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Die Botschaft des Berliner Schlosses
Das Berliner Schloss stand und steht nicht für Krieg. Das verraten uns die Figuren und Reliefs an seinen Fassaden.
Die Rekonstruktion des 1950 gesprengten Berliner Schlosses ist vollendet. Berlins jahrhundertealte Bedeutung als Residenzstadt ist wieder sichtbar. Der Bundestag hatte 2002 entschieden, die barocken Fassaden des Berliner Schlosses von Weltformat wieder errichten zu lassen. 750 Meter Fassaden: circa 3000 figürliche Bildhauerarbeiten, 22.000 Sandstein-Werkstücke, 3,5 Millionen Ziegel – alles finanziert mit rund 120 Millionen Euro Spenden.
Den Verantwortlichen der Stadt bereitete der rekonstruierte Teil des Gebäudes aber wenig Freude. Das Geschenk zigtausender Spender wurde isoliert, als wäre es giftig, und mit einer Steinwüste umgeben: Hohenzollern- und Kaisernostalgie, preußischer Militarismus, Ausgangsort von Kriegen, Kolonialismus und Völkermord – dafür stehe das Schloss.
Doch lohnt es sich, die vielgeschmähten Fassaden genauer anzusehen. Wirreden hier von dem Teil, den Andreas Schlüter bis 1706 errichten ließ: die Fassaden der drei Flügel um den Schlüterhof; am Schlossplatz vom Schlüter-Rondell bis zum Portal II, am Lustgarten die Rücklagen um das Portal V. Nach der MünzturmAffäre mit der Entlassung Schlüters als Schlossbaumeister 1706 planten Eosander von Göthe und Martin Heinrich Böhme in seinem Sinne weiter.
Schlüter-Risalit und Gigantomachie
Das Herzstück ist das architektonische Juwel: der Schlüterhof. Er steht an der Stelle des ältesten Innenhofs und war für jeden Bürger bis ins 19. Jahrhundert Durchgang zwischen Schlossplatz und Lustgarten, wie heute wieder. Im Schlüterhof umschloss der Große Risalit – ein Gebäudevorsprung – den Hauptzugang zum Schloss, das Gigantentreppenhaus.
In ihm tobte das große Welttheater: die Gigantomachie, der Kampf der Giganten gegen die Götter – ein antikes Bild: Der Kampf der Mächte des Chaos, der Hybris und der Zwietracht gegen Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden: die Vernunft des Staates. Die Giganten werden besiegt und in den Dienst der Ordnung gezwungen. Darüber schwebte, auf dem Adler thronend, Jupiter, als Bild des Königs, der die genannten Tugenden verwirklichen soll.
Die Frontfiguren
Auf der Außenseite des Risalits setzt sich das vom Hof aus wie auf einer Schaubühne sichtbare Schauspiel fort: Nach ihrem Sieg treten die Akteure vor ihr Publikum. Kunsthistoriker Peter Stephan weist nach, dass die Öffnungen ursprünglich nicht verglast waren. Schlüter schuf sein Meisterwerk – in der völlig stimmigen Verbindung von Architektur und Skulptur. Die Götter und Titanen vor dem klaren Kristall des Gliederbaus geben der strengen Struktur trotz der Kolossalsäulen Leichtigkeit und fast tänzerische Anmut. Und Andreas Schlüter wird zum Michelangelo des Nordens!
