Forum
Das Entsetzliche in voller Pracht
Der berühmte Isenheimer Altar, eines der wichtigsten Werke mittelalterlicher Kirchenkunst, erstrahlt in neuem Glanz – und verschlägt dem Betrachter noch immer den Atem.
Seiner Farben wegen ist er vor allem berühmt: der Isenheimer Altar im Museum Unterlinden in Colmar im Elsass, gemalt zwischen 1512 und 1516 von Matthias Grünewald. Sein Auftraggeber war Guido Guersi, der Präzeptor des Antoniterklosters in Isenheim. Nach der vor einigen Wochen vollendeten vierjährigen Restaurierung leuchten die Farben nun klarer und reiner; Details sind deutlicher geworden, manche kamen erst jetzt zum Vorschein. Bei dieser Gelegenheit soll nun Licht auf die Struktur und die wichtigsten Motive des Altars geworfen werden.
Mutterkorn und die Antoniter
Die Geschichte des Isenheimer Altars beginnt mit dem Mutterkorn, jenem schwarzen Pilz, der in der Ähre des Roggens wächst und dessen Verzehr zu grauenhaften Vergiftungen führt. Die Adern verengen sich: Krampfanfälle renken Gelenke aus, Eiterbeulen brechen auf, Glieder werden schwarz und sterben ab: Höllenschmerzen, Fieber, oft Sepsis und Tod. Antoniusfeuer hieß die Seuche, deren Ursache im pilzvergifteten Roggenbrot niemand ahnte.
Hilfe versprach der Orden der Antoniter, der zur Linderung oder wundersamen Heilung der Seuche 1095 gegründet wurde. Der heilige Antonius (gestorben 430) gilt als „Vater des Mönchtums“. Die Väter pflegten die Patienten in Spitälern und wiesen Sterbenden den Weg. Ein solches Spital war das Kloster Isenheim bei Colmar. Die Schau des Altars gehörte zur Therapie.
Retabeln, die Schautafeln großer Altäre, gleichen Bilderbüchern. Wie Bücher haben sie „Seiten“ – umklappbare bemalte Flügel. Elf Tafelbilder trägt der Isenheimer Altar. Je nachdem, welche Flügel zu bestimmten Zeiten und Festtagen geöffnet oder geschlossen sind, ergeben sich drei Schauseiten. Sie bilden die Grundlage unserer Betrachtung. In seiner musealen Aufstellung sind die Zusammenhänge der Flügel weitgehend getrennt: Vorder- und rückseitig bemalt, könnten sonst nicht alle gleichzeitig gezeigt werden.
Schauseite I: Die Kreuzigung
Der Altar mit geschlossenen Flügeln zeigt im Mittelteil die Kreuzigung. Der linke Seitenflügel trägt St. Sebastian, der rechte St. Antonius. Überlebensgroß hängt an roh gebeilten Balken eine Schreckensgestalt, die Lenden von Fetzen umwunden; mit einem ins Unmenschliche verquollenen Gesicht, blauen Lippen, verzerrten Fingern, verrenkten Gliedern, aufgerissenem Fleisch, die Haut voll Dornen der Geißelung, um Kopf und Stirn ein schmerzhaftes Gestrüpp – die Dornenkrone.
Wo sonst Volksmassen sich drängen, begleiten ihn nur drei Menschen – es geht um Konzentration auf den Schmerz und um Identifikation: Seine Mutter Maria sinkt mit gerungenen Händen zurück, aufgefangen von Johannes. Davor kniet Maria Magdalena, die Finger verkrallt. Die Fingerhaltungen, auch die von Jesus, werden zum Ausdruck der Gefühle. Auf der rechten Bildseite weist Johannes der Täufer als Prophet mit überlangem Finger auf den Erlöser.
Vor diese Schauseite des Altars wurden die Patienten nach ihrer Aufnahme als Erstes geführt. Sie erblickten den Gekreuzigten mit ihren eigenen Höllenqualen und mit ihrer Verlassenheit und Verzweiflung. St. Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, scheint die Schmerzen seines Martyriums nicht wahrzunehmen. St. Antonius zeigt sich von dem weiblichen Teufelchen unberührt, das hinter ihm die Butzenscheiben zertrümmert. So machen die beiden auf den Seitenflügeln Mut.
Schauseite II: Die Menschwerdung
Der linke Seitenflügel trägt die Verkündigung Marias: Wie ein rotgoldener Wirbelwind stürmt ein mächtiger Engel in die Kapelle der in einem Buch lesenden Jungfrau. Scheu wendet sie ihr Gesicht ab – hat unter den Lidern aber doch neugierig seitwärts blickende Augen. Ein Hauch von Humor!
