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Die Bologna-Reform sollte einen einheitlichen europäischen Hochschulraum schaffen. Ein gutes Vierteljahrhundert später fällt die Zwischenbilanz bescheiden aus.

Heike Schmoll01.01.2025

Vor Kurzem hat eine Studentengruppe in Frankfurt, am Gründungsort der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, eine kritische Bilanz der Bologna-Reform vorgelegt. Sie hatte sich schon vor fünf Jahren in einem autonomen Tutorium unter dem Motto „Organisierte Halbbildung“ zusammengefunden. Die Bologna-Reform hat Halbbildung aus ihrer Sicht zum System gemacht. Es meldeten sich kaum Studenten für das Tutorium, was den Veranstaltern wiederum als Beleg für ihre Wahrnehmung diente, dass ohnehin nur gewählt wird, was auch Kreditpunkte im so genannten European Credit Transfer System (ECTS) bringt. Möglicherweise blieb auch im eng getakteten Studienalltag eines Punktesammlers kein Spielraum dafür. Die Initiatoren entschlossen sich deshalb, einen bundesweiten Aufruf zu starten, und baten darum, bilanzierende Texte einzusenden. Der Rücklauf war so groß, dass ein Teil in einem Sammelband veröffentlicht wurde.


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Musterknabe Deutschland

Eigentlich war die Grundidee der Reform, einen europäischen Hochschulraum voller Mobilität und gegenseitiger Anerkennung von Studienleistungen zu schaffen, begeisternd – die Realisierung allerdings ernüchternd. Das begann schon mit einem frühen Missverständnis der deutschen Seite: Obwohl vereinbart worden war, Studiengänge „comparable“ und „compatible“ zu organisieren, meinte Deutschland sich als europäischer Musterknabe hervortun zu müssen und stülpte nahezu jedem Studiengang und jeder Fakultät die Bachelor-Master-Struktur über. Es gibt bis heute Fakultäten, die sich standhaft verweigern: Dazu zählen die Juristen und die Theologen, weitgehend auch die Mediziner. Die Studieninhalte in kleine Häppchen, in sogenannte Module pressen, das mussten sie allerdings auch. In Frankreich sah man es deutlich lockerer. Man behielt weitgehend die „licence“ oder das Diplom als Äquivalente des Bachelors bei, gefolgt von verschiedenen „mastaire“-Abschlüssen (MA) und Diplomabschlüssen und einem möglichen „doctorat“. In Deutschland dagegen opferte man das weltweit renommierte Ingenieurdiplom, um den überinterpretierten Bologna-Strukturen Genüge zu leisten. Doch das war nicht die einzige Fehlentscheidung.

Keine Zeit für Weltliteratur

Die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen im Ausland gelingt auch heute nur dann, wenn es ein Abkommen mit der betreffenden ausländischen Hochschule gibt. Trotzdem hat sich die Zahl der deutschen Studenten an ausländischen Universitäten seit 1999 erhöht. Im Jahr 2021 waren es 137.700, im Jahr 1995 nur 41.600. Grund zur Euphorie ist die Verdopplung der Studentenzahlen (die in den Coronajahren massiv eingebrochen sind) im Ausland allerdings nicht. Denn die amerikanischen, britischen oder französischen Spitzenhochschulen interessieren sich nicht im Geringsten für ECTS-Punkte, die an einer deutschen Hochschule erworben wurden, sondern testen die Interessenten selbst und prüfen, was sie können.

Vor der Einführung der Bologna-Reform gab es durchaus Studentenvertreter, die Gefallen daran fanden, dass ihre Wochenstunden wie die eines Arbeitnehmers berechnet wurden. Sie argumentierten damals wie Gewerkschaftsfunktionäre. Inzwischen ist den meisten klar geworden, dass das technokratische System die Universität zur Fortsetzung des Gymnasiums gemacht und sie enorm verschult hat. Gewiss konnten Studenten vor der Reform sich gerade in den Geisteswissenschaften in den „Orchideenthemen“ bestimmter Ordinarien verlieren, um dann bei Zwischenprüfungen festzustellen, dass ihnen die Grundlagen fehlten. Doch die ließen sich nachholen. Was damals zu viel an Eigensinn möglich gewesen sein mag, wurde nun in ein Abrechnungskorsett der Überbürokratisierung gepresst. Zeit zum Nachdenken, Muße, Lesezeit waren nicht vorgesehen. Sackgassen erst recht nicht. Für die Lehre bleibt das nicht ohne Folgen. Großtexte wie die Odyssee oder Musils Mann ohne Eigenschaften, Madame Bovary oder der Ulysses sprengen das Zeitbudget der Studenten und fielen deshalb weg. Vor allem in den Lehramtsstudiengängen haben sich bestimmte Fächerkombinationen wegen der engen Stundenpläne als nicht studierbar erwiesen. Das gilt an einigen Universitäten vor allem für ein Musikoder Kunststudium in Kombination mit einem Hauptfach wie Mathematik.

