Titelthema
Die Kraft des Dankens
Beim Erntedankfest bringt man seine Freude über die Fülle von Gottes Gaben zum Ausdruck – auf dem Land und in der Stadt.
Dank ist kein Nebenthema der Weltreligionen und auch nicht der biblischen Tradition. Das Geschöpf nimmt sich selbst dankend aus der Hand des Schöpfers an. Es erkennt in den Gaben der Schöpfung die Güte des Schöpfers. Für das Christentum gilt: Die zentrale liturgische Feier, die jeden Sonntag gefeiert wird, ist eine Feier des Dankes. "Eucharistie", übersetzt: Danksagung. Die Gemeinde bringt die Gaben dankend zum Altar. Der Priester nimmt sie und spricht den Lobpreis: "Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt, du schenkst uns das Brot/den Wein, Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit. Wir bringen diese Gaben vor dein Angesicht, damit sie uns zum Brot des Lebens und zum Kelch des Heils werden."
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Auch Christus dankt in jeder Eucharistiefeier: "Er nahm das Brot, dankte, brach es und reichte es den Seinen." Die Jünger von Emmaus begegnen dem Auferstandenen auf der Straße und erkennen ihn erst, als er dankt: "Er nahm das Brot, sprach den Lobpreis – der mit Dank beginnt –, brach das Brot." Die Briefe von Paulus fließen über von ständigen Danksagungen. Der Apostel benutzt dabei auffällige Formulierungen. Er ruft etwa dazu auf, "den Dank zu vervielfältigen". Gemeint ist wohl eine Kultur des Dankes. Die Gemeindemitglieder sollen sich bei ihren Zusammenkünften vor allem gegenseitig mitteilen, wofür sie dankbar sind, ganz konkret, in der zurückliegenden Woche. Das gilt auch für die Gebetspraxis überhaupt: erst danken, dann bitten.
Keine Ernte ohne Zeit der Aussaat
Nun kann es manchen Grund geben, nicht zu danken, ja sogar lieber nicht geschaffen sein zu wollen, weil man sich selbst, das eigene Leben oder das Leben überhaupt nicht mehr als Gabe sehen kann. Die Frage an Gott angesichts des Leidens ist den biblischen Schriften sehr bekannt. Das Buch Hiob stellt diese Frage mit voller Wucht in den Mittelpunkt. Ebenso tun es die Passionsberichte der Evangelien. Sofern die Hoffnung nicht stirbt, ist sie dann allerdings eine Hoffnung auf Dank hin. "Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken." Der Dank wird mehr sein als bloß ein Dank dafür, heil über alles Bedrohliche und Schmerzliche hinweggekommen zu sein. Vielmehr wird das Schmerzliche im Rückblick in einem anderen Licht erscheinen. Die biblischen Schriften greifen dafür auf Bilder zurück, die wiederum eng mit der Erfahrung der Ernte zusammenhängen. Keine Erntezeit ohne vorhergehenden Winter und ohne Zeiten der Aussaat. "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht."
Wem danken wir und wofür?
"Wenn du die ersten Erträge von den Früchten des Landes darbringst, dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand entgegennehmen und ihn vor den Altar des Herrn, deines Gottes, stellen." Dieser Text aus dem Deuteronomium, dem letzten Buch des Pentateuch, weist auf die Erntedankliturgie am Jerusalemer Tempel hin. Es sind bezeichnenderweise die "ersten Erträge", die dargebracht werden. Undenkbar wäre es, dem Herrn nur Reste zu opfern. "Opfer" ist im heutigen Sprachgebrauch ein Begriff, der meist mit Verzicht verbunden wird. Beim Dankopfer geht es aber nicht um Verzicht. Vielmehr bringt es die Freude über die Fülle zum Ausdruck. Diese ist Geschenk. Auch heute sparen die Gläubigen insbesondere in ländlichen Gebieten nicht, wenn sie beim herbstlichen Erntedankfest die Gaben zum Altar bringen. Kränze aus Feldfrüchten, Getreide und Obst werden gebunden und in Prozessionen über das Land in die Kirche getragen. Andere naturnahe Produkte, die für Fülle stehen, können hinzugestellt werden, insbesondere Wein und Honig. Das verheißene Land, "in dem Milch und Honig fließen", wird anschaulich gemacht.
