Titelthema
Träume von der totalen Revolution
Einige Politiker und Medien wünschen sich ein Verbot der AfD. Die Geschichte der Bundesrepublik kennt bereits einen solchen Fall – taugt er als Muster?
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hält die AfD nicht für eine Nazi-Partei. Es seien Nazis in dieser Partei, räumte er nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland bei Caren Miosga ein. Das Problem sei jedoch nicht, „dass übergroße Anzahlen von Wählern in Europa Adolf Hitler zurückhaben wollen, also ein Nazi-Reich“. Das Problem sei, „dass sie ihrer eigenen Kraft der Gestaltung unseres Gemeinwesens weniger zutrauen als bestimmten Führungskräften. Sie möchten lieber Gefolgschaft sein.“
Die Wähler sind aber nicht der Punkt. Wenn wir über die AfD sprechen, sollten wir beim Thema bleiben, bei der Partei. Und bei den Mitgliedern und deren Aussagen, von denen laut Verfassungsschutz mehr als 11.000 „rechtsextremes Potenzial“ zeigen. Wie antworten die Mitglieder, vor allem die führenden, auf kriminelle und rechtsextreme Aussagen und Handlungen Einzelner? Auf deren Sehnsucht nach einer „totalen Revolution“ und entschiedener Aktion: „Anzünden müsste man diese ganze ‚Politik‘ samt ihren Schreiberlingen …“ Beredt ist das Schweigen, wenn ein Parlamentarischer Geschäftsführer sagt, dass „wir“ den parlamentarischen Staat und die Demokratie gar nicht wollen; „die wollen wir doch abschaffen“. Vielsagend auch, wenn der Vorsitzende über einen Rechtsextremisten in den Reihen sagt: „Herr Höcke ist die Mitte der Partei.“ Derartige Zitate füllen Bände, und sie sind offenkundig gegen Demokratie und Rechtsstaat gerichtet. Ein Übriges tun Dutzende rechtsextreme Mitarbeiter in den Parlamentsbüros und ungezählte Beitritte von ehemaligen Mitgliedern rechtsextremer Parteien und Gruppen.
Trotzdem haben die meisten Demokraten in Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung Bedenken gegen einen Verbotsantrag, den allein sie beim Bundesverfassungsgericht einreichen können. Eine Ausnahme war nach den Landtagswahlen Thüringens Innenminister Georg Maier, SPD. Auch eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten aller Parteien der Mitte strebt einen Verbotsantrag an. Ist das klug? Kann es gelingen? Die Geschichte der Bundesrepublik kennt nicht nur das Verbot der KPD 1956. Bereits vier Jahre zuvor hatte sich der Bundesinnenminister durch eine Partei herausgefordert gefühlt, deren rechtsextreme Anführer sich für eine Alternative zu den „Systemparteien“ und deren „Landesverrätern“ hielten. Einige Zeitungen warfen der Regierung Schlafmützigkeit vor, entdeckten eine „innere Kapitulationsbereitschaft des Bürgertums“ gegenüber den Rechtsaußen und berichteten von „bündnispolitischen Avancen der bürgerlichen Parteien“. Andere übten Nachsicht, die Anhänger der Radikalen seien in der Mehrzahl doch „schlichte und echte Konservative“, die lediglich „einen konservativen Tanzplatz“ vermissten. Sie hielten es für sinnvoller, gegen einzelne Parteiführer statt die Partei vorzugehen.
Doch dann hatte sie Erfolg, die Partei. Bei Kommunal- und Landtagswahlen kam sie teilweise auf mehr als 30 Prozent! Das Ausland war alarmiert. Und nun wollte auch der Bundeskanzler den Fall vors Bundesverfassungsgericht bringen. Damit stärkte er den Innenminister gegen die Langmütigen, die Lippenkauer und Leisetreter. Und dann ging es schnell: Einleitung des Verbotsverfahrens, Verbotsantrag, und „Karlsruhe“ kündigte die Hauptverhandlung an. Nach nur zwei Wochen fiel das erste Urteil: Verbot von Propaganda und öffentlicher Werbung. Wenig später löste die Partei sich auf, noch bevor sie wegen Verfassungswidrigkeit verboten wurde.
