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Reflektion und Einordnung

»Dinge werden zu Daten – und Daten zu Dingen«

Eine Technologie verändert die Welt. Dank immer ausgereifterer Techniken gibt es schon heute kaum noch etwas, das man nicht in 3D „drucken“ könnte. Dieser Beitrag beschreibt den historischen Kontext, die technischen Möglichkeiten und fragt, welche Konsequenzen diese Entwicklung für unser Leben hat.

16.04.2015

Es gibt nicht allzu viele Intellektuelle, die sich im Lande der Dichter und Denker unvoreingenommen mit den Folgen des digitalen Wandels unseres Lebens befassen. Einer davon ist Gundolf S. Freyermuth. Ein Gespräch über die Kräfte hinter der 3D-Druck-Bewegung, ihre Einordnung in die Wirtschaftsgeschichte und die ökonomischen Folgen.


Herr Freyermuth, ist die 3D-Technologie der nächste Schritt der industriellen Revolution?
Vielleicht das auch. Aber neben der ökonomischen Rolle der 3D-Druck-Technologie gibt es genauso wichtige kulturelle und soziale Aspekte. Viele Leute vergleichen die Entwicklung ja mit dem Aufkommen des PCs, der bekanntlich mehr als eine technische Erfindung war. Denn die Elemente, um ihn zu bauen, existierten schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Aber selbst führende Köpfe der Computerindustrie meinten damals: Kein Mensch braucht einen eigenen Computer. Bis eine Graswurzelbewegung von jungen Leuten entstand, die sagten: Wir wollen aber persönliche Computer haben! Es begann mit Bausätzen wie dem Altair, und bald erkannten Visionäre wie die beiden Steves, Wozniak und Jobs, das ungeheure Potential des PCs, unser Leben zu verändern. Anfang der 80er Jahre zog IBM nach und persönliche Computer wurden ein Milliardengeschäft.
Die 3D-Technologie steht heute vermutlich dort, wo der PC Ende der 70er Jahre stand: Eine wachsende Hobbyisten-Szene verlangt nach dieser Technologie, nicht nur aus ökonomischen Interessen, sondern vor allem aus sozialen und kulturellen Bedürfnissen.


Wie müssen wir diese Entwicklung industriegeschichtlich einordnen?
Wir dürften am Anfang einer neuen Etappe stehen. In der Subsistenzwirtschaft, wie sie noch in der frühen Neuzeit existierte, haben alle mehr oder weniger alles hergestellt und zwar zu Hause: Lebensmittel, Kleidung, Möbel. Im Zuge der Mechanisierung entstanden dann Handwerk und Geldwirtschaft. Diese Arbeitsteilung eskalierte mit der Industrialisierung. Die Produktion dessen, was wir zum Leben brauchen, rückte immer weiter weg von den Orten, an denen wir leben – in Manufakturen und Fabriken, vor die Tore der Stadt, in überregionale Produktionszentren, ans andere Ende der Welt.
Parallel zur Industrialisierung kam daher die Sehnsucht auf, nicht nur ein Rädchen im Getriebe zu sein, sondern selbst ganzheitlich zu gestalten, mit eigenen Händen und unter eigener Kontrolle. Das trieb die Bastler-Bewegungen der vergangenen 150 Jahre, von den Modellbau-Enthusiasten bis zur heutigen Milliardenindustrie der Heimwerker. Und genau diese Sehnsucht speist auch das Verlangen nach dem eigenen 3D-Drucker – selbst zu produzieren, zu Hause, nach dem eigenen Geschmack.


Wer sind die Protagonisten dieser Bewegung?
Wir haben es im wesentlichen mit zwei Gruppen zu tun: 1. Wissenschaftler, die Basisforschung leisten, und 2. Menschen, die diese Innovationen anwenden und damit kommerziell auswerten wollen. Einer der führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet ist Neil Gershenfeld vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Der spricht übrigens – wie die Wissenschaft insgesamt – nicht von 3D-Druckern, sondern von „Fabs“, digitalen Fabrikatoren. Denn Drucken ist ja nur ein Moment digitaler Fabrikation. Die besseren Geräte können zusätzlich sägen, fräsen, schneiden und einiges mehr. Der Wissenschaft geht es darum, die Lücke zwischen der Welt der Daten und der Welt der Atome zu schließen. Gershenfelds Institut heißt MIT Center for Bits and Atoms. Erforscht wird, wie sich Dinge in Daten und Daten in Dinge verwandeln lassen.


