Titelthema
Die Tories und der Wille des Volkes
Der Brexit ist keineswegs das Produkt einiger weniger Glücksritter, sondern schlicht der Wunsch von breiten Teilen der britischen Bevölkerung.
Aus dem Ausland gesehen scheint der Brexit keinen Sinn zu ergeben. Warum sollte Großbritannien die Europäische Union verlassen und sich selbst ärmer machen wollen? Warum sollte ein weltoffenes Land sich selbst schwächen? Wie kann es sein, dass sich eine ganze Regierung den Ton von einigen wenigen politischen Witzfiguren wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg angeben lässt? Und vor allem: Warum hat sich die öffentliche Unterstützung nicht verändert, obwohl die letzten zweieinhalb Jahre eine politische Katastrophe waren und das Land noch immer tief gespalten ist?
Als Herausgeber des Magazins The Spectator konnte ich viele Ereignisse und Entwicklungen der jüngsten Zeit sowie deren Akteure aus der Nähe beobachten. Es war eine bemerkenswerte Transformation. Vor einigen Jahren war der Brexit der Wunsch einer Randgruppierung, heute ist er ein Mainstream-Gedanke, zu dem viele konvertiert sind. Ich kann das verstehen, denn ich habe das Gleiche erlebt: Ich bin europhil und mit einer Ausländerin verheiratet. Ich spreche zu Hause eine fremde Sprache und glaube leidenschaftlich an das europäische Projekt. Doch wie viele andere bin auch ich zum Brexit-Anhänger geworden – durchaus widerwillig und mit gebrochenem Herzen. Und seit dem Referendum bin ich mehr und nicht weniger davon überzeugt.
Ich verstehe, dass die erschütternde Schwäche der britischen Regierung den Brexit von außen wie ein Projekt massiver Selbstverletzung erscheinen lässt. Und ich verstehe, dass die britischen Konservativen, die sich selbst immer als Pragmatiker sehen, nun aussehen, als seien sie verrückt geworden. Doch um das ganze Geschehen zu verstehen – und auch, warum es sich nicht mehr verhindern lässt – müssen wir einen Schritt zurück gehen und die grundlegenden Ursachen des Brexits und die britische Demokratie verstehen.
Der Pragmatismus der Konservativen
Als erstes muss man verstehen, was der Brexit nicht ist. Er ist keine Idee, die sich Tory-Abgeordnete bei einem Glas Champagner im Londoner Penthouse von Jacob Rees-Mogg ausgedacht haben. Er ist auch keine Selbsterhaltungsmaßnahme von Boris Johnson. Er ist kein politischer Virus aus einem Labor von Nigel Farage. All diese Männer wurden zweifellos von einer Brexit-Flut getragen, aber sie haben diese Flut nicht geschaffen – und sie können diese keinesfalls kontrollieren. Sie zeigen sich gern als Anführer einer neuen Revolution, doch keiner von ihnen weiß, woher diese kommt.
Geführt wurde die britische Politik in den vergangenen Jahren bekanntlich von Vertretern der Konservativen Partei. Die Tories sehen sich selbst als eine pragmatische Kraft, die von keiner Ideologie behindert wird. So fordern die Tories gern niedrige Steuern und eine geringe Regulierung, in der Praxis haben sie jedoch für die höchsten Steuern in den letzten 35 Jahren gesorgt. Sie wettern gegen die Staatsverschuldung und haben in den letzten zehn Jahren trotzdem die höchsten Defizite in Europa eingefahren.
Zu den Konservativen gehört auch die Überzeugung, dass Veränderungen notwendig sind, wenn sich die öffentliche Meinung in wichtigen gesellschaftlichen Fragen wandelt. Und diesen Wandel hat es tatsächlich gegeben: Nicht nur die Konservativen mussten die Erfahrung machen, dass alte politische Mittel nicht mehr funktionierten, dass der traditionelle – vor allem durch die sozialen Verhältnisse begründete – Gegensatz von Links und Rechts durch neue Konstellationen wie den Gegensatz von Globalisierung und Nationalismus ersetzt wurde. Doch während die Parteien der Mitte früher problemlos in der Lage waren, ihre Programmatik an neue Herausforderungen anzupassen und bereit waren, dabei Kompromisse einzugehen, begegnen sie heute nahezu überall Populisten, die stets das Maximum fordern, jeden Kompromiss als Schwäche verspotten – und konstruktive Kräfte so vor sich hertreiben.
