Titelthema
Die Kraft des Films
Die 73. Berlinale konnte zeigen, wie viel mit dem Austausch von Bildern, Vorstellungen und Ideen zu gewinnen ist.
Washington, Brüssel, Berlin. Der ukrainische Präsident Selenskyj entfaltet in den Zeiten des Krieges gegen sein Land eine rege diplomatische Tätigkeit. Er spricht persönlich oder in Videoschaltungen mit der ganzen Welt, um Unterstützung für den Kampf gegen Russland zu finden. In Berlin sprach er Mitte Februar allerdings nicht zum Bundestag, sondern zu einer Versammlung von Menschen, die sich für das Kino interessieren: Zur Eröffnung der 73. Berlinale war Selenskyj (digital aus Kiew) der wichtigste Stargast. Das passt zum Image des größten deutschen Filmfestivals, das sich immer schon als ausdrücklich politisch verstanden hat. In den Jahren des Kalten Krieges hatte das schon allein in der Teilung der „Frontstadt“ Berlin ein naheliegendes Motiv. Die Berlinale zeigte sich als Ort einer freien Kultur, hielt aber zugleich viele Kanäle in den damals so genannten Ostblock offen.
Mit der Wende veränderte sich nicht nur die Geopolitik grundlegend, auch die Landschaften des Kinos ordneten sich neu. Und so kann man die 73. Ausgabe des Festivals fast schon als eine Zwischenbilanz eines Scheiterns sehen: 1989 rechneten manche Denker mit einem endgültigen Sieg der liberalen Demokratien. 2023 hingegen sieht es stark danach aus, dass Europa und mit gewissen Einschränkungen die USA so etwas wie Inseln in einer Welt darstellen, in der autokratische Politik und technologische Superstrukturen ganz neue und zum Teil noch kaum verstandene Machtverhältnisse entstehen ließen.
Die Blockbildung löste sich auch beim Film auf
Die Berlinale hatte auf diese Umstände viele Antworten. Ein Dokument der vielschichtigen Herausforderungen war der Film, der mit der Rede von Präsident Selenskyj in direktem Zusammenhang stand: Die Dokumentation Superpower von Sean Penn und Aaron Kaufman zeigt Bilder aus der Ukraine im Krieg. Der amerikanische Starschauspieler Penn, der gern ein Image kriegerischer Männlichkeit pflegt, drehte für das Medienunternehmen Vice unter anderem in Kiew und Mariupol, als der Krieg begann. Unweigerlich wurde die Invasion zum Hauptthema des Films und in der Folge aus Selenskyj – mit seiner Entscheidung, in der Hauptstadt zu bleiben – eine Identifikationsfigur. Neben der Artillerie und all den anderen Waffengattungen, die seither gebraucht werden, ist Information eine wesentliche Dimension dieses Krieges. Die Ukraine kämpft gegen Russland auch in den sozialen Medien, in den Fernsehsendungen in aller Welt – und bei Filmfestivals. Auf der Berlinale hätte sie den Krieg längst gewonnen, allerdings ist das eben doch nur eine Nebenfront, die Selenskyj jedoch bestens kennt – er war früher selbst Schauspieler, Spezialfach Komik.
Der Krieg in der Ukraine dominiert Anfang 2023 die Nachrichten, es gibt jedoch viele weitere Krisenherde, auf die bei der Berlinale Bezug genommen werden musste. Seit vielen Jahren existieren intensive Beziehungen zur iranischen Filmszene. Regisseure wie Dschafar Panahi oder Mohammed Rasulof feierten in Berlin große Erfolge. In ihrer Heimat aber werden sie behindert, mit Arbeitsverboten belegt und auch immer wieder eingesperrt. So war die iranische Bewegung gegen den fundamentalistischen Männerstaat, die seit 2022 auf größere Freiheiten drängt, auf der 73. Berlinale in vielen Momenten gegenwärtig – ein Festival dieser Größenordnung besteht ja aus vielen Kanälen, mal läuft in einer der Nebenreihen eine spannende Dokumentation (Where God Is Not von Mehran Tamadon im Forum), mal diskutieren auf dem European Film Market internationale Co-Produzenten über die Möglichkeiten, dem Untergrundkino im Iran zu helfen.
Eine der Folgen von 1989 für das Kino war, dass sich die Blockbildung auch hier aufgelöst hat und von einem weltweiten Netzwerk von Filmfinanzierern abgelöst wurde. Fast alle Staaten auf der Welt, zumindest die reicheren, investieren zum Teil viel öffentliches Geld in ihren audiovisuellen Sektor (Fernsehen, Filmförderung, digitale wie analoge Infrastruktur), zugleich kooperieren viele dieser Institutionen auf europäischer wie sogar auf darüberliegender Ebene. So taucht zum Beispiel Geld vom Doha Film Institute in vielen kleineren Dokumentarfilmprojekten auf, denn das Golfemirat Katar, das noch vor wenigen Wochen als Ausrichter der Fußballweltmeisterschaft vielfach kritischer Berichterstattung ausgesetzt war, betreibt mit seiner Filmstiftung durchaus progressive Politik.