Ein Konzert der Engel begleitet links das Madonnenbild des Mittelteils: Ein Engel im regenbogenfarbenen Gewand spielt die Gambe, deren Decke von den Tönen in eine freundliche Physiognomie verwandelt wird. Die musizierende Engelschar geht im Halbdunkel in eine Engelswolke über.
Im beschlossenen Garten, Sinnbild ihrer Unschuld, sitzt Maria mit dem Neugeborenen in den Armen. Königlich gekleidet ist sie in ein prachtvolles rotes Gewand und einen blauen Mantel. Staunend lächelt sie dem Kind zu, dessen Finger einen Rosenkranz umspielen. Hinter ihr steigt ein Gebirge über die Wolken auf zu Gottvater.
Vieles an diesem Weihnachtsbild ist seltsam neu: Es gibt keine Krippe, weder Ochs noch Esel, nicht einmal Josef, nur die Geräte der Geburt. Die Verkündigung der Hirten findet sich, kaum zu erkennen, seitab im Gebirge. Im Konzert der Engel wirkt dissonant eine grün gefiederte Gestalt, oft als gefallener Engel gedeutet. Die Pforte zum Weihnachtsgeschehen überschreitet eine noch nie gesehene gekrönte zarte Frauengestalt, den Kopf umfangen von einer sonnenhaft leuchtenden Gloriole – die Braut des Hohenlieds? Die jungfräuliche Mutter Maria? Ist sie es, die mit gefalteten Händen, halb Engel, halb Mensch, in ihr Leben schreitet? Die Windeln ihres Kindes: Es sind die Lendenfetzen des Gekreuzigten!
Und auf dem rechten Seitenflügel: der Urknall! Im Feuerball schwebt der Auferstehende in einer Explosion von Farben. Ein regenbogenfarbener Nimbus umschließt eine feuerfarbene Kugel, glühend wie flüssiges Metall. Darin zeigt der Erlöser triumphal die im weiten Bogen gehaltenen Arme und Hände mit den Wundmalen: Ostern, Verklärung, Himmelfahrt zugleich – die Göttlichkeit des Erlösers! Seinem Weg folgt das aus dem Grab gezogene Leichentuch. Die sogar auf diesem erscheinenden Regenbogenfarben sind, als Leitfarben der Erlösung, nach der Restaurierung noch deutlicher geworden. Darunter die ohnmächtigen Grabwächter. Das Gesicht des Siegers über den Tod wirkt nicht triumphierend: Den Patienten begegnet kein Sieger, sie sehen die Freude des Erlösers über ihre Erlösung.
Schauseite III: St. Antonius
Der rechte Seitenflügel des Mittelteils trägt den dramatischen Höhepunkt des Altars: Die Versuchung des heiligen Antonius. Auf den im blauen Gewande liegenden weißbärtigen Heiligen bricht herab von einem Felsengebirge ein Höllensturz: Unförmige Leiber, grausige Gesichter, Glotzaugen, Mäuler, Schnäbel, Zähne, Fäuste, Krallen, Prügel, Hörner, Geweihe, Vogelfittiche, Kinnbackenknochen – eine gehörnte Gestalt greift schon in die Haare des Heiligen, wogegen er den Arm ausstreckt. Der wird grafisch zur furchtbaren Verlängerung des Armes eines gelbroten Ungeheuers, als wolle der Heilige selbst Hand an sich legen. Nach seiner anderen Hand hackt der Schnabel eines gezackten Reptils.
Wehrlos auf dem Rücken, scheint der Heilige ausgeliefert – die Bäume oben sind schon verdorrt, die Einsiedelei ist eine von Dämonen umflatterte Ruine. Am linken unteren Bildrand hockt halb nackt ein entenfüßiges Scheusal mit roter Narrenmütze und aufgeblähtem rotgrünem Bauch, bedeckt von den Geschwüren des Antoniusfeuers. Das körperliche Leiden des Gekreuzigten wechselt hier zum seelischen Leiden der Todkranken. Sie, in ihren Schmerzen an Gott verzweifelnd, sind im Begriff, ihr Seelenheil zu verlieren – die psychosomatische Seite der Krankheit. Ein gemalter Zettel unten rechts fragt: „Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum bist du nicht gekommen, meine Wunden zu heilen?“ Doch über dem Unheil thront hoch im Licht Gottvater und hat schon seine Engel gesandt.
