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Titelthema

Die USA müssen langfristig führen

Titelthema - Die USA müssen langfristig führen
Big in Japan: Wenn Donald Trump US-Truppen besucht, darf es gern medien- und öffentlichkeitswirksam sein – wie hier in Japan. © Erin Schaff / NYT / Redux / laif

Indem Trump provoziert, beschert er der Nato Feinde. Aber gerade das könnte dem Bündnis mehr Stabilität verleihen.

Joseph S. Nye01.01.2020

Im November 2019 machte der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Gespräch mit der Zeitung The Economist die Bemerkung, dass der Verlust der amerikanischen Führungsrolle zum „Hirntod der Nato“ führe. Er konstatierte, dass es „keine Koordination der strategischen Entscheidungsfindung zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten gebe. Keine.“ Im folgenden Monat nannte US-Präsident Donald Trump während der Feier zum 70-jährigen Bestehen der Nato in London Macrons Kommentare „beleidigend und sehr, sehr böse“. Das anschließende Treffen der beiden Staatsmänner soll dann angeblich in einer gereizten Atmosphäre stattgefunden haben. Ironischerweise führte die Geschichte am Ende dazu, dass Trump die Nato verteidigte.

Provokant, reich, unerfahren
Trump hatte selbst das diplomatische Problem auf sich gebracht. Er zeigte sich bei früheren Nato-Treffen disruptiv, beschuldigte andere Mitgliedsstaaten, die USA bei den Militärausgaben auszunutzen, und kam zu dem Schluss, dass das Bündnis „obsolet“ sei. Wie es die beiden ehemaligen amerikanischen Botschafter der Nato, Nicholas Burns und Douglas Lute, in einem Bericht vom Februar 2019 zusammenfassten, besteht die größte Bedrohung in dem „Fehlen einer starken, prinzipientreuen amerikanischen Präsidialführung – zum ersten Mal in der Geschichte der Nato“.

Donald Trump ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Er ist zugleich der älteste, reichste und der unerfahrenste Präsident. Sein erstes politisches Amt brachte ihn gleich an die Regierungsspitze. Er wusste wenig über Außenpolitik. Seine prägenden Erfahrungen machte er in der Geschäftswelt des New Yorker Immobilienmarktes und im Reality-Fernsehen, das ihm zeigte, wie man die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zieht. Sein eigenwilliger politischer Stil schuf eine besondere Belastung für die amerikanischen Allianzen.

In einer Zeit lange vor Trump hielt sich Amerika aus der Weltpolitik heraus, bis Woodrow Wilson 1917 zwei Millionen Soldaten nach Europa in den Krieg schickte. Erst dann wurde klar, dass die USA nicht nur die größte Volkswirtschaft der Welt waren, sondern auch ein entscheidender Faktor für das globale politische Gleichgewicht. Der Senat lehnte jedoch Wilsons Idee vom Völkerbund ab, und die USA verstanden es nicht, ihre neue Rolle auszufüllen. Stattdessen agierten sie weiter als Trittbrettfahrer bei der Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter, was sich Großbritannien nicht länger leisten konnte. Amerika „kehrte zur Normalität zurück“ und wurde in den 1930er Jahren stark isolationistisch. Einige befürchten, dass so etwas in den USA heute wieder passieren könnte, aber das ist unwahrscheinlich.

Die amerikanische öffentliche Meinung pendelt häufig zwischen Extrovertiertheit und Selbstbeschränkung. Präsidenten wie Franklin Roosevelt erkannten die Fehler des Isolationismus der 1930er Jahre und begannen 1945 mit der Planung der Organisation der Vereinten Nationen. Der Wendepunkt für die Rolle Amerikas in der Welt kam mit den Entscheidungen von Harry Truman, die zu permanenten Allianzen und einer kontinuierlichen militärischen Präsenz im Ausland führten. Als Großbritannien 1947 zu schwach war, um Griechenland und die Türkei zu unterstützen, nahmen die USA seinen Platz ein, und diese Entwicklung gipfelte 1949 in der Gründung der Nato.

