https://rotary.de/gesellschaft/die-umstellung-der-zeiten-a-22553.html
Titelthema

Die Umstellung der Zeiten

Titelthema - Die Umstellung der Zeiten
Kulturapfel Elstar © Lynn Karlin

Ruhe und innere Einkehr sind oft als Vorzüge des Herbstes beschworen worden. Aber ist das noch wahr?

Christiane Neudecker01.10.2023

Ich bin auf der Insel. Ich sitze auf den noch sommerwarmen Stufen, die zum Schloss Herrenchiemsee hinaufführen, dieser Stein gewordenen Traumwelt eines versponnenen Königs. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn, wie er durch den menschenleeren Spiegelsaal streift und sich nach Versailles träumt, sein Mantelsaum schleift über das Parkett, er stellt sich an eines der hohen Fenster und blickt hinunter zu mir. Ich kann mich da sitzen sehen, aus seinen Augen: denkend und die Stirn der Spätsommersonne entgegenhaltend. Um mich herum trudeln gelbe Blätter aus den Baumwipfeln. Sie sind schillernde Vorboten, der Herbst kündigt sich an, mit Konfetti aus Gold.


Hören Sie hier den Artikel als Audio!

Einfach anklicken, auswählen und anhören!


Mich macht das traurig. Ich bin nicht gut mit Übergängen. Den Sommer will ich festhalten, ihn vor dem Verfall bewahren, alljährlich, ich greife in die kühler werdende Luft und suche das Flirren der Sommerhitze über den staubigen Wegen. Dass die Fontänen der Schlossbrunnen noch jubelnd in den Himmel aufschießen, kann mich kaum trösten. Es liegt schon eine aufziehende Kühle unter allem, Spinnweben greifen im Morgentau nach den Hecken, auf den Wegen raschelt erstes vertrocknetes Laub.

Die elend lange Zwischenzeit

Dass der Herbst gar keine echte Jahreszeit sei, habe ich als Kind einmal wütend erklärt. Ich hatte damals keine Lust auf Schule, die Sommerferien waren zu kurz, Weihnachten zu weit weg, der Herbst schien mir eine verlorene Zeit. Ich konnte nicht mehr im See baden und noch nicht auf den Abhängen Schlitten fahren, es gab kein Hitzefrei mehr und noch keine Schneeballschlachten, keine Lebkuchen und kein Eis am Stiel. Mir war der Herbst nie warm genug und nie kalt genug, er war mir zu unentschieden und vor allem: zu lang. Die regenzerpeitschten Tage zogen sich, ohnehin dauerte alles länger damals, die Zeit beschleunigte sich nicht so wie heute. Ich mühte mich um Überbrückung, bastelte Kastanienmännchen und Ketten aus getrockneten Beeren und Eicheln, ich presste bunte Herbstblätter in einem Heft und schrieb darauf mit Buntstift das neue Wort, das ich gelernt hatte: Herbarium. Wenn es stürmte, spähte ich vom Fenstersims meines Kinderzimmers in die Wolken hinauf, ich kniff die Augen zusammen und hoffte auf Schnee.

Ich mag auch heute kein Dazwischen. Dabei befinde ich mich als Schriftstellerin so häufig darin: Ich bin mitten im Jetzt und doch gedanklich in Vergangenem oder Erdachtem, ich sehe die Wirklichkeit und bewege mich innerhalb meiner eigenen, literarischen Erfindung. Man sollte meinen, dass gerade ich mich gerne in Zwischenwelten aufhalte, aber vielleicht ist es genau das: Ich brauche die äußere Klarheit.

Der Duft von Waldpilzen

2023, titelthema, erntedank
Südlicher Ackerling © Lynn Karlin

Eine Umfrage habe ich online erstellt, spaßeshalber, man konnte sich entscheiden für „Spätsommer, hurra!“ oder „Der Herbst kann kommen!“ Ich war verblüfft darüber, wie viele meiner Freunde den Herbst wählten, ihn herbeisehnten nahezu. Als ich nachfrage, sind ihre Gründe vielfältig: Die Spaziergänge über abgemähte Felder, der Geruch von Waldpilzen, abendliche Brettspiele im Kerzenschimmer, sämige Kürbissuppe und dampfende Teetassen, die Freude der zu Halloween als Gespenster und Hexen verkleideten Kinder – und das Glühen, wenn die tiefer und tiefer stehende Sonne die Städte in sattes Herbstlicht taucht.

