Frisch gepresst
Ein Gesellschaftsvertrag für Europa
Bewegen wir uns auf ein posteuropäisches Zeitalter zu, ein paradoxes Wiederaufleben der Kleinstaaterei im Zeitalter der Globalisierung? Sind das Gefühl der Bedrohung und die Unsicherheit inzwischen so groß, daß die »alte Übersichtlichkeit« lockt und die Menschen die Flucht in die Zukunft des 19. Jahrhunderts antreten? Oder beginnt mit dem Schock, der uns erfaßt, wenn wir realisieren, daß die Europäische Union untergehen könnte, vielleicht die historische Wende von der nationalstaatlich dominierten in die transnationale Politik und Gesellschaft Europas?
Stellen wir uns einmal vor, wir würden das großartigste, schönste, wundervollste Europa bauen, dessen unsere Phantasie mächtig ist – was würde das bringen, wenn die Bürger es nicht wollen? Welche politische Gestalt muß ein Europa annehmen, das sich in den Augen der Bürger vom Schreckgespenst zum Herzensanliegen verwandelt? Bei dem man ein Stück von sich selbst verliert, wenn es stirbt? Für das es sich zu leben und zu streiten lohnt und dem man bei einer Wahl seine Stimme geben würde?
Man hat die mögliche Katastrophe Europas aus der Perspektive der politischen Institutionen, der Wirtschaft, der Eliten, der Regierungen, des Rechts analysiert, aber nicht aus der Perspektive des Individuums. Was heißt Europa für die einzelnen Menschen, und welche Prinzipien für einen neuen Gesellschaftsvertrag für Europa lassen sich daraus entwickeln? Das ist die Frage, die ich in diesem letzten Abschnitt aufwerfen möchte. Die übliche institutionelle Sicht auf die EU soll ergänzt und gebrochen werden durch eine Perspektive, die den Standpunkt des Individuums einnimmt. Dabei geht es zwar auch um den politischen »Märklin-Baukasten« für ein neues Europa (Fiskalpakt, Eurobonds, Bankenunion etc.); ich interessiere mich hier allerdings weniger für ein abstraktes institutionelles Gebäude, als vielmehr dafür, welche Konsequenzen es für die Individuen hat und was das aus ihrer Sicht bedeutet. Damit verbindet sich schließlich die Frage: Was meint eigentlich der Begriff »europäische Gesellschaft der Individuen«?
Wieviel Zustimmung findet der politische Ausbau Europas bei den Bürgern selbst, also bei den eigentlichen Inhabern der Souveränität? Wissen die Individuen in ihrem tiefsten Innern, daß Europa, will es sich aus dem Kladderadatsch, in den es hineingeraten ist, befreien, neuer Institutionen bedarf? Und daß diese nur durch eine große gemeinschaftliche Anstrengung, durch Kooperation über Grenzen hinweg, geschaffen werden können? Gründet die Bereitschaft, Europa leichtfertig aufzugeben, nicht auf der ungebrochenen Gewißheit, Europa zu haben, und der damit verbundenen Unfähigkeit, sich vorzustellen, wie es wäre, diesen »Besitz« des alltäglichen Europa plötzlich missen zu müssen? Ist die Bereitschaft, in diesem Moment des großen Risikos das Herz über die Hürde zu werfen, wie Helmut Schmidt es einmal formuliert hat, nicht letztlich doch sehr viel größer, als die Zweifler und die massenmedial aufgebauschte Nationalstaatsnostalgie uns glauben machen wollen? Und könnte darauf nicht auch eine Politik bauen, die etwas ganz anderes will als Merkiavellis Vision vom deutschen Europa?
Einen Ansatz für eine mögliche Antwort finden wir bei Jean-Jacques Rousseau, in seinem vor 250 Jahren erschienenen Gesellschaftsvertrag. In diesem bis heute faszinierenden Entwurf hat Rousseau dargelegt, wie die Menschen, wenn sie den Naturzustand (l’état de nature) überwinden wollen, über einen Gesellschaftsvertrag (contrat social) zu Freiheit und Identität in der Gemeinschaft finden können. Am Anfang des 21. Jahrhunderts stellt sich uns nun die Aufgabe, den Nationalzustand zu überwinden und zu einem europäischen Gesellschaftsvertrag zu finden. Anknüpfend an Rousseau, möchte ich im Folgenden darlegen, was in einem solchen Gesellschaftsvertrag festgeschrieben werden sollte und wie er durchgesetzt werden kann.
Mehr Freiheit durch mehr Europa
Europa ist keine Nationalgesellschaft und kann auch keine Nationalgesellschaft werden, da es nun einmal aus demokratisch verfaßten Nationalgesellschaften besteht. Und in diesem nationalstaatlichen Sinne ist Europa dann auch keine Gesellschaft. Die »europäische Gesellschaft« muß vielmehr als »postnationale Gesellschaft der Nationalgesellschaften« begriffen werden. Die Aufgabe, die sich damit stellt, lautet: Finde eine Form des europäischen Zusammenschlusses, die mit ihrer gemeinschaftlichen Kraft jedes Individuum in jeder nationalen Gesellschaft rechtlich schützt und die gleichzeitig jeden, indem er oder sie sich mit Individuen anderer Sprachen und politischer Kulturen zusammentut, bereichert und freier macht als zuvor.