Und wie sieht die kommerzielle Seite aus?
Durch digitale Fabrikatoren soll die Automatisierung der Waren- wie der Lebensmittelproduktion auf eine höhere Stufe gehoben werden. Eine chinesische Firma stellt zum Beispiel mittels eines riesigen 3D-Druckers ganze Häuser her. Die sind halb so teuer wie reguläre Häuser und lassen sich doppelt so schnell herstellen. Selbst ein Burger wurde schon aus Eiweißen synthetisch „gedruckt“. Als der verspeist wurde, kostete das eine Viertelmillion Dollar – es stellte sich heraus, dass der Finanzier Google-Gründer Sergej Brin war. Die Technologie ist also da. Und sie wird, das zeigt die Technikgeschichte, kontinuierlich billiger. Diese Dinge sind nicht Zukunft, sondern Gegenwart.
Kulturell spannend daran ist, wie sich gewissermaßen auf Umwegen populäre Utopien realisieren. Digitale Fabrikatoren erinnern ja zumindest von Ferne an den Replikator, der in der Sci-Fi-Serie „Star Trek – The Next Generation“ aus subatomaren Partikeln einfach alles herstellen kann. Ebenso verwirklichen 3D-Drucker den immateriellen Transport von Dingen über größere Distanzen: Gegenstände werden an einem Ort gescannt, die gewonnenen Daten über das Internet an einen anderen Ort verschickt und dort wieder in 3D ausgedruckt. Das ist natürlich kein Star-Trek-Beamen, aber es geht ein Stück weit in die Richtung dieser Utopie.


Welche kulturelle Dimension hat die 3D-Fabrikation?
Menschliche Kultur wird ganz wesentlich von Transport- und Kommunikationssystemen definiert. Buchdruck und Buchhandel schufen genauso eine neue Kultur wie Radio und Fernsehen oder das Internet. Dabei scheint das 3D-Drucken einen Wendepunkt zu markieren. Denn bis zur Industrialisierung nutzten Kommunikation und Transport dieselben Wege. Informationen konnten nicht schneller reisen als Waren. Ein Buch brauchte von A nach B genauso lange wie ein Fass Bier. Mit dem Telegrafen trennte sich dann zum ersten Mal die Kommunikation vom physischen Transport. Seitdem können Informationen schneller als Waren reisen. Danach kamen Telefon, Radio, Fernsehen – reine Kommunikationsnetze, unabhängig von den Netzen des Transports. Seit der Digitalisierung verändert sich dieses Verhältnis nun wieder. Dienten vor der Industrialisierung die Transportnetze auch der Kommunikation und der Distribution von Kulturwaren, so werden nun die neuen digitalen Kommunikationsnetze zusätzlich für den Transport von digitalisierten Büchern, Musik, Filmen verwendet. Die neue Einheit von Transport und Kommunikation, die sich darin andeutet, verdankt sich natürlich dem Umstand, dass an einem Ende Dinge zu Daten werden, um dann am anderen Ende wiederum in Dinge verwandelt werden zu können.


Andererseits unterlag das Endprodukt immer noch physischen Grenzen.
Ja, in den vergangenen 20 Jahren beschränkte sich das auf Kulturwaren: Texte, die geschrieben oder eingescannt und hochgeladen und dann wieder heruntergeladen und ausgedruckt wurden. Ebenso Musik, Fotos oder Filme – alles gewissermaßen zweidimensional. Für die dritte Dimension, die der Höhe und Formung, gab es eine Grenze – und diese fällt jetzt.