Ohne Master kaum praxistauglich

Die sogenannten Akkreditierungsagenturen als Tüv für jeden der Studiengänge, die Unsummen von Geldern verschlingen, haben sich daran offenbar wenig gestört. Schließlich sollte der Bachelor ja „employability“ sichern, also berufsbefähigend sein. In der Praxis allerdings erwies sich auch dieses Ziel als Illusion. Genau jene Wirtschaftsvertreter, die Feuer und Flamme für die BolognaReform waren, weil ihnen die Absolventen zu alt erschienen, klagten nun, dass die BachelorAbsolventen nach einem sechssemestrigen Studium erstens zu unerfahren und zweitens zu jung für verantwortungsvolle Aufgaben in der Wirtschaft waren. Chemiker hatten von Anfang an zu bedenken gegeben, dass ein Chemie-Bachelor im Beruf nicht zu gebrauchen sei, ohne Master gehe gar nichts. Ein Bachelor-Theologe dürfte nicht einmal für die religiöse Unterweisung im Kindergarten reichen.

Der Drang zum Master hat sich in allen Fächern durchgesetzt und zu einer unübersichtlichen Fülle von Master-Studiengängen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen geführt. Immer mehr Universitäten merkten, dass die Voraussetzungen des Bachelors nicht reichten, und begannen, die Bachelor-Studiengänge auf acht Semester zu konzipieren, was für den Master bedeutete, dass er in zwei Semestern abzulegen war. So sinnvoll es war, fachspezifische Konzeptionen zu ermöglichen, so fatal wirkten sich die unterschiedlichen Studienmodelle auf die Mobilität innerhalb Deutschlands aus. Fortan war es nicht einmal mehr möglich, innerhalb des gleichen Bun deslan des oder innerhalb Deutschlands zu wechseln – jedenfalls nicht innerhalb des Bachelor-Studiengangs. Die viel beschworene Internationalisierung führte zu einer nie da gewesenen Provinzialisierung, die den europäischen Hochschulraum des Humanismus mit Latein als Lingua Franca als weltläufig erscheinen lässt.

Die Eltern an der Seite

Wie die Mobilität während des Studiums mit der Verkürzung der Regelstudienzeit zu vereinbaren sein sollte, war schon 1999 zu wenig bedacht worden. Zwar hatte sich die tatsächliche Studiendauer bis zum ersten qualifizierenden Abschluss von 12,7 Semestern im Jahr 2000 auf 8,2 Semester im Jahr 2023 verkürzt. In Studiengängen, die ein Staatsexamen beibehielten, dauerte das Studium allerdings weiterhin knapp zwölf Semester. Im Prüfungsjahr 2023 lag das Alter der Studienabsolventen eines Erststudiums bei 23,6 Jahren, 2013 waren die Hochschulabgänger noch deutlich älter (26,5 Jahre).

Die Verkürzung der Studienzeit und die Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre, die inzwischen in allen Ländern bis auf Baden-Württemberg wieder zurückgenommen wurde, führte dazu, dass Abiturienten häufig nicht volljährig waren und Eltern bei Einschreibungen, Anmietungen von Zimmern et cetera dabei sein mussten. Selbstständiger wurden die Studienanwärter dadurch nicht.

Die Betreuung, von der fortan die Rede war, war alles andere als ideal. Die Anzahl der Professoren hielt nicht mit dem Anstieg der Studenten Schritt. Hinzu kam, dass in Deutschland und anderen europäi schen Ländern versäumt wurde, das Tutoren- und Mentorensystem angelsächsischer Stu diengän ge zu etablieren, das dort entscheidend zum Erfolg beiträgt.

Struktur statt zufällige Begegnungen

Die vermeintlich entfesselte Universität befindet sich seit der Einführung des Bologna-Systems in noch engeren Fesseln. Polemisch diskutiert werden die Auswüchse allerdings schon lange nicht mehr. Die Professoren – einige können der Neuordnung der Studiengänge durchaus etwas abgewinnen – haben die Reform zumeist erst dann wahrgenommen, als sie vor ihrer eigenen Tür angekommen war. Zu den Widerständigsten gehören sie ohnehin nicht. 25 Jahre nach der einschneidendsten Hochschulreform seit Humboldt haben sich alle mit Bologna abgefunden, weil sie wissen, dass die Studiengänge bleiben werden. Bei Studentenbefragungen sind die meisten auch nicht so unzufrieden. Sie kennen die Universität vor dem Bologna-Zeitalter nicht.

Hinzu kommt, dass die deutschen Universitäten vor einschneidenden Sparzwängen stehen, die auch Fakultätsschließungen und regionale Zusammenschlüsse nötig machen werden. Eine Tendenz des Bologna-Studiums hat sich durch die Pandemie-Jahre verstärkt: Die Universität ist längst nicht mehr der Ort der Begegnung über Fach- und Fakultätsgrenzen hinweg, der zufällige Gespräche, gemeinsames Nachdenken und Erkennen fördert. Durch die Digitalisierung der Hochschullehre ist das Präsenzstudium keine Selbstverständlichkeit mehr. Das einsame Pauken im Studierzimmer oder im elterlichen Kinderzimmer kann die Begegnung mit Kommilitonen, die Diskussionen – und seien sie noch so beiläufig – nicht ersetzen. Doch die Freiräume eines studentischen Lebens gehören wohl der Vergangenheit an. Das gilt erst recht für den hohen Anteil von 60 Prozent der Studenten, die während des Studiums arbeiten müssen und auf Teilzeitstudiengänge und einen eng getakteten Rhythmus angewiesen sind.

Heike Schmoll
Dr. Heike Schmoll, RC Berlin, hat Germanistik und evangelische Theologie studiert und ist seit 1989 politische Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie ist verantwortlich für bildungs- und wissenschaftspolitische Berichterstattung und seit 2008 politische Korrespondentin in Berlin.

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