Nur wenige planen wie ich ihre Flucht. Nach Italien bin ich im Herbst schon oft gereist. Von der Engelsburg aus sah ich durch meine Sonnenbrille auf das Gewusel von Rom herunter oder flanierte im Sommerkleid an venezianischen Lagunen entlang. Ich genieße diese Reisen doppelt, weil daheim schon die Herbststürme an den Fenstern rütteln. Es ist eine Verlängerung des Sommers. Im letzten Oktober waren in Genua schon die Schwimmbecken abgelassen und die Hotelfenster verrammelt, Nachsaison. Dabei brannte die Sonne noch auf die Kiesbuchten herunter, und die Büroangestellten legten in den Mittagspausen ihre Anzüge ab und sprangen ins Meer.

Dass ich eine lichtbetriebene Pflanze sei, hat ein Freund mir einmal lachend bescheinigt, ich verkümmere in der Winterzeit, ich ließe, so seine Theorie, meinen Kopf hängen, wenn man mich nicht regelmäßig mit Lichtduschen gösse. Und ich konterte, dass ich eher ein Zugvogel sei. Eine Wildgans, die zum Überleben in den Süden zieht.

Die Tests aus Modezeitschriften, die meine Oma früher an uns weiterreichte, fallen mir ein: Welcher Jahreszeitentyp sind Sie? Ich kreuzte eifrig Antworten an und ordnete mich Farbpaletten zu, die mir gefielen: rote Wollpullover und gelbe Jacken, terrakottafarbener Lippenstift und goldener Schmuck, Stiefel und Mützen. Ein Herbsttyp soll ich laut den damaligen Auswertungen sein, zumindest äußerlich. Aber innerlich bin ich das nie gewesen.

Auch König Ludwig war sicher kein Herbsttyp, denke ich, als ich jetzt aufstehe und mich auf den Weg zur Rückseite des Schlosses mache. Der Mondkönig wollte er sein, er liebte den Winter. Seine nächtlichen Ausfahrten im Schnee waren legendär. Einen goldenen Schlitten hatte er bauen lassen, von dessen Spitze aus sich eine barbusige Meeresnymphe dem eisigen Fahrtwind entgegenreckte. Auch den Sommer soll er genossen haben, vielleicht im Schatten der künstlichen Grotte, die er im Park von Schloss Linderhof von einem Bühnenbildner errichten ließ. Und dennoch würde er, wäre er Zeuge der heutigen Touristenströme, die die Fähren auf die Inseln speien, sicher den Herbst vorziehen. Er, der Einzelgänger, der die Menschen scheute und sich am liebsten in seiner Fantasie aufhielt, wäre – könnte sein Geist sich noch hier aufhalten – sicher froh, wenn der Reisetrubel verhallt und mit der Herbstkühle die Stille in seine Schlösser zurückkehrt.

Besinnung wird zur vergangenen Kunst

Ruhe und innere Einkehr sind oft als Vorzüge des Herbstes beschworen worden. Die dunkler werdenden Tage lassen uns innehalten, wir verbringen mehr Zeit mit uns selbst. Dass wir uns dort mehr mit unserem Inneren beschäftigen, ist die Annahme. Dass wir uns unseren Werten, unseren Zielen zuwenden, sie hinterfragen und ausloten, zum Ausklang des Jahres hin. Aber ist das noch wahr?

Die Ablenkungen sind vielfältig geworden, denke ich, sie sind immer greifbar, immer zur Hand. Wer setzt sich noch an einem kühlen Herbstabend hin und schreibt ein Tagebuch? Wer sinniert an der flackernden Feuerschale über sein Leben? Wie die Motten zieht es uns an das kalte Licht der Bildschirme. Besinnung wird immer mehr zur vergangenen Kunst.

Dass Ludwig verfügt haben soll, dass seine Schlösser nach seinem Tod gesprengt werden, fällt mir ein. Er wollte keine Fremden in seinen Gebäuden. Er wollte überhaupt keine Menschen um sich, er sah sie als das eigentliche Problem. Aber vielleicht erfinde ich das jetzt.

