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Interview mit Volker Herres

»Die Zukunft des TV ist nicht interaktiv«

Interview mit Volker Herres - »Die Zukunft des TV ist nicht interaktiv«
ARD-Programmdirektor Volker Herres © Armin Brosch

ARD-Programmdirektor Volker Herres über die Zukunft des Fernsehens, die Mitbestimmung der Zuschauer und den Plan für ein neues Portal

31.05.2016

Genau 223 Minuten sieht jeder Deutsche täglich fern, im Durchschnitt, die Jüngeren weniger, die Älteren mehr, Volker Herres sehr viel mehr. An der Stirnseite seines Büros hängen vier Bildschirme, über die pausenlos Bilder laufen. „Ich gucke natürlich sehr viel dienstlich“, sagt Herres. Der 58-Jährige ist Programmdirektor der ARD, er plant und koordiniert die Sendungen für das Erste Programm. Und das muss sich gegen neue Konkurrenten wappnen.

Herr Herres, Streamingdienste wie Netflix breiten sich in Deutschland aus; dort können die Zuschauer selbst entscheiden, wann sie was sehen wollen. Welche Zukunft hat da noch das traditionelle Fernsehen mit starrem Programm?
Im Moment gibt es den Trend, das lineare Fernsehen totzusagen. Ich teile diese Auffassung nicht, ich orientiere mich an Fakten. Es gibt derzeit keinen Rückgang der linearen Fernsehnutzung. Sie ist über die Jahre immer gestiegen und auf einem sehr hohen Niveau, und das in allen Altersgruppen.

Aber die Jüngeren schauen weniger fern als die Älteren.
Das war schon immer so. Derzeit geht die tägliche Sehdauer bei Jüngeren geringfügig zurück, liegt aber immer noch bei zwei Stunden. Insgesamt hat der Medienkonsum der Jüngeren extrem zugenommen, sie nutzen bis zu neun Stunden täglich Medien, über alle Medienformen hinweg. Die Internetnutzung, die nonlineare Nutzung, kommt on top auf die bisherige Mediennutzung. Noch nie hat ein neues Medium ein altes verdrängt. Das alte verändert nur seine Funktion, wenn ein neues hinzutritt. Lineares Fernsehen bietet etwas Einzig­artiges, das es immer auszeichnen wird: Es ist ein großes Live-Medium. Sportereignisse wie ein Spitzenfußballspiel guckt man sich nicht eine Woche später an.

Den Hauptteil des Fernsehprogramms machen doch Serien und Filme aus. Die kann ich mir zeitversetzt anschauen, ohne was zu verpassen.
Ja, die können Sie zeitversetzt sehen. Interessant ist, dass ein „Tatort“ trotz­dem linear so zwischen acht bis zwölf Millionen Zuschauer erreichen kann, zeitversetzt übers Internet rufen ihn nur 200.000 Menschen ab.

Sonntags um 20.15 Uhr den „Tatort“-Krimi gucken, das ist längst Tradition geworden, das ist ein Sonderfall.
Auch eine Funktion, die lineares Fernsehen bietet: kollektives Sehen. Es ist ein Unterschied, ob sie einen Film alleine sehen oder ob sie ihn in dem Bewusstsein schauen, dass ihn jetzt ganz viele gucken. Das Gespräch über diesen Film begründet eine Gemeinschaft. Wer „Tatort“ am Sonntag­abend nicht gesehen hat, kann am Montag am Arbeitsplatz nicht mit­reden. Diese Grundfunktion von Fernsehen bleibt immer.

Über Serien wie die Krankenhausreihe „In aller Freundschaft“ spricht am nächsten Tag sicher nicht das ganze Büro.
Diese Serie gucken Woche für Woche Millionen Menschen, sie kommt auf einen Marktanteil von 18 Prozent. Die Dienstagsserien „In aller Freundschaft“ und „Um Himmels Willen“ sind die erfolgreichsten Serien im deutschen Fernsehen …

… weil das Erste vorwiegend ältere Zuschauer anzieht.
Ja, aber mit anderen Serien erreichen wir auch ein jüngeres Publikum. Auch eine Serie wie „Weissensee“, die im Berlin der Wendezeit spielt, lief absolut erfolgreich mit über 17 Prozent Marktanteil – in der linearen Ausstrahlung, obwohl wir sie im Internet auch zeitversetzt angeboten hatten. Die vierte Staffel geht gerade in Produktion.

