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Titelthema

Objekt oder Subjekt?

Titelthema - Objekt oder Subjekt?
Erfurt, Thüringen: Der Garten des Seniorenklubs Roter Berg ist Dorothea K. eine willkommene Anlaufstelle, wenn ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. „Klub der Volkssolidarität“ hieß der Versammlungsort zu DDR-Zeiten, mittlerweile ist daraus ein Treffpunkt der Generationen inklusive Kita entstanden. In der umliegenden Plattenbausiedlung waren in den Nullerjahren Tausende fortgezogen. © Stephanie Steinkopf/Ostkreuz

Wir brauchen ein neues Narrativ, denn die Gedenkkultur zur Wiedervereinigung wird der Rolle der damaligen Ostdeutschen nicht gerecht

Markus Meckel01.09.2024

35 Jahre ist es her, dass in der DDR geschah, was viele nicht für möglich gehalten hatten: Die DDR erlebte im Herbst 1989 eine friedliche Revolution. Die kleine Opposition der 80er Jahre organisierte sich neu. Viele hatten vorher die Freiräume der Kirche wahrgenommen, jetzt traten sie aus ihr heraus – zuerst Ende August die Sozialdemokraten, die kurz darauf eine Partei gründeten, dann neue Bewegungen und demokratische Netzwerke, das „Neue Forum“, „Demokratie Jetzt“, der „Demokratische Aufbruch“, später erweiterte sich das Spektrum. Als die SED denen, die in den Westen wollten, die Wege über Ungarn erneut versperren wollte, gingen erst Zehn-, dann Hunderttausende an immer mehr Orten auf die Straße und stärkten der demokratischen Opposition den Rücken, sodass die SED und die anderen Blockparteien sie schließlich am „Runden Tisch“ als Gesprächspartner anerkennen mussten. In friedlichen Verhandlungen wurde der Weg zur demokratischen Wahl vorbereitet, und diese fand schließlich am 18. März 1990 statt. Am 12. April hatte die DDR nach Koalitionsverhandlungen eine demokratische Regierung und bekannte sich am gleichen Tag in einer Erklärung der frei gewählten Volkskammer zur deutschen Schuld und zur Verantwortung aller Deutschen, die wir angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus tragen.


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Dieser Sieg von Freiheit und Demokratie war jedoch nicht nur eine Erfahrung in der DDR, sie war Teil einer mitteleuropäischen Bewegung, die schließlich zum Sieg von Freiheit und Demokratie führte. Es war eine gewaltfreie Selbst-Demokratisierung der Polen und Ungarn, der Deutschen in der DDR sowie der Tschechen und Slowaken. Ähnliche Prozesse spielten sich auch in den baltischen Staaten ab.

Seit der KSZE-Schlussakte von 1975 hatten sich in ganz Ost- und Mitteleuropa Helsinki-Gruppen gebildet, die sich auf die dort garantierten Menschenrechte beriefen. Trotz Repression und Gulag ließen sie sich nicht unterkriegen. Gorbatschow begann seit 1985 mit der Politik von Glasnost und Perestroika. Im Dezember 1988 bekannte er sich vor der Uno zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht und erklärte die „Freiheit der Wahl“ für die Partnerstaaten. Wo vorher – 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der ČSSR – Panzer vorrückten, wenn die Freiheit das Haupt erhob, eröffneten sich nun neue Handlungsspielräume zu Selbstbestimmung und Demokratie.

Seit 1980 war in Polen mit der Gewerkschaft Solidarność eine gesellschaftliche Kraft entstanden, die trotz Kriegsrecht und Repression immer mehr erstarkte und tief in der polnischen Gesellschaft verankert war. Hier erklärten sich die unter Druck stehenden kommunistischen Herrscher zuerst zu Verhandlungen bereit – im Februar 1989 begannen die Verhandlungen am Runden Tisch. Es war gewissermaßen eine „verhandelte Revolution“. Im August 1989 wurde Tadeusz Mazowiecki als erster nichtkommunistischer Ministerpräsident im bisher kommunistischen Europa gewählt.

