktwirtschaft, deren Annehmlichkeiten sich viele gerne gefallen lassen, ist geradezu Pflicht, wenn man als intellektuell anspruchsvoll gelten will. Die Marktwirtschaft hatte ihren kulturellen Boden in Deutschland schon verloren, bevor sich das ereignete, was wir als Finanzmarktkrise bezeichnen. Wettbewerb war fast schon zu einem kontaminierten Wort geworden.

Keine Beliebigkeit

Es gilt, Freiheit und Bürgergesellschaft mehr als bisher in Verbindung zueinander zu bringen. Die Verwirklichung von Freiheit in der Bürgergesellschaft zielt nicht auf eine reine Sphäre der individuellen ökonomischen Zwecktätigkeit oder einen entpolitisierten Raum der hedonistischen Selbstverwirklichung. Freiheit in der Bürgergesellschaft konstituiert sich in individuellen Chancen und sozialen Bindungen und Verpflichtungen. Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit. Es geht ihr um Werte. Freiheitliche Politik ist der Würde des Menschen, den Menschenrechten, den Bürgerrechten, dem Rechtsstaat, der Chancengerechtigkeit, der freien Wirtschaftsordnung, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und dem Frieden verpflichtet. Hier liegt der Markenkern liberaler Politik. Den Menschen ist es überall dort, wo Wettbewerb und Markt aus politischen Gründen ausgeschaltet worden sind, nicht besser gegangen. Marktwirtschaft ist ein einzigartiges Entmächtigungsprogramm gegen die Herausbildung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Sie ist kein kaltes Projekt. Sie ist und bleibt die Wirtschaftsordnung einer Demokratie. Die Marktwirtschaft muss kulturell und nicht nur ökonomisch verankert werden. Freie Gesellschaften müssen dabei auch eine Kultur des Umgangs mit Unterschieden und Ungleichheiten entwickeln, wenn sie Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben wollen. Gerechtigkeit braucht einen sozialen Maßstab. Die Systeme der pauschalen Abbuchung, der undifferenzierten Zuteilung und der nebulösen Kostenentwicklung müssen reformiert werden. Deutschland hat zu viele ungedeckte Schecks zulasten derer auf die Zukunft verteilt, die im aktuellen Entscheidungsprozess noch gar keine Stimme haben. Es geht um einen Wandel in den Köpfen – von der Versorgung zu Teilhabechancen und Teilhabegerechtigkeit. Alles beginnt mit dem Willen zum Lernen. Das Bürgerrecht auf Bildung gehört seit Ralf Dahrendorf zu den modernen Civil Rights. Es muss das Garantieversprechen eines freiheitlichen Staates sein und bleiben. Es darf aber durch die, denen man es anbietet, nicht vergeudet werden. Das Leben verlangt ein komplexes Ensemble von Fähigkeiten. Originalität, Risikobereitschaft, Neugier und Phantasie, Einfallsreichtum, Mut zur Unbefangenheit, Kreativität und soziale Kompetenz, Konfliktfähigkeit und Teamfähigkeit, wertorientiertes und zugleich problemlösendes Denken, all das entwickelt sich nicht automatisch. Es wächst aus einer Kultur des Lernens.

Spontaneität vor Ordnung

Freiheitliche Politik ist nötiger denn je. Sie ist die Botschaft der Menschenrechte, des Humanismus und die Politik für eine verantwortungsbewusste Gesellschaft. Sie weiß, dass Demokratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf. Dass Wohlstand mit Anstrengungen verbunden ist und Marktwirtschaft faire Spielregeln haben muss. Dass die Würde des Menschen nicht verletzt werden darf. Dass neues Denken Courage erfordert und Stagnation jegliche Kreativität zerstören kann. Freiheitliche Politik ist nie perfekt, aber besser als alle Gesellschaftsentwürfe, die die Spontaneität zugunsten einer sakrosankten Ordnung unterdrücken.

Die FDP muss sich nicht neu erfinden. Sie muss ein Bild prägen. Wie sie vom Bürger verstanden werden will – darauf kommt es an. Deshalb sollte ein neues Programm kein Beipackzettel für die Tagespolitik sein. Es geht nicht um die Aneinanderreihung von Zielen eines Wahlprogramms. Es geht um ein gutes Stück innerer Philosophie eines freiheitlichen Politikangebots. Es geht darum, die Kraft der Freiheit zum Wohle des Landes einzusetzen.

Wolfgang Gerhardt
Dr. Wolfgang Gerhardt war von 1995 bis 2001 Bundesvorsitzender der FDP. Seit 2006 Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 2008 erschien "Die Kraft der Freiheit. Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Liberalismus" (Hohenheim) www.wolfgang-gerhardt.de