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Titelthema

Die Macht der meinungsmächtigen Milieus

Wer hat Schuld am Erstarken der Alternative für Deutschland? Während die Politik auf die Medien zeigt, vor allem die öffentlich-rechtlichen, weisen diese die Verantwortung von sich.

Hans Mathias Kepplinger01.11.2017

Die Prognosen waren kaum verklungen, da begann bereits die Suche nach den Verantwortlichen: Wer ist schuld daran, dass erstmals seit den fünfziger Jahren wieder eine Partei rechts von der Union in den Bundestag einziehen konnte? Eine Antwort war schnell gefunden: Noch am Wahlabend bezichtigte der Spitzenkandidat der CSU, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, in der „Elefantenrunde“ die öffentlich- rechtlichen Medien, der AfD zu viel Raum in den Talkshows geboten und sie dadurch großgemacht zu haben. Andere Kommentatoren folgten ihm gern, konnten sie doch auf diese Weise von eigenen Versäumnissen ablenken. Doch einer Analyse der Fakten hält diese Interpretation nicht stand.
Das brennendste Thema der letzten zwei Jahre war die Flüchtlingspolitik. Über dieses Thema diskutierten die Teilnehmer der fünf wichtigsten Talkshows von ARD und ZDF von Juli 2015 bis Februar 2016 in 63 Sendungen, das entsprach zwei Talkshows pro Woche. Die Migrantenkrise drängte alle anderen Themen in den Hintergrund. Unter den Gästen waren 48 Politiker der Großen Koalition, zehn der Grünen und sechs der AfD. Von einer offenen Bühne für AfD-Politiker kann keine Rede sein. Ein ähnliches Bild zeigt der Blick auf alle Befürworter und Gegner einer erheblichen Zuwanderung unter den Gästen: Die Minderheit (37 Prozent) war dagegen, die Mehrheit (57 Prozent) dafür. Der Rest vertrat keine klare Position. Der Verlauf von Talkshows hängt wesentlich vom Verhalten der Moderatoren ab. Sie haben sich gegenüber der Minderheit der Zuwanderungsgegner überwiegend konfrontativ verhalten: Sie haben sie unterbrochen, ihnen widersprochen, distanzierend nachgehakt usw. Die Mehrheit der Befürworter haben sie dagegen überwiegend wohlwollend behandelt: Sie haben sie ausreden lassen, sich zustimmend geäußert, hilfreich nachgefragt usw.

Volkes Meinung
Das Verhältnis der Befürworter und Gegner entsprach vermutlich zu keinem Zeitpunkt der Meinungsverteilung in der Bevölkerung. Im Herbst 2015 berichteten 69 Prozent der Bevölkerung, die meisten ihrer Gesprächspartner würden die Aufnahme weiterer Migranten ablehnen. Wie haben damals die Gegner einer erheblichen Zuwanderung, denen die AfD ihren Wahlerfolg vor allem verdankt, die erwähnten Talkshows wahrgenommen? Vermutlich waren sie der Meinung, dass ihre eigene Sichtweise nicht angemessen vertreten und durch das Verhalten der Moderatoren unfair behindert wurde. Wahrscheinlich haben viele – zu Recht oder zu Unrecht – dahinter eine Absicht bemerkt und waren, um einen Satz von Goethe zu variieren, erst verstimmt und dann empört. Das fand vor dem Hintergrund einer Welle emotionsträchtiger Bilder von erschöpften und verzweifelten Personen auf maßlos überfüllten Booten statt, von erschöpften aber wild entschlossenen Menschen auf ihrem Weg durch den Balkan und heillos überforderten Aufnahmeeinrichtungen in Italien und Griechenland.

Die Wirkung der Medien
Welchen Einfluss besaßen die Berichte in den Nachrichten des Fernsehens, die täglich von mehr als 10 Millionen Zuschauern gesehen werden? Belastbare empirische Befunde gibt es dazu nicht. Für ein realistisches Urteil muss man zwei Wirkungen unterscheiden. Die Medien haben einen relativ schwachen Einfluss auf die Veränderung von Meinungen. So dürften die Mitleid erregenden Fernsehberichte über Migranten und ihre wohlwollende Kommentierung in Talkshows die Meinungen für eine erhebliche Zuwanderung von etwa 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung verändert haben. Im Vergleich dazu besitzen die Medien eine starke Wirkung auf die wahrgenommene Bedeutung von Ereignissen und Themen: Je häufiger sie über ein Problem berichten, desto wichtiger erscheint es der Bevölkerung. Dadurch gewinnen bestehende Meinungen, z.B. über Zuwanderung,  erheblich an Gewicht. Das dürfte bei mindestens 60 Prozent der Bevölkerung der Fall gewesen sein. Das größere Gewicht der bestehenden Meinungen wirkte sich stärker auf die Zustimmung zu oder Ablehnung von Politikern und Parteien aus und schlug sich in den Wahlentscheidungen eines Teils der angesprochenen Personen nieder. Falls die Fernsehsender mit ihrer intensiven und einseitigen Berichterstattung die Bereitschaft zur Aufnahme vieler Migranten vergrößern wollten, haben sie das Gegenteil erreicht, die Spaltung der Bevölkerung in zwei ungleich große Lager.  
Die Argumentation scheint die Befürchtungen vieler Politiker und Journalisten zu bestätigen: Die Gegner einer erheblichen Zuwanderung von Muslimen sind islamfeindliche Nationalisten. Das trifft wahrscheinlich auf einen Teil zu, bei weitem aber nicht auf alle. Extreme Einstellungen sind eine, aber nicht die einzige Ursache von Meinungen. Sie beruhen auch auf eigenen Beobachtungen bei Urlaubsreisen in islamische Länder, vor allem aber auf Medienberichten über aktuelle Ereignisse. Worüber haben die reichweitenstarken Fernsehsender in Nachrichten und Reportagen über die islamische Welt berichtet? In den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren ging es meist um gewaltsame Revolten, terroristische Anschläge, Bürgerkriege, die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten usw. und das oft im Namen des Islam. Das war die Aufgabe der Journalisten, und sie haben sich nicht von islamfeindlichen Überzeugungen leiten lassen, sondern von journalistischen Nachrichtenwerten.