Plötzlich stand die Einheit auf der Agenda

In Ungarn hatte eine reformkommunistische Regierung unter Ministerpräsident Miklós Németh im Frühjahr 1989 schon die Fühler gen Westen ausgestreckt und die Grenzanlagen zu Österreich abgebaut. Im Sommer flohen mehr als 50.000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen, andere suchten ihren Weg über Prag oder Warschau. Mit den von Gorbatschow angestoßenen Reformen und der Selbstermächtigung der mitteleuropäischen Staaten und der DDR eröffneten sich Konturen einer Neuordnung Europas.

In Deutschland fiel im Zuge der Friedlichen Revolution am 9. November 1989 die Mauer. Die ganze Welt schaute zu und wusste, dass sich nun viel Neues entwickeln würde. Damit stand plötzlich die Frage nach der Einheit Deutschlands auf der politischen Tagesordnung – und war nicht nur Hoffnung, Traum oder verpflichtende Perspektive des Grundgesetzes.

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Löcknitz, Mecklenburgvorpommern: Ronny Splettstößer hatte 1999 als Bundes wehr sol dat im Kosovo Erlebnisse, die zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führten. Er findet, dass Frauen und Männer, die für die Verteidigung von Demokratie, Frieden und Menschen rech ten ihr Leben riskierten, zu wenig gewürdigt werden, und errichtete deshalb ein Denkmal für Bundeswehrveteranen in seinem Heimatort. © Maurice Weiss/Ostkreuz

Doch wie konnte die Einheit erreicht werden? Liest man öffentliche Gedenkreden zum Mauerfall, entsteht der Eindruck, als ob damals Kanzler Helmut Kohl die Einheit geschaffen habe, unterstützt von US-Präsident George Bush senior und mit letztlicher Zustimmung von Michail Gorbatschow. In dieser Erzählung sind dann die Ostdeutschen Objekt einer Wohltat des Westens. Aus dieser Perspektive entstand dann auch die Deutung einer Übernahme oder gar Kolonisierung der DDR. Doch diese öffentlich prägende Erzählung entspricht nicht den historischen Abläufen.

Mit dem Mauerfall war deutlich geworden, dass die von einer großen Mehrheit in der DDR gewünschte und schließlich geforderte Einheit verhandelt werden sollte. Wer aber sollte die Einheit verhandeln? Für die demokratische Opposition in der DDR war klar, dass man diesen Prozess nicht der nicht gewählten Regierung der SED und den anderen Blockparteien überlassen konnte. Das musste Aufgabe einer aus demokratischen und freien Wahlen hervorgegangenen Regierung sein! Nur eine solche konnte für Verhandlungen zur deutschen Einheit das Mandat haben.

Und so kam es. Vier Wochen nach dem Fall der Mauer begann der Zentrale Runde Tisch in der DDR. Neben zahlreichen weiteren regionalen Runden Tischen. Von hier aus erfolgten dann auch die ersten Schritte der demokratischen Transformation. In den Verhandlungen am Zentralen Runden Tisch wurde zwischen Dezember 1989 und März 1990 die freie Wahl in der DDR vorbereitet. Der friedliche Übergang in demokratische Verhältnisse begann. Die am 18. März 1990 gewählte und am 12. April etablierte Koalitions-Regierung hatte das Mandat, für die DDR-Bürger die Einheit zu verhandeln. Gleichermaßen begann sie unmittelbar mit der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft.

Wer hat nun die deutsche Einheit gemacht? Es macht doch einen grundlegenden Unterschied, ob wir Ostdeutschen in diesem Prozess Objekt oder – wie ich behaupte – Subjekt waren. Wie diese Geschichte erzählt wird, macht schon etwas aus.

Die verhandelte Einheit

Die große Mehrheit der DDR-Bürger wollte die deutsche Einheit möglichst schnell. Die rechtlich schnellste Möglichkeit wiederum war der „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ nach Art. 23 GG. Dieser Weg wurde dann auch gewählt, wobei die Sozialdemokraten in den Koalitionsverhandlungen darauf bestanden, dass dies auch bilateral nach Aushandlung von Verträgen über die Beitrittsbedingungen geschehen sollte. Mit den Verträgen zur Währungsunion und dem Einigungsvertrag wurden diese Bedingungen der Einheit innerhalb kürzester Zeit ausgehandelt. Entsprechend diesem Weg kann und muss man von einer „verhandelten Einheit“ sprechen, ausgehandelt zwischen zwei demokratischen deutschen Staaten (und mit den Alliierten). Wenn man den Prozess der deutschen Einheit 1989/90 so darstellt, wird deutlich: Die Ostdeutschen sind und waren Subjekt dieses Prozesses.