In erster Linie aber wollen die Länder sich selbst dargestellt sehen. Sie wollen sich international zeigen und gleichzeitig den heimatlichen Markt bedienen. Die 73. Berlinale konnte in diesem Zusammenhang mit dem Novum aufwarten, dass nicht weniger als fünf deutsche Filme im Wettbewerb zu sehen waren – ein Viertel der Kandidaten für den Goldenen Bären aus heimischer Produktion, das hatte es davor noch nie gegeben. Und es waren durchweg hochkarätige Namen, die vor allem für künstlerischen Anspruch stehen: Angela Schanelec, Margarethe von Trotta, Emily Atef, Christian Petzold, Christoph Hochhäusler. Thematisch war die Spannweite dabei groß, von einer berühmten Liebesgeschichte aus der Literatur (Ingeborg Bachmann und Max Frisch bei Trotta) über eine Variation des Ödipus-Mythos bei Schanelec bis zu einer Perspektive auf die Klimakatastrophe mit den Waldbränden in Norddeutschland bei Petzold. Emily Atef traf mit einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte, die in Thüringen anno 1990 spielt, einmal mehr das deutsche Zentralthema der immer noch einzulösenden nationalen Vereinigung. Und Christoph Hochhäusler verband eine Kriminalgeschichte mit dem heutigen Großthema fluider sexueller Identitäten. Alle diese Filme sind zugleich auch eminente Exportartikel und stärken damit den Filmstandort Deutschland. Normalerweise gehört das Wort Standort in die Industriepolitik, es ist aber in der Medienbranche genauso geläufig, und Institutionen wie das Medienboard Berlin-Brandenburg (MBB) und andere deutsche Förderanstalten müssen sich auch daran messen lassen, wie sehr sie nicht nur auf der Berlinale, sondern später im Jahr auf weiteren wichtigen Festivals wie in Cannes, Venedig oder Toronto mit Produktionen präsent sind, in denen „ihr“ Geld steckt.
Auch in Serien fließt viel Geld
Dieses Geld investieren sie längst auch nicht mehr nur in Filme, sondern auch in Serien. Die Berlinale hat darauf mit der Gründung einer weiteren Sektion reagiert. In den Berlinale Series wurde heuer unter anderem Der Schwarm gezeigt, eine Verfilmung des Bestsellerromans von Frank Schätzing, in dem ein Tsunami dazu führt, dass eine unbekannte Intelligenz im Meer entdeckt wird. Der öko-inspirierte Schmöker hat vor 20 Jahren viele Leser gefesselt, für das Heimkino des ZDF musste er nun ein wenig zurechtgestutzt werden. Große Aufmerksamkeit aber war ihm allemal gewiss, zumal er mit Leonie Benesch eine der interessantesten jungen deutschen Schauspielerinnen in einer Hauptrolle vorzuweisen hat.
Für viele Medien ist an einem Festival vor allem der rote Teppich interessant. Das ist traditionell der Ort, an dem man die Stars sehen kann, die sich auf dem Weg zu den großen Premieren dem Publikum und den Kameras zeigen. Die Berlinale wird jedes Jahr auch daran gemessen, ob sie ausreichend Prominenz nach Berlin bringt. Im Idealfall stehen Stars nicht nur für kommerziellen Erfolg, sondern auch für Filmkunst. Das ist etwa bei Cate Blanchett der Fall, die in diesem Jahr in Berlin in Tár von Todd Field als despotische Dirigentin zu sehen war – in einem Film übrigens, der in wesentlichen Teilen in Berlin und mit deutschem Fördergeld gedreht wurde, also auch als Teil der Standortpolitik. Bei einem Festival wie der Berlinale schließen sich laufend Kreise: Im Wettbewerb lief der Film 20.000 especies de abejas der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren, der 2022 am Co-Production Market der Berlinale teilgenommen hatte und sich schließlich als gut genug erwies, um ihn dem internationalen Publikum als Kandidat für einen Goldenen Bären vorzustellen.
Den kulturellen Austausch fördern
Eine offizielle Frauenquote gibt es bei der Berlinale nicht, aber natürlich versucht ein A-Festival, also ein Festival der höchsten Kategorie im internationalen Betrieb, so gut wie möglich an eine gleichrangige Repräsentanz von Frauen in allen Bereichen heranzukommen. An diesem Anspruch werden Festivals heute gemessen, wie auch daran, dass sie die gesellschaftliche Diversität abbilden. So gab es auch auf dieser Berlinale verschiedene Schwerpunkte, um dem migrantischen Deutschland zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, etwa mit einem Film von Ayse Polat in der Sektion Encounters (Im toten Winkel) oder mit Entdeckungen im Forum wie dem Film Der Kampf um den heiligen Baum von Wanjiru Kinyanjui – die Regisseurin aus Kenia erzählte 1994 eine Dorfgeschichte, eine komische Auseinandersetzung zwischen Christen und Animisten. Produziert wurde der Film in Berlin, wo die Filmemacherin damals an der DFFB (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) studierte.
So findet man auf einem Festival wie der Berlinale an allen Ecken und Enden interessante Querverbindungen rund um den Globus. Im Idealfall dienen sie – neben den geschäftlichen Interessen – auch dazu, die kulturelle Kommunikation zu stärken, immer auch im Dienst einer Friedensordnung, von der man bis 2022 geglaubt hatte, dass sie zumindest für Europa und seine Beziehungen zur Welt fest etabliert wäre. Die erste Berlinale nach der Pandemie, die erste Berlinale seit 2020 ohne gravierende Einschränkungen konnte immerhin zeigen, wie viel mit dem Austausch von Bildern, Vorstellungen und Ideen zu gewinnen ist – ein offener Horizont und ein kritisches Bewusstsein, elementare Voraussetzungen für Humanität.
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