Danken ist eine Form der Kommunikation. Wer dankt, muss zumindest eine Ahnung davon haben, wer Adressat des Dankes ist. Im Deuteronomium bildet das Erntedankfest den Rahmen für das Glaubensbekenntnis Israels. Der Adressat des Dankes wird genannt und charakterisiert. In knapp formulierten Versen erinnert das Bekenntnis an die Eckpunkte der Geschichte des Volkes: die Herkunft der Erzeltern, die Unterdrückung und Befreiung aus Ägypten, die Landgabe und die Möglichkeit, Gott im Tempel zu verehren: "Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten (…). Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr."
Dank aus Freiheit
Der Zusammenhang von Dank und Glauben ist auch für das kirchliche Erntedankfest maßgebend. Kein Dankgottesdienst ohne Glaubensbekenntnis. Das Bekenntnis erhebt das Danken über den bloß "geschuldeten" Dank hinaus zu einer Begegnung gegenseitiger Liebe. In moralischen Kategorien erscheint der Dank eher als geforderte Gegengabe, als Akt geschuldeter Höflichkeit, als Erfüllung einer Erwartung, nach dem Motto: "Ich habe dir gegeben, also erwarte ich jetzt auch Dank von dir." In der Dimension des christlichen Glaubensbekenntnisses hingegen ist das Geschenk wirklich als Geschenk gemeint, ohne Erwartung eines Gegengeschenkes. Weil die Fülle der Gaben freies Geschenk Gottes ist, lässt es auch frei. Das ermöglicht wiederum Dank aus Freiheit. So erhält Dank einen Beziehungswert, der weit über geschuldeten Dank hinausgeht. Umso schmerzlicher, wenn der Dank dann ausbleibt: "Ich erwäge, wie unter allen vorstellbaren Übeln die Undankbarkeit eines der (…) am meisten zu verabscheuenden Dinge ist, weil sie Nichtanerkennung der empfangenen Güter, Gnaden und Gaben ist, Ursache, Ursprung und Beginn aller Übel; und umgekehrt, wie sehr die Anerkennung und Dankbarkeit für die empfangenen Güter, Gnaden und Gaben sowohl im Himmel wie auf der Erde geliebt und geschätzt wird." (Ignatius von Loyola)
Das klassische Erntedankfest gehört in eine landwirtschaftlich geprägte, bäuerliche Kultur. Die modernen, von Beton, Hightech und Parkanlagen geprägten Städte hingegen sind von dieser Kultur entfremdet. Menschen in der Stadt erleben die Natur nicht unmittelbar als fruchtbare Mutter. Sie erblicken sie am Bildschirm. Sie greifen die Gaben der Natur aus den Regalen der Discounter ab, sie nehmen sie nicht aus der Erde und pflücken sie nicht von den Bäumen. Wie kann man unter diesen Umständen das Erntedankfest überhaupt noch feiern?
Man kann es. Für die Früchte der Erde kann man auch in der Großstadt danken. Vorausgesetzt ist eine gelebte Kultur des Dankes mitten in der Stadt, die über die Früchte der Erde hinausgeht – so wie schon Israel beim Erntedankfest nicht "nur" für die Früchte der Erde dankte, sondern auch für die Befreiung aus der Sklaverei. Dank öffnet die Augen für alles, wofür man danken kann, und dann auch für die Früchte der Erde mitten in der Stadt. Man muss nur irgendwann mit dem Dank da anfangen, wo er dran ist.
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