Eine vertane Chance
In Großbritannien kam der populistische Druck auf die konservative Mitte vor allem aus Richtung der United Kingdom Independent Party (UKIP) unter Nigel Farage. David Cameron erkannte früh deren gefährliches Potential. Schon im Jahr 2010 war Farage mit seiner gegen Brüssel gerichteten Polemik so stark geworden, dass den Tories die Stimmen für eine absolute Mehrheit im Parlament fehlten.
Gemeinsam mit seinem Freund, dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte, entwickelte Cameron deshalb einen Reformplan für die Europäische Union. Ich selbst durfte einmal an einem der Gespräche im Landhaus Chequers teilnehmen, wo die beiden darüber nachdachten, wie ein gemäßigter konservativer Anführer die Bedrohungen des Populismus bekämpfen könne. Denn auch Rutte bekam zuhause Druck aus der Öffentlichkeit, sich dem Streben der EU hin zu einem Bundesstaat zu widersetzen. Der Niederländer schlug ein neues Manifest für die EU vor, das weniger Eingriffe und Vorgaben aus Brüssel, niedrigere EU-Ausgaben, dafür mehr Nationalstaat und mehr Demokratie vorsah. Cameron gefiel, was er hörte. Er sprach von einer „Northern Alliance“ – bestehend aus Großbritannien, Skandinavien, den Niederlanden – und sprach sich für ein Europa der Nationalstaaten sowie gegen das bundesstaatliche Projekt aus. Ruttes Reformen hätten – wären sie umgesetzt worden – den Brexit verhindern können.
Doch während Cameron und Rutte Anfang 2014 planten, wie man Europa verändern könnte, arbeitete ein junger Deutscher namens Martin Selmayr an seinem eigenen Plan. Er nannte es den Aufbau einer „politischen Kommission“, in der die Europäische Kommission kein Instrument mehr wäre, dass von Leuten wie Rutte und Cameron geformt werden konnte. Stattdessen sollte die Europäische Kommission ihr Mandat aus dem Europaparlament und durch ein Spitzenkandidaten-System bei den Wahlen bekommen. Für Selmayr war Jean-Claude Juncker der perfekte Kandidat.
Die Wahl von Juncker beendete Camerons Traum. Die EU bewegte sich nun in eine bundesstaatliche Richtung, und die Konservativen verglichen die EU mit HAL, dem Computer aus dem Film „2001: Odyssee im Weltraum“, der sich seiner selbst bewusst wurde und gegen seine Erschaffer rebellierte. Cameron versuchte alles in seiner Macht stehende, um Juncker aufzuhalten – nicht aus persönlicher Abneigung, sondern weil er sah, dass dies ein rotes Tuch für den britischen Stier sein würde: eine neue Generation an EU-Kommissaren, die außer Kontrolle waren. Als Cameron dann die Mitgliedschaft Großbritanniens neu verhandeln wollte, wurde er in Brüssel quasi aus Prinzip mit leeren Händen nach Hause geschickt. Denn in der „politischen Kommission“ von Selmayr und Juncker ging es genau darum: Mitgliedsstaaten sollten die EU-Kommission nicht mehr herumkommandieren können.
Der Weg in den Brexit
Parallel dazu hatten Meinungsumfragen gezeigt, dass die Briten im Falle eines Referendums durchaus für einen Ausstieg stimmen könnten; dass jedoch ein Ausstieg nicht zur Debatte stünde, wenn Cameron erfolgreich eine EU-Reform verhandeln würde. Cameron zeigte diese Umfragen in Brüssel und tat, was er
konnte. Doch die EU wählte einen anderen Ansatz. In ganz Europa waren die Populisten auf dem Vormarsch – und so wurde entschieden, dass man diese am besten zum Schweigen bringen könne, wenn man ihnen nicht entgegenkommt und die EU wie geplant weiterentwickelte.
