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Digitale Erschöpfung
Das Neue Arbeiten ist zum Mainstream geworden. Aber die Anzeichen mehren sich, dass mehr Flexibilität und Mobilität neue Probleme mit sich bringen. Ein Plädoyer für eine gesellschaftliche und politische Debatte über die Schattenseiten des Trends.
Das eigentliche Versprechen der Neuen Arbeit war es nie, Technik um ihrer selbst willen einzusetzen. Es ging darum, mit neuen, intelligenteren Arbeitsweisen effizienter zu sein. Dann zu arbeiten, wenn man am produktivsten ist. Zwischendurch private Dinge erledigen zu können und so die Arbeit von acht oder neun Stunden in fünf zu erledigen. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus: Wir quetschen immer mehr Leistung und Ergebnisse in unseren Tag, stehen ständig unter Strom, schalten nie ab. „Arbeitsverdichtung“ nennen Experten das. Klingt harmlos, ist es aber nicht. Schon weil die Arbeit längst auch unser Privatleben erreicht hat. „Lebensverdichtung“ wäre ein passenderer Begriff. Die Manie, To-do-Listen abzuarbeiten, wird zum Mantra.
Immer erreichbar
Einige Zahlen: 84 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer sind erreichbar, nachdem sie das Büro verlassen haben. 46 Prozent geben an, keine Fünf-Tage-Woche zu haben, sondern auch abends und an den Wochenenden zu arbeiten. Zudem ist die Mehrheit der Beschäftigten auch während des Sommerurlaubs für Kollegen, Vorgesetzte und Kunden erreichbar. 67 Prozent antworten auf dienstliche Anrufe, E-Mails oder Kurznachrichten, so eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom. 20 Prozent arbeiten mit ihrem Smartphone, Tablet oder Computer, kurz bevor sie schlafen gehen.
Kein Wunder also, dass Krankenkassen Alarm schlagen. Über 50 Prozent aller von ihnen Befragten haben regelmäßig Schlafprobleme, 13 Prozent sogar jede Nacht. Die Zahl der Fälle von psychischen Erkrankungen, die wohl auf Stress zurückzuführen sind, stieg seit 1994 um 120 Prozent. Durch psychische Erkrankungen verursachte Fehlzeiten erhöhten sich in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent. „Flexibilität braucht klare Schranken“, mahnt der AOK-Verband. Ein frommer Wunsch – der Trend geht in die andere Richtung. All das kostet nicht zuletzt eine Menge Geld: Die wirtschaftlichen Kosten belaufen sich auf 225 Milliarden Euro pro Jahr – eine Zahl, die weiter steigen wird.
Der Feierabend ist ein Auslaufmodell: Konzepte wie der regelmäßige Weg zur Arbeit, der Nine-to-five-Tag, das Büro als Zentrum der Kollaboration – oder eben der für alle gleiche und verbindliche Feierabend mit all den kulturellen Konnotationen, die daran hängen –, werden zunehmend Nostalgie sein. Ich habe das immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen, habe die Vorteile der Selbstbestimmtheit betont. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht ist der Feierabend gar nicht altmodisch, sondern im Gegenteil hochmodern. Noch vor wenigen Jahren wurde diskutiert, ob mobile und flexible Arbeitsmodelle auch für Festangestellte eine Modeerscheinung sind, ein Phänomen aus dem Silicon Valley, das hierzulande höchstens Technologieunternehmen adaptieren. Das Bild hat sich radikal gewandelt: Die Frage, ob die neue Arbeitswelt kommt, ist eindeutig beantwortet: Ja, sie kommt. Die Fragen, die sich Unternehmen jetzt stellen, sind: Wie kommt sie? Was müssen wir tun, damit wir mitspielen können? Die Fragen, die wir uns alle stellen müssten, lauten: Wollen wir das wirklich? Wie können wir die Entwicklung so gestalten, dass unser Leben, wie wir es kennen, nicht fundamentalen Schaden nimmt? Und zwar nicht nur das Arbeitsleben, denn wenn alles Arbeit wird, bleibt auch im Privaten nichts, wie es ist. Wir sehen das in Ansätzen schon heute: Wir schalten nie ab. Wir arbeiten immer und überall. Jeder kennt das, dieses ständige Gefühl des Gehetztseins. Nie fertig zu werden. Immer alles nur „gerade so“ hinzubekommen. Keine Zeit für sich zu haben, für Konzentration und Kontemplation, fürs Nachdenken, Träumen. Für Genuss, Zweisamkeit, Familie. Denn da ist immer schon die nächste E-Mail, die nächste „Telko“, die nächste Deadline. Wir funktionieren als Teil dieser Effizienzmaschine – aber leben wir? Steuern wir noch die Maschinen und Algorithmen, oder steuern sie uns bereits?
Wollen wir das wirklich?