Teilweise mehr als 30 Prozent für die SRP
Diese Geschichte von „Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei“, die Henning Hansen 2007 ausführlich erzählte, betrifft die Sozialistische Reichspartei (SPR), Nachfolgerin der NSDAP in Gesinnung und Personal; die SRP hatten Mitglieder der NSDAP mit niedriger Parteinummer, der SA, der SS und der Waffen-SS gegründet, außerdem Hitlerattentäterverräter und unbelehrbare Holocaustleugner, Ritterkreuzträger (mit und ohne Eichenlaub) und Kampfpiloten. Das Verfassungsgericht stoppte ihre revisionistische Agenda – auf Betreiben von Robert Lehr. Lehr, Protestant, Deutschnationaler und Rotary-Mitglied, war Oberbürgermeister von Düsseldorf gewesen, bis die Nazis ihn für zwölf Jahre in den Ruhestand versetzten. Nach dem Krieg wurde Lehr Nachfolger von Gustav Heinemann als Bundesinnenminister.
Die SRP sah sich damals bereits als Volksbewegung, weil ihre Kundgebungen Hunderte Zuhörer anlockten. „Auch der Harz brennt schon“, raunte Vize-Parteichef Otto Ernst Remer. „Es ist den Offizieren des Dritten Reiches immer zum Vorwurf gemacht worden, sie hätten Hitler nicht rechtzeitig umgebracht“, raunte er. „Um nicht noch einmal schuldig zu werden, müssen wir nach Bonn und unsere Pflicht tun.“ Ausgerechnet Remer! Er hatte am 20. Juli 1944 maßgeblich dazu beigetragen, Stauffenbergs Putsch zu ersticken.
1952 verbot das Bundesverfassungsgericht eine rechtsextreme Partei, die zuvor bei den Landtagswahlen in Niedersachsen elf Prozent der Stimmen und damit 16 Mandate geerntet hatte; in 35 Gemeinden errang sie die absolute und in 375 Gemeinden die relative Stimmenmehrheit, in vier (von 95) Wahlkreisen siegte sie gar vor der DP/CDU und entsandte Direktkandidaten in den Landtag, wie Richard Stöss’ Parteienhandbuch registriert. In Diepholz und Bremervörde kam sie auf 32,9 Prozent, auf fast 30 in Lüneburg, deutlich mehr als 20 Prozent der Wähler in Hadeln, Verden, Rotenburg, Zeven und Emden/Stadt gaben der SRP ihre Stimme. So wie heute manche Unionisten nach der AfD schielen, vereinigten sich mancherorts „die bürgerlichen Parteien mit Rechtsextremisten, wenn dies nur die Chance bot, die Sozialdemokratische Partei um die Mandatsmehrheit zu bringen“, wie Stöss empört festhält, zum Beispiel im Antimarxistischen Block Wilhelmshaven, dem sich CDU und FDP angeschlossen hatten.
Die Rechnung ging nicht auf
Kann das SRP-Verbot das Muster für ein Verbot der AfD sein? Wer heute dafür plädiert, mag Popper auf seiner Seite sehen. Uneingeschränkte Toleranz, das lehrt der Philosoph, führt zwangsläufig zum Verschwinden von Toleranz. Popper wäre einverstanden, dass wir „im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden“ und „geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt“.
Intoleranz ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der rechten Identitären. Lange haben die Gegner eines Verbots dafür plädiert, die AfD mit den Mitteln der Demokratie zu schlagen: mit besseren Argumenten. Diese Rechnung ging nicht auf. Heute werden die Wähler, denen das Rechtsextreme in der Partei gleichgültig zu sein scheint, allesamt als Nazis denunziert. Vielleicht sollten Demokraten berücksichtigten, weshalb sie sich abwenden: Das geschieht nicht, weil sie „Gefolgschaft“ sein wollen, sondern weil sie sich nicht mehr vertreten fühlen, weil die anderen Parteien ihre Sorgen und ihre Ansichten ignorieren, längst nicht nur in Fragen der Migration. Auch wer das für falsch hält, sollte nicht die gesamte Anhängerschaft der AfD in die Ecke stellen.
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