Welche Konsequenzen hat das für unser alltägliches Leben?
Ich denke, es handelt sich um eine nachhaltige Steigerung von Individualisierung. Mit der Renaissance trat das Individuum bekanntlich aus dem Kollektiv heraus. Ein deutliches Indiz war das wachsende Verlangen nach einer Privatisierung der Verfügung über Waren und Informationen. Das Musterbeispiel dafür gibt die Uhr, die eine Basistechnologie war, so etwas wie der Computer der frühen Neuzeit. Zunächst existierten Uhren nur als kollektiver Besitz, als Kirchturm- oder Rathausuhren, die mehrere Menschen zu ihrer Bedienung erforderten und der Gemeinschaft die Zeit angaben. Das starke Verlangen der neuzeitlichen Menschen nach Privatisierung brachte Uhren dann in die Wohnhäuser, erst als Stand- und Wanduhren, dann als noch kleinere Tischuhren. Der nächste Schritt führte von der privaten Uhr der Familien zur persönlichen Uhr des Individuums, zur Taschenuhr und Armbanduhr.
Mit der Industrialisierung erhielt dieser Prozess einen gewaltigen Schub, denn Massenproduktion senkte die Kosten und erlaubte daher immer mehr Menschen, Dinge wie Uhren privat zu besitzen, die sich zuvor nur die Oberschicht leisten konnte oder die nur kollektiv zur Verfügung standen, etwa Bäder in Badehäusern oder Bücher in Bibliotheken. Der Preis der Privatisierung der Verfügung bestand freilich in der Massenproduktion. Die industriellen Konsumgesellschaften schufen eine Umwelt, die aus standardisierten Versatzstücken bestand. Dies führte mit einer gewissen Logik zur gesteigerten Sehnsucht nach Personalisierung, die sich aber im industriellen Alltag kaum jemand leisten konnte – von selbst gestrickten Pullovern einmal abgesehen. Wie stark dieses Verlangen war, zeigte sich zum Beispiel bei der Umstellung von analoger auf digitale Telefonie. Analoge Telefone klingelten alle gleich. Sobald sich das ändern ließ, waren Hunderte von Millionen Menschen willens, für exotische Klingeltöne Geld auszugeben.
Generell erleichtert ja Software Personalisierung – der Weg führt vom standardisierten Hardware-Interface zur personalisierten Start-Screen des PC, von der festen Abfolge der Songs auf CDs zur persönlichen Playlist usf. Mit der 3D-Technologie kommen wir nun in die Lage, auch im Bereich des Materiellen die Sehnsucht nach Personalisierung zu bedienen.


Was bedeutet es für unser Empfinden von Begriffen wie „echt“ oder „authentisch“, wenn die Produkte um uns herum zwar alle individualisiert sind, aber letztlich nur noch Kopien von irgendetwas?
Die Produkte eines 3D-Druckers müssen eben keineswegs reine Kopien sein. Sie sind Ausdruck – mir fällt gerade auf, welch wunderbar doppeldeutiges Wort das ist – digitaler Kodierungen. Um Unikate nach eigenen Vorlieben herzustellen, muss die Software nur minimal manipuliert werden, etwa um die Größe, Proportionen, Farbgebung zu verändern.


Im Moment scheint es aber noch so, als ob viele Menschen ihre Sehnsucht nach Personalisierung eher durch den Rückgriff auf analoge Dinge befriedigen, Schallplatten etwa oder hochwertige Bücher.
Ja, je radikaler sich die Zeiten wandelten, um so größer war immer schon das Bedürfnis, die vergehende Welt noch eine Weile zu genießen, sozusagen im Rückspiegel, bevor sie endgültig verschwindet. Das Musterbeispiel dafür gibt die Arts-and-Crafts-Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die mit der Rückkehr zu alten Handwerkspraktiken gegen die empfundene Hässlichkeit der industriellen Massenprodukte ankämpfte. In der Gegenwart praktiziert Manufactum Vergleichbares. Solche Rückwendung hat einige Zeit einigen Erfolg, aber sie hat noch nie den Lauf der Dinge aufgehalten.
Zumal die bahnbrechende Pointe von 3D-Drucken und digitaler Fabrikation ja ist, dass die Trennung von analog und digital, von Atomen und Bits überwunden wird. Bislang erlebten wir primär die Ersetzung von Hardware durch Software: Die physische Klingel wurde zum Klingelton, die Schreibmaschine zum Word-Programm usf. Jetzt gewinnen wir als Einzelne die komplementäre Möglichkeit, Daten in Dinge zu verwandeln. Das ist ein faszinierender Schritt.


Welche ökonomischen Folgen hat „3D“?
3D-Drucker stellen – bislang – vor allem Einzelstücke oder Kleinserien im Bereich der Heimproduktion her oder auch Prototypen neuer Produkte, etwa in der wissenschaftlichen Forschung oder der kommerziellen Entwicklung. Ökonomisch lässt sich das mit Desktop-Publishing und On-Demand-Druck vergleichen. Wir können heute mit Laserdruckern eine Qualität erzeugen, die kaum von einem Offset-Druck zu unterscheiden ist und auch Kleinstauf-lagen erschwinglich herstellen. Dennoch ist der Stückpreis dafür niemals so günstig wie beim Massendruck. Ebenso dürfte 3D-Drucken – jedenfalls, wie wir es bisher kennen – kaum so billig werden wie Fabrikproduktion.
Der 3D-Druck gefährdet somit weniger die industrielle Produktion, sondern eher die handwerkliche Fertigung von Unikaten und Kleinserien. Denn diese wird mit digitaler Fabrikation für Einzelne technisch möglich und finanziell erschwinglich. Das aber ist viel und wird unsere Umwelt wie unser Arbeiten nachhaltig verändern.

Das Interview führte René Nehring.


Weitere Infos unter: www.freyermuth. com