Trump verstärkt alte Ressentiments
In den darauf folgenden Jahrzehnten stritt man sich in Amerika über Interventionen in Entwicklungsländern wie Vietnam und Irak, aber nicht über die liberale institutionelle Ordnung und das Nato-Bündnis. Das System fand in der amerikanischen Öffentlichkeit breite Unterstützung, aber bei den Wahlen 2016 argumentierte Donald Trump, dass die Allianzen und Institutionen der Nachkriegsordnung andere Länder zum Nachteil der USA begünstigten. Sein populistischer Appell bescherte ihm die Präsidentschaft, aber der knappe Sieg beruhte nicht vorrangig auf der Außenpolitik. Wirtschaftliche Verwerfungen, die durch die große Rezession 2008 verstärkt wurden, und kulturelle Veränderungen im Zusammenhang mit Rassenfragen, der Rolle der Frau und der Geschlechtsidentität hatten die amerikanischen Wähler polarisiert. Trump verknüpfte diese Ressentiments erfolgreich mit der Außenpolitik, indem er die wirtschaftlichen Probleme auf schlechte Handelsabkommen und die USA ausnutzende Verbündete schob.

Befürworter aktiver Außenpolitik
Die Wahl von Trump im Jahr 2016 spiegelte eher die sich seit den 1960er Jahren entwickelnden tiefen rassischen, ideologischen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft wider, als dass sie sie herbeiführte. Einige Analysten glauben, dass Trumps Aufstieg durch das Versagen der liberalen Eliten verursacht wurde, die zugrunde liegenden isolationistischen Vorlieben des amerikanischen Volkes zu adressieren, aber diese Interpretation ist zu vereinfachend. Natürlich gibt es viele Strömungen in der amerikanischen öffentlichen Meinung, und Eliten sind im Allgemeinen mehr an der Außenpolitik interessiert als die breite Öffentlichkeit. Seit 1974 fragt das Chicago Council on Global Affairs die Amerikaner regelmäßig, ob es besser für das Land sei, eine aktive Rolle zu übernehmen oder sich besser von der Weltpolitik fernzuhalten. Damals war etwa ein Drittel der Öffentlichkeit konsequent isolationistisch eingestellt und knüpfte damit an die Tradition des 19. Jahrhunderts an. Diese Zahl kletterte 2014 auf 40 Prozent, aber entgegen eines beliebten Mythos stellte das Jahr 2016 keinen Höhepunkt isolationistischer Tendenzen nach 1945 dar. Zum Zeitpunkt der Wahl befürworteten 64 Prozent der amerikanischen Öffentlichkeit eine aktive Beteiligung an der Weltpolitik, und diese Zahl stieg bei einer Umfrage 2018 auf 70 Prozent, der höchste Wert seit 2002. Die Mehrheit der Öffentlichkeit hat realisiert, dass sich die Welt verändert hat und die traditionelle Isolation keine Option mehr ist.

Trump ist es gelungen, eine populistische Basis zu beleben, die Quelle hierfür liegt aber eher in der Innen- als in der Außenpolitik. Am bemerkenswertesten ist, wie stark die Unterstützung für eine so aktive Außenpolitik war. Umfragen zeigen eine starke Unterstützung der Nato nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Presse, im Kongress und bei den Staatsdienern. Solange Amerika einen so eigenwilligen Präsidenten hat, wird es eine Bedrohung für das Bündnis geben. Doch wenn er die Europäer dazu bringt, sich stärker für die Verteidigung zu engagieren, könnte die Nato davon auch profitieren. Die Aufmerksamkeit der Presse hat sich auf die jüngsten provokanten Auslassungen Trumps konzentriert, aber in einem größeren historischen Zusammenhang gesehen, können wir wohl davon ausgehen, dass die Nato diese Bedrohung – wie so viele andere in der Vergangenheit – überleben wird.

Joseph S. Nye
Joseph S. Nye ist Professor in Harvard und Autor des kürzlich erschienenen Buches „Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump”. Er war Dekan der Kennedy School of Government in Harvard. In der Regierung hatte er das Amt des stellvertretenden Verteidigungsministers und Vorsitzenden des National Intelligence Council inne. hks.harvard.edu