Man wird die deutsche Einheit als die Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert ansehen müssen: 45 Jahre nachdem wir Deutschen so viel Tod und Schrecken über ganz Europa gebracht hatten, nach Jahrzehnten der Teilung im Kalten Krieg, konnten wir Deutschen uns in Freiheit und Demokratie vereinigen, mit der Zustimmung unserer europäischen Nachbarn. In diesem Prozess war die dann demokratische DDR nicht Empfängerin einer Wohltat, sondern verhandelnde Mitgestalterin.

Bis heute hat die Geschichte der „verhandelten Einheit“ mit den Ostdeutschen als Subjekt in unserer Gedenkkultur keinen angemessenen Ort. Das öffentliche Erinnern schreibt den Ostdeutschen allein die Friedliche Revolution zu – die Einheit dagegen gilt als Werk Helmut Kohls. Dem ist zu widersprechen!

Noch viel Forschung nötig

Die DDR hat sich, wie die anderen Länder Mitteleuropas, selbst demokratisiert. Nicht die DDR ging unter, sondern ihre kommunistische Herrschaft. Die letzte und kurze Phase einer nun wirklich demokratischen DDR war die entscheidende Voraussetzung für den Prozess zur deutschen Einheit – und ein aktiver Part in diesem Prozess. Diese demokratische DDR und ihre Institutionen haben bis heute kaum Wahrnehmung gefunden, weder politisch noch in der historischen Forschung. Die Regierung der DDR nach der Wahl ist bis heute nicht als wirklich demokratische Regierung anerkannt. Ihre Staatssekretäre, die im Zuge der Vereinigung zum Teil auch internationale Verhandlungen geführt haben, werden nicht als Teil der Regierung angesehen. Eine historische Darstellung der Positionen der Verhandlungspartner und ihres Streites darüber gibt es bis heute nicht. Ebenso wenig entsprechende Quellendokumentationen. Die Friedliche Revolution in der DDR gehört in den Zusammenhang des demokratischen Aufbruchs in ganz Mitteleuropa, einschließlich des Mauerfalls.

Der Prozess der deutschen Einheit vom Mauerfall bis zur Vereinigung im Oktober 1990 ist jedoch zusätzlich als aufrechter Gang der Ostdeutschen in diese Einheit zu beschreiben. Die Ostdeutschen wollten diese Einheit nicht nur, sondern trieben sie auch politisch voran und gestalteten sie durch die von ihr gewählte Regierung mit. Natürlich gab es auch in diesem Prozess vielerlei Schwierigkeiten und Fehleinschätzungen bei den Handelnden in West und Ost. Doch gab es oft auch wenig Verständigungsbereitschaft und vielmehr eine konsequente Durchsetzung der eigenen Interessen und das Ausspielen der westlichen Dominanz, fehlende Empathie und gelegentlich anmaßende Arroganz und Respektlosigkeit gegenüber den Vertretern der DDR. Zu dieser Geschichte gehört aber zugleich auch die Missachtung vieler DDR-Bürger gegenüber den Bemühungen der von ihnen selbst gewählten, eigenen Regierung. Sie verhandelte in deren Interesse und wurde vielfach dadurch geschwächt, dass die eigenen Bürger Verhandlungen als Zeitverschwendung auf dem Weg einer schnellen Einheit ansahen.

Auch diese Perspektive bedarf noch einer differenzierenden Forschung – und nicht nur pauschaler Anklagen.


Online weiterlesen:

Was Rotarier ostdeutscher Clubs zum aktuellen Stand der Wiedervereinigung meinen, lesen Sie unter: rotary.de/a24055

Markus Meckel

Markus Meckel war Mitinitiator bei der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Er saß am Zentralen Runden Tisch 1989/90 und führte 1990 als Außenminister der DDR die Verhandlungen zur deutschen Einheit.