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Yes, she can! Really?
US-Vizepräsidentin Kamala Harris galt als Fehlbesetzung. Kaum kandidiert sie für die Präsidentschaft, schon halten die Europäer ihren Sieg für sicher. Was, wenn es anders kommt – wie 2016?
Es war einmal eine Frau, die in Europa niemand zu kennen schien. Dabei war sie Vizepräsidentin des mächtigsten Staates der Welt. In diesem Amt „kämpfte sie ständig für die Menschen“. Das behauptet Kamala Harris bis heute. Doch niemand schien ihre Bemühungen zu bemerken. Vielleicht hatte sie sich seit dem 20. Januar 2021 verkrochen im White House, oder sie war dort eingesperrt. In den USA jedenfalls galt die vormalige Generalstaatsanwältin und Senatorin (2017 bis 2021) als Joe Bidens „folgenreichster Fehler“.
Auch auf der anderen Seite des Atlantiks fand ihr Name sich nur in den Medien, wenn sie dem bayerischen Ministerpräsidenten die Hand schüttelte und ein Lebkuchenherz entgegennahm, bevor sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz ans Mikrofon trat. Die Zeit, wo sie nach der Nominierung als Running Mate (Vizepräsidentin) als „die Hoffnung“ gefeiert worden war, schrieb im Februar 2023: „Sie hat nicht nur ihre Fans enttäuscht.“ Offenbar auch, weil die einstige „Powerfrau“ ihre Neujahrsgrüße auf Instagram aus der Küche gepostet hatte, „die Herdplatten vollgestellt mit Töpfen und Pfannen“. Harris habe „bis heute nicht in ihr Amt gefunden“ – auch weil Joe Biden die Großthemen besetzt halte, wie es verständnisvoll hieß, und Themen, mit denen innenpolitisch nichts zu gewinnen ist, an Harris übertragen habe, etwa die Einwanderungspolitik. „Andere, wie die Reform des Wahlrechts, hat Harris strategisch ungeschickt selbst gewählt.“
Sogar die Tageszeitung (taz) berichtete vor den Zwischenwahlen im November 2022 über „die unbeliebteste Vizepräsidentin, die Amerika je hatte“, die „auch das eigene demokratische Lager enttäuscht“. Harris repräsentiere die Identitätspolitik der BidenRegierung, „die außer mehr Minderheiten in Führungspositionen und symbolischen Gesten gegen Rassismus nichts zu bieten hat“. Sie instrumentalisiere ihre Identität. Die Süddeutsche Zeitung urteilte damals, mit Ausnahme des Themas Abtreibung habe Harris „sich in bemerkenswerter Weise von der Öffentlichkeit ferngehalten“. Der Stern schrieb von einer großen Ernüchterung: „Hohe Erwartungen, wenig erreicht“. Und der Schweizer Blick erzählte einen Witz „über zwei Schwestern: Eine fuhr zur hohen See, die andere wurde Vizepräsidentin. Von beiden hat man danach nie wieder etwas gehört.“ Harris habe „bislang auf ganzer Linie enttäuscht“, und nur ihr Rücktritt könnte den Demokraten „neue Energie einhauchen“.
Nur die Zeitschrift Gala fand sie „stylisch und cool“, weil sie bei den 45. Kennedy Center Honors in Washington „einen außergewöhnlichen Look mit einem ganz besonderen Accessoire“ trug: „Zum schwarzen Midikleid mit Schößchen kombiniert sie einen Gürtel mit Glitzersteinen und lange Handschuhe aus Leder.“
Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld sah deshalb für Harris’ Zukunft schwarz. Er hätte mehr von ihr erwartet, sagte er, ebenfalls Ende 2022 in der Münchner Abendzeitung. Nicht einmal als Joe Biden an Covid-19 erkrankt war und Harris die Regierungsgeschäfte führen musste, habe man sie wahrgenommen. Ob Harris also geeignet wäre, um Joe Biden im Oval Office zu beerben? Weidenfeld damals: „Davon ist jetzt keine Rede mehr.“ Dafür war Hillary Clinton damals wieder im Gespräch – so wie in diesem Sommer.
Plötzlich Hoffnungsträgerin
Und nun das: Seit Joe Biden zur Rettung der Demokratie eine undemokratische Nominierung von Harris ermöglicht hat, überschlagen sich die deutschen Medien mit Lobeshymnen. Jetzt sei „alles möglich“, schrieb nun die Süddeutsche Zeitung. Auch die taz ist plötzlich optimistisch: „Aus Hoffnung kann Zauber werden“ – denn, so begründet das Chefredakteurin Barbara Junge, „eine Chance zumindest besteht jetzt, dass der nächste US-Präsident eine Präsidentin ist“. Und inhaltlich? Für die Frankfurter Rundschau ist Harris nun „die grüne Hoffnung für die USA“ und „die bekennende linke Klimakämpferin“, sie habe sich „in der Vergangenheit noch deutlich engagierter für den ökologischen Umbau eingesetzt als Biden“. Das war den meisten Berichterstattern bis dato offenbar entgangen. Für den WDR, den österreichischen Standard und die Neue Zürcher Zeitung ist sie nun die Hoffnungsträgerin, für die Rheinische Post gar die „weibliche Reinkarnation Obamas“. Yes, she can. Die Süddeutsche Zeitung erfand für die einst Blasse, Unbeliebte den Wahlspruch „Yes, we Kam“. Und so weiter.