Trotz Internets ist die durchschnittliche Sehdauer in den vergangenen Jahren tendenziell gestiegen. Läuft der Fernseher bei vielen Bürgern nur noch nebenbei?
Die Deutschen werden erfreulicherweise sehr alt, und Ältere gucken länger Fernsehen. Ja, insgesamt hat sich auch die Nutzung geändert. Was man aus der eigenen Kindheit kennt, dass Familien sich gewaschen und gekämmt am Abend vor dem Fernseher versammeln, um vom Kind bis zum Greis gemeinsam einen Film anzuschauen, das ist schon deshalb untypisch, weil es solche Familien gar nicht mehr so häufig gibt. Fernsehschauen ist flüchtiger geworden, es gibt weniger Bindung an einzelne Formate, es gibt in der Tat Begleitfernsehen, insbesondere vormittags und nachmittags.

Wie wirkt sich das auf die Dramaturgie der Serien aus?
Man achtet bei den Vormittags- und Nachmittagsserien schon darauf, dass der Zuschauer der Handlung auch dann noch folgen kann, wenn er einen Moment abgelenkt ist.

Wie weit sind die Pläne für ein gemein­sames Internetportal von ARD und ZDF gediehen?
Das ist derzeit nicht in der Diskussion. Aber wir in der ARD überlegen, wie wir unsere filmischen Angebote noch attraktiver über eine Mediathek anbieten können. Wir haben ja die Mediathek des Ersten und eineARD-Mediathek, die dritten Programme haben jeweils eine Mediathek, und sogar die Spartenkanäle haben eigene. Wir denken über eine Bündelung nach und über eine personalisierte Nutzung, sodass sich der einzelne Zuschauer mit seinen individuellen Interessen anmelden kann. Wer etwa oft Krimis online abruft, erhält dann gezielte Hinweise auf ähnliche Filme. Wer sich vorwiegend für politische Sendungen interessiert, bekommt weitere politische Sendungen empfohlen.

Wann startet das Angebot?
Das kann ich im Moment nicht sagen. Wir diskutieren darüber.

Worin unterscheidet sich die öffentlich-rechtliche ARD von privaten Sendern wie RTL oder SAT.1, wenn sie Serien wie „In aller Freundschaft“ oder „Rote Rosen“ anbietet?
Diese Formate würde RTL nicht zeigen, weil sie eher ein älteres Publikum ansprechen. Aber wir haben natürlich auch andere An­gebote, die sich massiv von denen der Privaten unterscheiden. Die Privaten machen sehr wenig im fiktionalen Bereich, in der Regel produzieren sie sehr stark Shows und Entertainment. Und in der Information sieht es ziemlich mau aus. Bei uns in der ARD machen Informationssendungen 40 Prozent des Programms aus, zweite Säule ist das Fiktionale mit 39 Prozent.

Früher erregte das Erste mit seinen politischen Magazinen Aufsehen. Warum ist das nicht mehr so?
Die Dopingfälle in der russischen Leichtathletik hat die ARD aufgedeckt, auch Wikileaks. Aber die politischen Magazine kommen aus einer Zeit, in der die Medienlandschaft eine ganz andere war. Da gab es nicht die Fülle an Angeboten wie heute …

Haben sich die politischen Fernsehmagazine überlebt?
Nein, das glaube ich nicht. Ihre Funktion hat sich gewandelt. Sie sind heute hintergründiger, vertiefen Informationen. Früher waren sie sehr stark politische Meinungsmagazine, die aus einer bestimmten politischen Grundhaltung heraus gesendet haben. Aber die Schlachten zwischen linkem und rechtem Lager sind ja nicht mehr die politische Frontstellung. Das hat sich in der Gesellschaft geändert, und das spiegelt sich in den politischen Magazinen wider.