Vor allem Angela Merkel war hier keine Hilfe. Die Kanzlerin befürwortete die Idee einer politischen Kommission und glaubte, dass Cameron nur aufgrund der Wünsche von irrwitzigen Abgeordneten handelte. Sie sah den Brexit als ein Verwandlungsargument der Tories an und nicht als ein Anliegen weiter Teile der britischen Bevölkerung. Der Sieg der UKIP bei den Europawahlen im Jahr 2014 zeigte dann, wie viele Menschen inzwischen aus der EU raus wollten. An einem Referendum führte nun kein Weg mehr vorbei – die Verweigerung einer Volksabstimmung hätte zu einem weiteren Erstarken der UKIP geführt.
Als die Briten dann vor der Wahl zwischen einer unnachgiebigen EU und dem Brexit standen, entschieden sich 52 Prozent für die zweite Option. Sie taten es, obwohl sich alle Gewerkschaften, alle Arbeitgebergemeinschaften und alle Anführer der großen Parteien dagegen aussprachen. Schnell hieß es, dass diejenigen, die für den Brexit gestimmte hatten, arm, dumm, leicht beeinflussbar, alt und vielleicht sogar rassistisch seien. Das klang spöttisch und sollte es auch sein. Doch die Menschen waren zu lange verspottet worden und wollten endlich ernst genommen werden.
Innere Spaltungen
Nachdem das Volk gesprochen hatte, gingen die Streitigkeiten innerhalb der Tories weiter, immerhin hatten sich die meisten ihrer Abgeordneten für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Und so könnte man, wenn man den Konservativen nur lang genug zuhört, zu dem Schluss kommen, dass sie alle verrückt geworden sind. Da gibt es den gescheiterten Versuch von Jacob Rees-Mogg, Theresa May abzusetzen; den Aufstieg und Fall von Boris Johnson oder den Rücktritt von Dominic Raab als Brexit-Minister nach nur wenigen Wochen im Amt. Doch das Problem Brexit war und ist größer als die Parteien, es hat sowohl die Tories als auch Labour gespalten.
Auch das Land ist geteilt. Jüngste Umfragen ergaben, dass es bei einem zweiten Referendum kaum Stimmenzuwächse für den Verbleib in der EU gäbe. Wenn die Menschen getäuscht worden wären, um für den Brexit zu stimmen, warum haben dann so wenige ihre Meinung geändert, wo jetzt klar wird, was das alles bedeutet?
Das Verlassen der EU wird eine Quälerei, aber auf lange Sicht wird Großbritannien besser dran sein. Meiner Meinung nach ist die EU für Europa – unter der Führung von Juncker und Selmayr – zu einer Quelle der Instabilität geworden. Sie sieht ihre eigene Unnachgiebigkeit als Stärke an. Das daraus resultierende Ergebnis ist der bedrohliche Populismus auf weiten Teilen des Kontinents. Populismus ist immer und überall ein Zeichen für das Versagen der etablierten politischen Parteien – ihr Versagen, auf die Bedenken der Bevölkerung zu reagieren. Großbritannien hat jedoch gezeigt, dass wenn auf diese Bedenken gehört wird, der Populismus keine Chance hat. Es ist das einzige Land in Europa, in dem keine populistische Partei im Parlament vertreten ist oder starke politische Unterstützung erfährt.
Ausblick
Denken die Briten, dass sie künftig ärmer sein werden? Nicht wirklich. Viele bedeutende Ökonomen warnten davor, dass Großbritannien unmittelbare Schäden durch das Brexit-Votum erleiden würde. So wurde ein Verlust von bis zu 500.000 Arbeitsplätzen prognostiziert, doch stattdessen haben bisher 500.000 Menschen mehr eine Anstellung gefunden. Die Auswirkungen von großen politischen Veränderungen sind schwer vorauszusagen, da viel von den Gefühlen der Verbraucher und der Investoren abhängt.
Ist es also optimistisch, wenn die Hälfte der Briten den Brexit und die Umwälzungen, die er mit sich bringt, nach wie vor unterstützt. Ja, schon. Verrückt? Keinesfalls. Ein großes Risiko? Ohne Zweifel. Aber es ist ein Risiko, dass – egal wie es ausgeht – die Bevölkerung immer noch eingehen möchte.
Fraser Nelson ist Herausgeber des britischen Wochenmagazins The Spectator.
© David M. Benett