Was, wenn wir uns alle täuschen?
Es erscheint wie ein Rausch. Was aber, wenn wir uns täuschen? Barack Obama stellte diese Frage – „What if we are wrong?“ – nach Donald Trumps Wahlsieg. Sollte heißen: Könnte es sein, dass die anderen recht haben? Was also, wenn die Amerikaner uns einen zweiten 8. November 2016 bescheren? Könnte es sein, dass wir erneut einer Eigensuggestion unterliegen? Dass die europäischen Demokraten sich wie schon 2016 entsetzlich täuschen, als Hillary Clinton als klare Favoritin in die Wahl ging und alle glaubten, Trump habe keine Chance? Weil sie es sich so wünschten – und die Medien auch.
So auch heute: Begeistert berichten die Medien, dass die Tiktok-Community in den USA die ehemals Blasse plötzlich ganz „brat“ findet. Als habe Trump nicht ebenfalls eine große Anhängerschaft in den sogenannten sozialen Medien. Einhellig schiedsrichterten deutsche Blätter nach dem ersten TV-Duell mit einem klaren Punktsieg für Harris, belegt durch eine Umfrage von CNN – unter dessen Zuschauern, nicht denen der rechten Meinungsmacher.
Die Fehlbehauptung, in Springfield äßen Migranten aus Haiti die Haustiere der Menschen, wird Trumps mit Scheuklappen neben und Brettern vor dem Kopf bewehrte Wählerschaft nicht jucken. Und wie kommt die FAZ-Redakteurin Julia Anton zum Ergebnis, Taylor Swifts Parteinahme sei der Sargnagel für Trumps Ambitionen und „einer von Kamala Harris’ größten Erfolgen im Zuge der TV-Debatte gegen Donald Trump“? Weil damit die Mehrzahl der 283 Millionen Follower der „Childless Cat Lady“, „insbesondere jüngere, weiße Frauen“, die „sehr loyal“ seien, nun von Trump zu Swift-Harris überlaufen? Immerhin witzelte FAZ-Kollege Dietmar Dath über die naive Hoffnung auf diese vermeintlich „kriegsentscheidende Stimmabgabe“.
Politik ändern statt zaudern
Besonnene Analysten weisen darauf hin, dass es sinnvoll wäre, sich auf einen immer noch möglichen Wahlsieg Trumps vorzubereiten. Und doch ist das kurzsichtig. Es nutzt nichts, reglos wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Auch Kamala Harris wäre für ein Weiter-so in vielen Fragen nicht zu begeistern. Wir alle kennen die eigenen Problemfelder seit Jahren. Um nur die wichtigsten zu nennen: mehr finanzielle Beteiligung an den Ausgaben für Verteidigung – klar innerhalb der Nato – sowie nachsichtige Politik gegenüber China aus Wirtschaftsinteressen. Nicht nur Trump würde uns zu Veränderungen zwingen. Und dann ist da noch die mangelnde Kompromissbereitschaft und die regelmäßig fehlende Einigung auf gemeinsame Außenpolitiken in der EU, durch die einzelkämpfende EU-Staaten weltpolitisch Zwerge bleiben.
Von Kamala Harris könnten auch die Strategen aller demokratischen Parteien in Deutschland tatsächlich etwas lernen, nicht nur bezüglich der Probleme der Migration, die meine Generation schon im vorigen Jahrhundert im Namen des Multikulti und der Toleranz unter den Teppich gekehrt hatte. Harris’ Lehre lautet: die Mehrheit nicht vergessen. Harris hat verstanden, dass auch die sogenannte Identitätspolitik viele Demokraten in die Arme des autoritären Trump-Lagers treibt. Harris will „Wähler zurückgewinnen, die das Gefühl hatten, die Partei sei sich zu fein für das ‚echte‘ Amerika und zu sehr in Debatten über genderneutrale Toiletten und angemessene Pronomen gefangen“, wie Sofia Dreisbach es in der FAZ formulierte. Diese Themen erlaubten es den Republikanern seit Jahren, die Demokraten anzugreifen. Das macht auch die AfD in Deutschland.
Mag sein, dass hierzulande mehr Patriotismus nicht so entscheidend für politische Akzeptanz ist wie in den USA. Aber auch in der Mitte Europas treiben die meisten Menschen – auch die junge Generation – wichtigere Fragen um als die von Geschlecht und Hautfarbe. Inzwischen scheinen das auch die Grünen verstanden zu haben. Das Personal auszutauschen genügt aber nicht, um zur Hoffnungsträgerin zu werden. Nötig sind Realismus statt Ideologie, Kompromisse statt Ignoranz.
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