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Standpunkt

„Ein ‚Das haben wir noch nie so gemacht‘ lauert an jeder Ecke“

Standpunkt - „Ein ‚Das haben wir noch nie so gemacht‘ lauert an jeder Ecke“
© Illustration: Martin Künsting

Die Diskussionen um dringend nötige Reformen in Rotary Clubs mehren sich, an dieser Stelle beschreiben gleich zwei Autoren ihre Sorgen um die Zukunft der Organisation.

Matthias Meifert und Stefan Kuchenmeister01.06.2024

Erheblicher Handlungsbedarf

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Matthias Meifert, RC Berlin-Alexanderplatz, moderierte vor ein paar Monaten den Zukunftsworkshop des Distrikts 1940 in Berlin.
© Privat

Es sind alarmierende Fakten, die uns alle bekannt sind. Die Zahl der Rotarier nimmt weltweit ab, während die Weltbevölkerung wächst. So stieg die Anzahl der Menschen von 7,51 Milliarden im Jahre 2016 auf aktuell 8,16 Milliarden. In gleicher Zeit sank die Summe der Rotary- und Rotaract-Mitglieder zusammen von 1,2 auf 1,18 Millionen. Der Altersdurchschnitt steigt stetig, und die Diversität lässt in vielen Clubs zu wünschen übrig. Viele Vorstände beschreiben es als schwierig, Mitglieder zu mobilisieren, die Governor geben die Zahl der wirklich Aktiven mit rund 20 Prozent an. Erste strukturelle Anpassungen sind aufgrund fehlenden Nachwuchses bereits in Ländern wie Großbritannien und Australien notwendig geworden. Die dort in Erprobung befindlichen Modelle zielen darauf ab, den Bedarf an Führungspersonal zu reduzieren, beispielsweise durch neu geschaffene Regionalvorstände. Zusätzlich werden Distrikte auf der Grundlage von Staatsgrenzen zu größeren Einheiten zusammengeschlossen.

RI-Präsident Gordon R. McInally brachte es auf der Zukunftskonferenz des Distriktes 1940 in Berlin auf den Punkt: „Wir haben zu lange weggeschaut und so getan, als ob alles in Ordnung wäre. Nun müssen wir handeln.“

Eine dezentrale Struktur mit einer langen Geschichte und eigentlich zufriedenen Akteuren zu verändern, ist kein einfaches Unterfangen, insbesondere auf ehrenamtlichem Boden. Der Generaleinwand „Das haben wir noch nie so gemacht“ oder „Das ist dann nicht mehr mein Rotary“ lauert an jeder Ecke. Nach meiner Überzeugung müssen wir jedoch aufhören, die rotarische Welt durch eine rosarote Brille zu betrachten, und unsere selbst auferlegte Pfadabhängigkeit überwinden. So befriedigend es auch für langjährige Mitglieder sein mag, sich zu Lunchs, Vorträgen und Dinner-Veranstaltungen zu treffen und über die Verwendung von Spendengeldern zu entscheiden, so wenig attraktiv ist dies für jüngere Menschen. Wenn Ämter nur von Personen jenseits der 50 besetzt werden und die meisten Spitzenämter Privatiers bekleiden, wirkt das wie ein selbstreferenzierendes System, das es sich naturgemäß nicht leicht macht mit Veränderungen.

Was wir für eine erfreuliche Zukunft brauchen, sind …

… nicht nur Absichtserklärungen. Zunächst ist es wichtig, uns einzugestehen, dass wir erheblichen Handlungsbedarf haben. Die einfache Frage, was passiert, wenn nichts passiert, verdeutlicht, in welches Endspielszenario Rotary steuert, wenn wir alle dem nicht entschieden entgegenwirken. Dann nämlich wird die Demografie die rotarische Idee schwer beuteln oder gar in einigen Regionen aussterben lassen.

Wenn wir diesen grundsätzlichen Handlungsbedarf teilen, sollten wir uns mit unserer Reputation und Wahrnehmung durch unsere relevante Umwelt auseinandersetzen: Was sagen Nichtmitglieder, Interessierte und Ehemalige über uns? Was suchen sie bei Rotary? Was vermissen sie? Welchen Mehrwert sollte eine Mitgliedschaft bieten?

Basierend auf diesen Erkenntnissen sollte die Value Proposition einer Rotary-Mitgliedschaft weiterentwickelt werden. Konkret: Welchen zusätzlichen Nutzen sollte man neben dem starken Purpose und der Gemeinschaft erwarten können? Um dies zu erarbeiten, bieten sich Zukunftswerkstätten mit Rotary-Mitgliedern und Nichtmitgliedern an. Dabei sollten wir ruhig dem Megatrend „Individualismus“ Rechnung tragen, indem wir fragen, was jeder Einzelne erwarten darf. Ideen wie deutschlandweite und internationale Toastmaster Classes für neue Mitglieder, Ausbildung in Management-Skills, berufliches Coaching, spezifische Einkaufsvorteile, eine Investorenbörse für Start-ups und vieles mehr könnten unsere Attraktivität deutlich erhöhen.