Der französische Soziologe Vincenzo Cicchelli hat über die junge Generation Europas geforscht, sein neuestes Buch trägt den Titel Der kosmopolitische Geist. Bildungsreise der Jugend in Europa. In seiner Studie wird deutlich, warum Europa, verstanden als gesellschaftlicher Erfahrungsraum, für die junge Generation ein Mehr an Freiheit und an kulturellem Reichtum bedeutet:
»Überall in Europa wird der Jugend bewusst, dass die Kultur ihres Heimatlandes sicherlich wichtig und konstituierend für ihre Identität ist, aber nicht ausreicht, um die Welt zu begreifen. Die Jugendlichen müssen die anderen Kulturen kennen, denn sie ahnen, dass die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen mit der Globalisierung eng zusammenhängen. Deshalb müssen sie sich an der Andersartigkeit reiben, am kulturellen Pluralismus. Das ist ein langer Lernprozeß, über touristische, humanitäre und Studienreisen, aber auch, indem man sich zu Hause für kulturelle Erzeugnisse der anderen interessiert, Kino, Fernsehserien, Romane, Kochkunst, Kleidung.«
Die junge Generation erfährt demnach die europäische Gesellschaft als »doppelte Souveränität«: als Summe nationaler und europäischer Entfaltungschancen. Die Jugendlichen beschreiben ihre Identität allerdings nicht, wie oft erwartet wird, als ausschließlich europäische. Niemand ist nur Europäer. Die jungen Europäer definieren sich zunächst über ihre Nationalität und dann als Europäer. Das Europa ohne Grenzen und mit einer gemeinsamen Währung bietet ihnen Mobilitätschancen, wie es sie nie zuvor gegeben hat, und dies in einem sozialen Raum mit enormem kulturellen Reichtum, mit einer Vielzahl von Sprachen, Geschichten, Museen, Essenskulturen usw.
Die Studie von Cicchelli zeigt allerdings auch, wie diese europäische Erfahrung im Gefolge der gegenwärtigen Krise ein Stück weit brüchig wird. Zunehmend unterläuft die Wiederkehr alter Rivalitäten und Vorurteile (beispielsweise zwischen dem Süden und dem Norden Europas) die wechselseitige Anerkennung. Auffallend ist darüber hinaus, daß die junge Generation die Welt der Brüsseler Institutionen als weit weg, abstrakt und undurchschaubar erlebt. Sie macht die Erfahrung Europa – aber ohne Brüssel. Daniel Brössler schreibt dazu in der Süddeutschen Zeitung:
»Das Problem ist nicht das Fehlen von europäischem Gefühl, sondern die Tatsache, dass es mindestens zwei davon gibt. Es gibt das gute Gefühl jener übergroßen Mehrheit, die keine der großen europäischen Freiheiten mehr missen möchte. Und es gibt das ungute Gefühl oft derselben Menschen, dass da fern in Brüssel ein Paralleluniversum existiert, das dem eigenen Leben entrückt ist.«
Bei aller Ambivalenz können wir festhalten, daß es immer mehr vor allem junge Individuen gibt, die Europa leben, man denke nur an die unzähligen Erasmus-Studenten in Madrid, Berlin oder Krakau.
Ist es da nicht zutiefst verwunderlich, daß diese Erfahrung des gelebten Europa in den gegenwärtigen Diskussionen über die Euro- und Europa-Krise so gut wie gar nicht vorkommt? Das liegt meiner Ansicht nach vor allem daran, daß Politiker, aber auch Politikwissenschaftler, die sich mit Europa befassen, die europäische Integration zumeist eindimensional und institutionenorientiert denken: Das Zusammenwachsen Europas wird als Prozeß begriffen, der vertikal durchgesetzt wird: Die europäischen Institutionen (die Kommission oder der Rat) geben etwas vor, was in den nationalen Gesellschaften umgesetzt werden muß. Vertikale Europäisierung meint also die Integration der Nationalstaaten auf der Ebene der Institutionen. Wie die Studie Cicchellis zeigt, bleibt diese institutionelle Seite der Erasmus-Generation, die über alle Grenzen hinweg die Erfahrung Europa macht – die Integration vollzieht sich hier sozusagen horizontal – jedoch undurchsichtig und fremd. Das Vergessen der europäischen Gesellschaft der Individuen ist also daraus zu erklären, daß das gelebte Europa in der auf Institutionen fokussierten vertikalen Integration nicht auftaucht, während umgekehrt die vertikale Integration im Erfahrungshorizont der Individuen nicht präsent ist. Kurz: Auf der einen Seite haben wir das abstrakte Haus der europäischen Institutionen, aber die Zimmer dieses Hauses sind menschenleer. Auf der anderen Seite stehen die (jungen) Individuen, die Europa leben, aber nicht in das Haus einziehen wollen, das da in Brüssel für sie errichtet wird. Der Irrwitz bei der ganzen Geschichte besteht darin, daß keiner diesen Widerspruch bemerkt.
Wir haben uns seit mehr als 150 Jahren daran gewöhnt, Gesellschaft im Sinne des Nationalstaats zu verstehen, als gebunden an ein bestimmtes Territorium mit klar abgesteckten geographischen Grenzen, einem für alle Bürger geltenden Recht, einer relativ einheitlichen Kultur, einem gemeinsamen Bildungssystem, einer Amtssprache usw. Die jungen Menschen, die sich heute zwischen Lissabon und Helsinki, zwischen Dublin und Thessaloniki ganz selbstverständlich horizontal über alle Grenzen hinweg bewegen, haben einen ganz anderen Begriff von der europäischen Gesellschaft: Sie erfahren Europa vor allem als mobile Gesellschaft der Individuen, sie schätzen die Durchlässigkeit nationaler Grenzen, die Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Rechtssysteme, Lebensformen usw. In diesem Sinne gilt: Mehr Freiheit durch mehr Europa.