Beruhigend wirkt trotz der bedrohlichen Wildnis auch der Besuch des heiligen Antonius beim heiligen Eremiten Paulus auf dem linken Seitenflügel des Mittelteils.
Der Meister
Der Name des Malers Matthias Grünewald ist gängig geworden. Joachim von Sandrart hat ihn 1675 eingeführt, als er verschiedene Gemälde und Zeichnungen zwar korrekt einem bestimmten Meister zuschrieb – darunter auch den Isenheimer Altar –, aber sich wohl in der Person irrte. Der Kunsthistoriker Walther Karl Zülch nahm 1917 den Maler Matthias oder Mathis Gothard Nithard oder Neidhart für das Werk Grünewalds in Anspruch.
Seit den frühen Siebzigern wurde die Namensdiskussion durch den Historiker Hans Jürgen Rieckenberg neu entfacht. Sein Eintreten für den Namen Grünewald wird aber zum Beispiel durch die Bibel des Hans Plogk mit drei eingeklebten Zeichnungen unseres Meisters stark infrage gestellt: Mit ihm hatte Gothard Umgang. Auch die Darstellung des Klosters Rupertsberg im Weihnachtsbild des Altars spricht dagegen. In dessen Nähe war Gothard 1510 an einer „Wasserkunst“ tätig.
Über das Leben des Meisters ist wenig bekannt. Vermutlich wurde er um 1480 in Würzburg geboren. Er war nicht nur Maler, sondern auch Wasserbauingenieur, wie wir heute sagen würden. Als solcher und auch als Maler arbeitete er meist in den Diensten des Kurfürsten und Kardinals von Mainz, Albrecht von Brandenburg, dem Anlassgeber für Luthers 95 Thesen. Der Tod des Meisters in Halle an der Saale wird 1528 von besagtem Hans Plogk nach Mainz gemeldet.
In mehreren Altären oder als Teile von Altären sind 27 Gemälde unseres Meisters erhalten. Dazu kommen einige Zeichnungen. Drei schon damals berühmte Altäre standen im Mainzer Dom. Sie wurden von den Schweden im Dreißigjährigen Krieg weggeführt und gingen mit dem Schiff unter, das sie nach Schweden bringen sollte.
Die Kunst des Altars
Lange Zeit wurde der schon früh hochbewunderte Isenheimer Altar für ein Werk Albrecht Dürers (1471–1528) gehalten. Die meisterhafte Ausführung, die Kunst der Proportion, die Tiefe der Aussage – alles schien dieser Theorie recht zu geben. Die Unterschiede aber sind groß.
Zwar steht der Altar noch in der Welt der Renaissance. Doch während Dürer das Maß sucht, scheint Grünewald oft das Maß zu „verlieren“: Die grotesk fratzenhaften Dämonen der Versuchung, die dissonanten Gestalten, die sich in das Engelskonzert mischen, seine grandiosen Landschaften, die Donauschule vorwegnehmend – und der ins Surreale mündende Blick in die Seele, mit dem er weit in die Zukunft weist. Seine Stuppacher Madonna steht in ihrer künstlerischen Reife und Tiefe völlig auf Augenhöhe mit der ganz gegensätzlichen Sixtinischen Madonna Raffaels in Dresden.
Zu den wichtigsten Vorbildern ist neben Dürer, mit dem er bis 1512 am Heller Altar in Frankfurt beteiligt war, der ihm vorausgehende Vorläufer des Surrealismus Hieronymus Bosch (1450–1516) zu nennen. Auch der Colmarer Meister Martin Schongauer (gestorben 1491) weist mit seiner Versuchung des heiligen Antonius in diese Richtung. Ja, und da ist diese im Gegensatz zum maßvollen Dürer durch die Restaurierung noch deutlicher gewordene übersteigernde Farbgebung Grünewalds.
So erscheint Grünewald „moderner“ als Dürer, in vielem näher an Salvador Dalí. Er wurde zu einem Vorbild der Expressionisten. Paul Hindemith schrieb auf ihn 1935 die Oper Mathis der Maler.
Kaiser Rudolf II. wollte 1597 den Isenheimer Altar erwerben, ebenso der brandenburgische Große Kurfürst 1674. Im Ersten Weltkrieg kam der Altar aus „Sicherheitsgründen“ in die Alte Pinakothek nach München. Er wurde in Deutschland in der Notzeit des Krieges geradezu zum Wallfahrtsziel. Der Vertrag von Versailles von 1919 führte ihn nach Colmar zurück.
Weitere Artikel des Autors
6/2023
Die Botschaft des Berliner Schlosses
6/2018
Lüge oder Bewahrung?
Mehr zum Autor