Auch die Übertragung der Handball-Weltmeisterschaft 2017 in Deutschland wäre eine Informationssendung. Aber daraus wird wohl nichts, oder?
Nach jetzigem Stand werden wir die Spiele nicht zeigen können, weil der Rechteinhaber BeIN Sports, eine Tochter des arabischen Senders Al Jazeera, mit uns nur sprechen will, wenn wir damit einverstanden sind, eine Übertragung so zu gestalten, dass sie nicht außerhalb Deutschlands zu empfangen ist. Da wir unser Programm aber auch über Satellit verbreiten, ist das nicht machbar.

Vom Boxen hat sich die ARD schon 2014 verabschiedet. Für immer?
Das will ich so nicht sagen. Wir haben 2014 den Vertrag mit dem Veranstalter Sauerland nicht verlängert, haben aber auch immer gesagt, wenn es Boxveranstaltungen von überragendem Interesse gäbe, schließen wir eine Übertragung nicht aus. Also wenn etwa ein deutscher Muhammed Ali käme.

Mit dem Abo-Sender Sky produziert die ARD gerade „Babylon Berlin“, mit 40 Millionen Euro die teuerste ARD-Serie. Auch bei vielen Kinofilmen kooperiert die ARD mit privaten Firmen. Sind überhaupt noch deutsche Kinofilme ohne Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Sender möglich?
Ja, solche Produktionen gibt es noch. Aber es wäre für die deutsche Kinolandschaft eine Katastrophe, wenn wir aus der Produktion von Kinofilmen ausstiegen, was wir nicht vorhaben.

Was ist Ihnen wichtiger: eine hohe Zuschauerquote oder eine hohe Qualität?
Ich will beides: Qualitätsführerschaft und eine hohe Quote. Ich will mit dem Ersten ganz vorne mitspielen.

Wie soll das funktionieren: hohe Quote und hohe Qualität?
Ich glaube, dass es ein Spannungs­verhältnis zwischen beiden gibt, aber das beides sehr wohl zusammen geht. Im Fiktionalen haben wir mit sehr relevanten und mit sehr herausfordernden Stoffen für das Publikum Riesenquoten. Die Neuverfilmung „Nackt unter Wölfen“ über das Konzentrationslager Buchenwald erreichte 17,3 Prozent im Gesamtpublikum und bei den 14- bis 49-jährigen Zuschauern immerhin noch 13,1 Prozent. Qualität und Quote zusammenzuführen ist die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Sender. Das rechtfertigt die Haushaltsabgabe. Wenn ich ein Minderheitenprogramm mache, aber alle zahlen müssen, dann habe ich keine Legitimation für das Privileg der Haushaltsabgabe. Und wenn ich ein Programm mache, das qualitativ nichts Besonderes bietet, habe ich die Legitimation auch nicht.

Kultursendungen wie beispielsweise„Titel, Thesen, Temperamente“ (TTT) sind ja nicht die Quotenbringer.
Nein, natürlich nicht. Aber wir machen sie trotzdem, weil wir in einer Mischkalkulation sind. Die ganz große Masse wird sich nie für anspruchsvolle Kultur interessieren. Ein Problem habe ich nur, wenn ich mit dem Kulturmagazin auch die Kulturinteressierten nicht mehr erreiche.

Sie selbst twittern sehr viel. Wann kommt das interaktive Fernsehen? Wann können die Zuschauer übers Internet die Handlung eines Films mitbestimmen?
Das bieten wir ja immer wieder an. Aber ich glaube nicht, dass die Zukunft des Fernsehens interaktiv ist. Fernsehen ist ein Lean-Back-Medium: Man schaltet das Gerät ein, auch weil man ein bisschen abschalten will. Man möchte aufnehmen und nicht unbedingt dabei aktiv sein. Ein bisschen ändert sich das sicher, wenn man heute beobachtet, dass gerade Jüngere oft neben dem Fernseher auch ihr Notebook oder ihr Smartphone im Blick haben. Wir ma­­chen auch Angebote, wo der Zuschauer interaktiv übers Tablet Sendungen begleiten kann. Im Vorabendprogramm läuft ein Quiz, bei dem die Zuschauer über eine App mitspielen können. Und wir werden das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach fürs Fernsehen umsetzen. Dafür drehen wir zwei unterschiedliche Schlussszenen und lassen das Publikum entscheiden, welche wir ausstrahlen. Wenn alles nach Plan läuft, zeigen wir das Stück im letzten Quartal dieses Jahres.