Gefestigte Vorbehalte
Welche Vorstellungen haben die Berichte vor allem dort geweckt, wo kaum Kontakte zu Muslimen bestehen, weil dort wenige leben – in Ostdeutschland? Vermutlich sehen nicht nur im Osten viele Menschen die islamische Welt so, wie die Fernsehsender sie dargestellt haben, nämlich negativ. Die weit verbreiteten Vorbehalte gegen eine erhebliche Zuwanderung aus der islamischen Welt dürften auch eine unbeabsichtigte negative Nebenfolge der Auslandsberichterstattung sein. Deshalb stellt sich die berechtigte Frage, ob und inwieweit die darauf beruhenden Vorbehalte berechtigt sind. Stattdessen werden die Effekte der Berichterstattung tabuisiert, die Vorbehalte als Charaktermangel interpretiert und jene die sie hegen, als Rechtsradikale diskreditiert. Eine Klärung dieser Frage ist aber selbst dann notwendig, wenn Zuschauer die Berichte über konkrete Ereignisse unzulässig verallgemeinert und daraus falsche Schlüsse gezogen haben, weil auch solche Ängste soziale Tatsachen sind. Allerdings bleiben nach Berücksichtigung aller genannten Gründe für die Ablehnung einer erheblichen Zuwanderung am Rande des politischen Spektrums Personen, die aus innerer Überzeugung allgemein gebilligte Werte und Ziele ablehnen. Das führt zum Kern des Problems, dem Umgang mit diesen Personen und ihren Sympathisanten.
In Demokratien zählen alle Stimmen gleich viel. Das ist theoretisch richtig und praktisch falsch, weil manche Menschen schon im Vorfeld von Wahlen eher bereit sind, ihre Meinung öffentlich zu vertreten als andere – Stadtbewohner eher als Dorfbewohner, Akademiker eher als Handwerker, Junge eher als Alte usw. Deshalb besitzen einige mehr Meinungsmacht als andere, und deshalb entstehen in allen Demokratien meinungsmächtige Milieus. Zu diesen Milieus gehören vor allem Politiker und Journalisten sowie mit deutlich geringerem Einfluss Unternehmer, Künstler und Wissenschaftler. Das ist unproblematisch, solange sich die Milieus deutlich voneinander unterscheiden und solange die Unterschiede zwischen ihnen und  den politisch nur weniger interessierten Menschen gering sind. Problematisch wird es, wenn die Werte und Ziele der meinungsmächtigen Milieus zu große Schnittmengen aufweisen und ihre Distanz zu Werten und Zielen der für sie relevanten Teile der Bevölkerung zu groß werden. In einer solchen Konstellation müssen die erfolgsverwöhnten Milieus eine offene Diskussion ihrer Überzeugungen fürchten, weil ihr Verlauf ungewiss ist.
Als Ausweg bietet sich das  Tabuisieren strittiger Sachfragen durch die ethische Überhöhung der eigenen Sichtweise an und die moralische Diskreditierung der Vertreter der Gegenposition. So werden Migranten pauschal zu Flüchtlingen, die man nicht abweisen oder zurückschicken kann und die Gegner einer erheblichen Zuwanderung zu Islam- und Ausländerfeinden. Aus richtig oder falsch, wird gut oder schlecht. Deshalb drehen sich die Diskussionen dann vor allem um den tatsächlich oder vermeintlich fragwürdigen Charakter des gegnerischen Spitzenpersonals, während die konkreten Sorgen ihres Anhangs kaum erwähnt, geschweige denn mit Pro und Contra sachlich erörtert werden. Wohin das führen kann, zeigt der Ausgang der Bundestagswahl.

Folgen der Tabuisierung
Als Folge der Tabuisierung der Sorgen eines Teils der Bevölkerung wurden übertriebene Ängste nicht entkräftet, notwendige politische Maßnahmen verschleppt, und schlossen sich viele Besorgte den Einzigen an, die ihre Sorgen ernst nahmen. Mit erwähnten Methoden wird man jenen Teil der Bevölkerung, der sich anhand seiner  Wahrnehmung der Realität eine eigene Meinung gebildet hat, weder vom harten Kern der Ideologen trennen, noch für die eigene Sichtweise zurückgewinnen. Notwendig sind die Entmoralisierung von Sachfragen und eine angemessene Berücksichtigung von Kosten-Nutzen- Überlegungen.

Hans Mathias  Kepplinger
Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, (RC Mainz-Aurea Moguntia) ist emeritierter Professor für Empirische Kommunikationsforschung am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sein Buch „Die Mechanismen der Skandalisierung“ (Olzog) ist in mehrfachen Auflagen erschienen. Zuletzt veröffentlichte er „Totschweigen und Skandalisieren: Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken“ (Herbert von Halem Verlag 2017). kepplinger.de

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