Es ist eine schmerzhafte, aber nicht von der Hand zu weisende Erkenntnis: Die technologisch getriebene Arbeitsrevolution, die uns von Anwesenheitspflicht und Schreibtischzwang befreien und uns mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit und Lebensqualität bringen sollte – die uns zudem produktiver und effizienter machen sollte – sie versklavt uns nun auch jenseits des Büros. Das hat drei Gründe:
1. Ökonomisch/arbeitsorganisatorisch: Unternehmen müssen verstehen, dass sie nicht das Neue einführen und das Alte trotzdem beibehalten können. Wenn Arbeitgeber erwarten, dass ihre Mitarbeiter noch mal den Laptop aufklappen, wenn die Kinder im Bett sind, und am Wochenende Mails beantworten, dann können sie nicht gleichzeitig verlangen, dass sie am nächsten Morgen wieder um neun Uhr im Büro sind und bis 18 Uhr bleiben. Die Versuche, das Thema mit Regeln einzugrenzen, wirken bislang gestrig und naiv: Wenn bei Volkswagen abends die E-Mail-Server ausgehen, mailen die Mitarbeiter eben vom Privat-Account weiter. Wenn Daimler alle im Urlaub eingegangenen Nachrichten automatisch in den Papierkorb des E-Mail-Programms verschiebt, dann sagen selbst die Teilnehmer eines von mir geleiteten Führungskräfteseminars, dass sie das keineswegs entspannter macht.
2. Menschlich/psychologisch: Wir erleben gerade einen massiven Kulturwandel. Es gibt ganz neue Werkzeuge, mit denen wir über Raum und Zeit hinweg mit anderen kommunizieren und zusammenarbeiten können. Uns fehlen aber die Absprachen – ja‚ die Kulturtechniken, wie wir mit diesen Werkzeugen umgehen wollen. Wir haben schlicht nicht genug Zeit, Konventionen zu entwickeln. Denn die digitale Transformation schreitet nicht langsam fort, sie reißt uns förmlich mit sich – das liegt nicht zuletzt an der exponentiellen Natur technologischer Veränderung. Während Angestellte in großen Unternehmen noch darüber diskutieren, wie viele Empfänger man bei E-Mails in „cc“ nehmen sollte, kaufen ihre Chefs bei Technologieanbietern längst digitale Kollaborationsplattformen, mit denen man von überall Dokumente austauschen, Projekte managen und sich über die Arbeit unterhalten kann. Die, gerade weil sie so praktisch und allgegenwärtig sind, ihre global vernetzten Tentakel noch fester um unser Privatleben schlingen.
3. Gesellschaftlich/politisch: Der Gesetzgeber hinkt der Debatte hinterher. Während das Arbeitsministerium versucht, sich dem Thema unter mit live ins Netz übertragenen Diskussionsrunden und Positionspapieren voller Buzzwords wohlwollend zu nähern sowie ein Recht auf Homeoffice in Gesetzesform gießen möchte, während Gesetzesinitiativen gegen Arbeitsstress versanden, schafft die ökonomische Macht des Faktischen in Form neuer IT und Arbeitsabsprachen in Unternehmen ständig neue Fakten – wie die Betriebsvereinbarung zum Vertrauensarbeitsort bei Microsoft Deutschland, dank der Mitarbeiter ganz offiziell von überall arbeiten dürfen.
Weil nach Rechnung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mittlerweile zwei Drittel aller Beschäftigten einen digitalisierten Arbeitsplatz haben, fordern diese eine Deregulierung des Arbeitszeitgesetzes, vor allem der sogenannten Mindestruhezeit von elf Stunden. Die Arbeitgeber fordern, das Arbeitszeitrecht auf eine maximale Wochenarbeitszeit umzustellen.
Das aktuelle EuGH-Urteil, nach dem Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit granular erfassen müssen – also selbst die fünf Minuten, in denen sie abends noch eine dienstliche E-Mail beantworten, ist auf den ersten Blick ein Schritt in die richtige Richtung: Immerhin erkennt es an, dass Arbeit längst schon nicht mehr nur zu Kernarbeitszeiten im Büro geleistet wird. Und in Branchen, die nach Zeit abrechnen – von Anwälten bis zu Kreativagenturen – mag eine minutengenaue Zeiterfassung durchaus im Sinn von Arbeitnehmer und Arbeitgeber sein. Und doch ist dies ein Schritt in die falsche Richtung: Das erhebliche Emanzipationspotenzial des Neuen Arbeitens beruht ja gerade darauf, nicht mehr Arbeitszeit zu messen, sondern Ergebnisse – wann und wo diese erbracht werden, wird zunehmend egal.
Dennoch muss sich die Politik intensiver mit den Schattenseiten des allgegenwärtigen Neuen Arbeitens befassen. Denn die große Frage lautet ja: Welche Weichen müssen jetzt – auch in gesetzgeberischer Regulierung und gesellschaftlichen Werten – gestellt werden, damit die nächste Generation nicht in einer Welt aufwächst, die so keiner wollte? Die einfach passiert ist.
Buchtipp
Markus Albers: „Digitale Erschöpfung“ Hanser Verlag 2017, 288 Seiten, 22 Euro
hanser.de