Acht Figuren stehen hoch über dem Hof und bewirken diese Dynamik. Die sechs auf der dem Hof zugewandten Hauptseite scheinen in Drehung begriffen, jede in einem anderen Status, jede Figur ist einem Nachbarn zugewandt, jede hat das rechte Bein als Standbein und Drehpunkt, sodass von Figur zu Figur wie eine Botschaft eine fortlaufende Bewegungslinie entsteht. Diese geht aus von der Figur an der südlichen Schmalseite, der Pax, dem Frieden mit dem Palmzweig. Der in Drehung zur westlichen Breitseite des Risalits begriffene Merkur, Götterbote und Gott des Handels, gibt die Botschaft des Friedens weiter an Herkules, den Sieger der Gigantomachie –nur durch einen Sterblichen konnten die Giganten besiegt werden. Von ihm geht sie weiter an Meleager, der hier für den Umgang mit der Natur steht; von ihm zu Antinous als Verkörperung der Schönheit; dann nimmt sie Poseidon auf, er steht für die Seefahrt, von ihm zu Apollon mit der Leier, dem Gott der Künste; und dieser gibt schließlich die Friedensbotschaft elegant zur letzten Figur, der Borussia – Allegorie des Königreichs Preußen –, die an der nördlichen Schmalseite zum Thronsaal ausgerichtet ist. Ordnung, Gewerbe, Natur, Kunst und Wissenschaft werden an den Frieden gebunden.
Auch auf Flugblättern von 1648 ist Merkur der Friedensbote. Die Figur der Borussia gestaltete Schlüter nach dem Vorbild Berninis Grabfigur der Mathilde von Tuszien im Petersdom in Rom – jener Mathilde, die 1077 den Gang nach Canossa vermittelte und damit für Frieden stehen kann. Die Gigantomachie und die Figuren davor gehören zusammen, der Risalit war ja unverglast: Die Vollendung der Fassaden erfordert im Sinne des Bauherrn und des Bundestagsbeschlusses die Rekonstruktion der Gigantentreppe.
Die Fassaden als Königsmantel
An den Schlossfassaden Schlüters fallen in den Abständen der senkrechten Fensterachsen Unregelmäßigkeiten auf: Das neue Schloss des neuen Königs – ohne die Gebäude an der Spree – war in Wirklichkeit eine Ummantelung des alten kurfürstlichen Renaissanceschlosses: Hinter den barocken Fassaden lagen noch die altbewohnten Räume und Flure. 1701 krönte sich Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg mit Erlaubnis des Kaisers in Königsberg zum König Friedrich I. in Preußen. Seit 1698 wurde gebaut, die Zeit war knapp.
Schlüter nützte die seltsame Situation. Er erinnert mit der Ummantelung des alten Schlosses nach Peter Stephan an den Mantel, der Friedrich bei der Krönung umgelegt wurde. So erklärt sich die Reihe von 40 Adlern am höchsten Ort der Fassaden: Sie gleichen formal Differenzen der unterschiedlich breiten Fensterachsen aus – Adler an Adler wie die Glieder einer Kette: die Ordenskette, Collane, des Schwarzen Adlerordens, die aus Adlern gebildet ist und die der König über dem Krönungsmantel trug. Der Schwarze Adlerorden geht zurück auf den Deutschen Ritterorden, dessen Erben im Osten als Herzöge in Preußen die Hohenzollern waren. Die Beschwörung des Staates im Schmuck der Fassaden führt uns zurück zur staatsbildenden Gigantomachie und dem Auftrag an die Sieger, Frieden zu wahren.
Um die Fenster des zweiten Obergeschosses am Schlossplatz und des höher liegenden Halbgeschosses, des Mezzanin, finden sich Widderköpfe, Bukranien, das sind die Schädel von Rindern, und Blumengirlanden. Die Fassaden der Tempel der Antike waren an Festtagen mit den Götter-Opfern geschmückt. Das antike Bild des Göttlichen wird zur Legitimation des Herrschers gebraucht. Ein neues Königreich wurde 1701 geschaffen: Gottesgnadentum ist die Legitimation aller damaligen Herrscher und noch immer Titel heutiger Monarchen in Europa.