Mein Smartphone meldet sich. An einer Parkbank bleibe ich stehen und krame es aus meiner Tasche. Es ist eine Sprachnachricht aus Kanada. Meine Freundin Alex beginnt dort gerade ihren neuen Tag, sie klingt erschöpft. Dass noch immer Asche aus dem Himmel regne, erzählt sie mir. Die Feuer kämen näher, 400 Brandherde derzeit in nächster Umgebung, die Rauchwolken erschweren das Atmen. „Gestern musste ich in der Arbeit zwei Stühle zusammenschieben und mich in der Pause hinlegen“, sagt meine Freundin, „Ich bekam kaum noch Luft.“ Und wie froh sie sei über den Herbst. Sie, die im Winter monatelang in ihrem Ort eingeschneit ist und sonst den Sommer herbeisehnt, kann nur auf Regen hoffen – und auf ein Ende der Feuer.

Mir wird das Herz schwer. Alles ist aus den Fugen. Überall treten die Flüsse über die Ufer, die Brände wüten auf fast allen Kontinenten, die Erde bebt. So vieles ist unsicher geworden, alles steht infrage. Wir sollten dankbar sein über jeden neuen Tag.

Demut, Anerkennung, Dankbarkeit

Das Erntedankfest wird bald kommen. Kaum jemand feiert es noch, schon gar nicht in der alten Tradition. Dankbarkeit ist so selten geworden, überall wird gemeckert und nach dem geschielt, was fehlt. Es gibt kaum noch Demut, Anerkennung dessen, was wir haben. Dabei liegt es an uns, uns darauf zu besinnen. Thanksgiving schwappt aus Amerika herüber, aber das ist ein Abziehbild, die Serien und Filme machen uns Appetit, Truthähne werden zubereitet, Cranberrysaucen in Gläsern gekauft, Marshmallows zum Rösten auf Holzspieße gesteckt. Und auch mir macht das Spaß, ich esse gerne mit Freunden oder der Familie, aber der Tiefe des Anlasses wird das nicht gerecht. Dabei gibt es doch so vieles, wofür ich dankbar sein kann. Darauf kann und werde ich mich besinnen.

Ein Geräusch über mir lässt mich aufblicken. Hoch über dem Schloss zieht eine Schar von Wildgänsen vorüber, sie bilden einen Pfeil, der über die Berge hinweg in den Süden zielt. Ihre innere Uhr ist unfehlbar. Bald werden wir die Zeit umstellen. Die Tage werden kürzer, und es liegt an uns, die Dunkelheit mit Helligkeit zu füllen.

Hinter einem der Schlossfenster sehe ich eine Bewegung. Und wieder stelle ich ihn mir vor, wie er da steht, der menschenscheue Märchenkönig. „Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen“, hat er einmal geschrieben. Das finde ich, auch wenn ich es sicher anders deute als er, ein wundervolles Zitat. Sich immer wieder zu überraschen, neugierig und weltoffen zu bleiben, sich selbst und anderen gegenüber – was kann es Besseres geben?

Ich lächle und hebe die Hand zum Gruß. Dann drehe ich mich um und laufe los, durch den Schatten des Waldes, hin zu der Fähre, die mich über den See tragen wird, dem Herbstlicht entgegen.


Fotos von Lynn Karlin

2023, titelthema, erntedank
Lynn Karlin © privat

Lynn Karlin ist eine mehrfach preisgekrönte Fotografin aus New York. In ihren künstlerischen Fotografien von Gemüse, Obst und Blumen geht es ihr um die offensichtliche, aber oft übersehene Schönheit der Ernte. Ihre Werke werden in Galerien und Designstudios von Paris bis New York ausgestellt. Ihr Stillleben-Kalender 2024 „Food Stills“ ist im Weingarten Verlag erschienen.

 


Buchtipp

 

Christiane Neudecker

Der Gott der Stadt

btb Verlag 2023,

672 Seiten, 14 Euro

 

Christiane Neudecker

Christiane Neudecker ist Schriftstellerin, Librettistin und Regisseurin. Ihre Romane und Kurzgeschichten wurden vielfach ausgezeichnet, die „FAZ“ bezeichnet sie als „Meisterin der Atmosphäre“, ihre „Sommernovelle“ erreichte die „Spiegel“-Bestsellerliste.