Fraglich ist, wie ein derartiger Transformationsprozess in einer dezentralen Struktur mit subsidiärer Entscheidungsmacht angestoßen werden kann. Schließlich wurden schon in der Vergangenheit einige Versuche unternommen, jedoch nicht mit durchschlagendem Erfolg. Wenn wir meinen, dass Rotary bunter, weiblicher und jünger werden muss, dann müssen wir dem auch Taten folgen lassen. Klare Erwartungen und Vorgaben an die Clubs wären die logische Konsequenz. Unterlassen wir dies, bleiben es nur Lippenbekenntnisse, und unsere gemeinsame Zukunft wäre in Gefahr.


Raus aus der Komfortzone

Es liegt auf der Hand, dass sich Rotary als eine der bedeutendsten Organisationen unserer Zeit unausweichlich den Herausforderungen der Zukunft stellen muss. In einer Zeit, die von globalen Krisen und sich wandelnden sozialen Dynamiken geprägt ist, betrachte ich unsere Trägheit als Rezept für den Untergang. Dabei war Rotary nie wertvoller, nie wichtiger als heute. Wer, wenn nicht wir, können in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft Halt und Orientierung geben? Wir überzeugen durch Werte, durch Haltung, durch Hands-on-Projekte.

Relevanz muss erhalten bleiben

Ja, wir haben eine glanzvolle Vergangenheit, doch wenn wir uns jetzt nicht mit Entschlossenheit auf den Weg machen, dann verblasst unsere Relevanz. In anderen europäischen Ländern ist der Point of no Return bereits erreicht, und man kann ausrechnen, wann Rotary dort ausgestorben sein wird. Das Wichtigste ist unsere Anpassungsfähigkeit: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unsere rotarischen Leitungsgremien die Notwendigkeit erkennen, sich mit Agilität und Entschlossenheit anzupassen, um auch weiterhin eine relevante und effektive Rolle zu spielen.

Ein beharrliches Festhalten an veralteten Strukturen, Prozessen und Denkweisen wird bei Rotary zwangsläufig zu einem Verlust an Wirkung und Reichweite führen. Jedes einzelne RotaryMitglied, das so etwas wie ein Verantwortungsgefühl hat, und vor allem unsere rotarische Führung müssen sich bewusst machen, dass unsere Vergangenheit zwar beeindruckend sein mag, unsere Zukunft jedoch in der Fähigkeit liegt, uns anzupassen und neu zu erfinden. Das geht nur gemeinsam mit der jungen Generation – und mit der Einsicht, dass sich Zukunft eben nicht ohne die Macher von morgen gestalten lässt.

Wie gewinnen wir also die nächste Generation? Konkret schlage ich vor, dass wir alle Rotary Clubs dazu verpflichten, Rotaracter bei einem Aufnahmegesuch aufzunehmen. Wir könnten damit in Deutschland einerseits ein Musterland werden. Doch auch unsere rotarische Führung in Deutschland und Österreich braucht Erneuerung mit jungen, dynamischen Köpfen, um den Anforderungen der Zukunft gerecht werden zu können. Die Rotaract-Mitglieder besitzen frische Perspektiven, ungebremsten Eifer und ein tiefes Verständnis für die Herausforderungen, vor denen wir stehen.

Dem Nachwuchs die Türen weit aufmachen

Ich plädiere dafür, dass wir die Tür für die nächste Generation weit öffnen. Wir würden von innovativen Ideen der Jungen profitieren und so sicherstellen, dass uns die Veränderung nicht überholt. Die Zukunft gehört uns nur dann, wenn auch unsere Deutschland-Führung bereit ist zuzuhören und den Dialog mit den Zukunftsmachern ermöglicht.

Dazu müssen wir raus aus der Komfortzone. Unsere Organisation verfügt über alle Ressourcen, das Fachwissen und das Engagement eines jeden Mitglieds, um einen positiven Wandel herbeizuführen. Wir können beweisen, dass wir in der Lage sind, komplexe Aufgaben anzugehen und innovative Lösungen zu finden. Nun ist es an der Zeit, unsere Fähigkeiten und unser Engagement für das Wohl unserer Gesellschaft einzusetzen – noch stärker als bisher.

Deswegen rufe ich alle Rotary-Mitglieder in Deutschland und Österreich auf: Lasst uns gemeinsam handeln, um die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden, Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu fördern und eine nachhaltige Zukunft für die nächste Generation zu sichern. Lasst uns als Vorbilder vorangehen und die Reparaturarbeiten ganz schnell beginnen, die unsere Gesellschaft so dringend benötigt.

Diskutieren Sie mit und beteiligen Sie sich an unserer Meinungsumfrage zu diesem Standpunkt: rotary.de/#umfrage

Matthias Meifert und Stefan Kuchenmeister

Matthias Meifert, RC Berlin-Alexanderplatz, moderierte vor ein paar Monaten den Zukunftsworkshop des Distrikts 1940 in Berlin.

Stefan Kuchenmeister, RC Höchstadt an der Aisch, ist bis Ende Juni amtierender Governor des Distrikts 1950.