Ein klares Leitmotiv
Die Staatsgewalt, Hochrelief in einer Lunette im Portal V, ist eine weibliche Allegorie, die auf einem halbwachen Löwen ruht. Mit einer Hand rafft sie ihr Gewand – sie hat „alles im Griff“! Aber aus der anderen Hand entwendet ihr ein Putto die Keule! Der Staat gründet sich für Friedrich I. nicht auf der Keule, er baut auf Kultur: Mit Gottfried Wilhelm Leibniz gründete er die Akademie der Wissenschaften und mit Schlüter die Akademie der Künste. Die Justitia in der anderen Lunette hat ihr Schwert verhüllt.
Die Bevorzugung der Gewaltlosigkeit bestätigen Reliefs am Innenportal V: Auf einem bändigt eine Frauengestalt einen Löwen, auf dem anderen ein wildes Ross. Der Löwe steht für Macht, das gezähmte Ross für die Selbstbeherrschung – ein Herrscher muss sich bezähmen. Beide „Bändigerinnen“ aber strahlen Sanftmut aus: Die sanfte Gewalt ist der rohen überlegen.
Die acht weiblichen Figuren auf den Innentorrisaliten IV und V – Susanne, Flora und andere – sind meist Kopien und lassen sich keinem programmatischen System zuordnen. Kunsthistoriker Bernd Wolfgang Lindemann denkt an Vorbildfunktionen für Künstler der Akademie. Aber für die Figuren am Großen Risalit, die er auch meint, kann das nicht gelten.
Die Hermen, Träger, die an der dem Lustgarten zugewandten Seite die Balkone der Risaliten IV und V tragen, stellen die vier Jahreszeiten dar, geschaffen von Permoser, dem Meister des Dresdner Zwingers. Sie zeigen den Einklang mit der Natur. Friedrich I. war der erste Vogelschützer: Nachtigallen durften per Gesetz nicht mehr gejagt werden.
Über drei Portalen schweben geflügelte Wesen – es sind die Famen, die mit Trompeten den Ruhm des Herrschers verkünden. Aber eine weicht ab: Sie trägt am zentralsten Ort des Schlosses, am Portal V über dem Thronsaal, dem Zielpunkt der Straße Unter den Linden, den Palmzweig des Friedens und führt zurück zur Pax im Schlüterhof. Eosander schuf im selben Geist ein ähnliches Motiv an der südlichen Kartusche des Westportals.
Friedensschloss?
Friedrich der Große regierte von Potsdam aus. Kaiser Wilhelm II., der hier residierte, wollte ein Friedenskaiser sein und unterschrieb die Mobilmachung 1914 nach Christopher Clark nur unter Druck. Zum Friedenskaiser freilich hatte er weder das diplomatische noch das politische Zeug. Wohl zur Kompensation seiner Verkrüppelung förderte er den preußischen Militarismus. Hitler mied das Schloss – ein Besuch ist nicht nachweisbar.
Auch Friedrich I., der „Schiefe Fritz“, war verkrüppelt, eine Magd hatte ihn als Säugling fallen lassen. Viele denken, die Verkrüppelung sei der Grund für sein Streben nach der Königskrone gewesen. Aber der territoriale Streubesitz der Hohenzollern reichte vom Schweizer Jura bis weit in das Baltikum, ein Gemisch unterschiedlicher Konfessionen, Traditionen, Dialekte und Bräuche: Sein Staat brauchte das Königtum, um bestehen zu können.
Als Bauherr des Absolutismus war er es, der das Programm der Fassaden bestimmte, in Regierungsgeschäften sonst freilich nicht immer ganz glücklich – es war dennoch ein Friedensprogramm: Friedrich I. führte, wie auch die meisten Nachfolger, keinen Krieg. Sein Vorbild war König Salomon, dessen Name er mit Friedrich übersetzte. Die Kuppel, die erst unter König Friedrich Wilhelm IV. bis 1853 als Schlosskirche errichtet wurde, erinnert noch an den Tempel Salomons, vor allem die mit acht Cherubinen und Palmwedeln gestaltete Laterne. Das Berliner Schloss stand und steht nicht für Krieg.
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