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Titelthema: Abschied von der Weltpolitik

Ein neues Zeitalter der Unsicherheit

Die jüngsten Entwicklungen in Europa und Amerika wecken Erinnerungen an unruhige Zeiten, die die Welt längst überwunden glaubte.

Ian Kershaw01.03.2017

Wir alle spüren es: Wir treten in eine neue Ära ein. Das Europa, wie wir es seit Langem kennen, scheint sich aufzulösen. Die liberalen sozialen und poli­tischen Werte, die wir für so gut etabliert hielten, sind starken Angriffen ausgesetzt. Der Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps hat anschaulich ins Bewusstsein gerückt, dass eine epochale Wende im Gange ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg bildet das Bekenntnis der USA zu Europa – zu seinen Institutionen, seiner Wirtschaft und nicht zuletzt seiner Sicherheit – eine entscheidende Grundlage der europäischen Stabilität. All dies stellt Präsident Trump nun infrage, indem er die NATO als „obso­let“ bezeichnet, sich mit „America first“ für eine Politik des Isolationismus und Protektionismus ausspricht, Putins Russland umwirbt und öffentlich erklärt, dass ihm das Ende der Europäischen Union gelegen käme.

Trotz aller Schwächen ist die Europäische Union seit jeher ein entscheidender Faktor für die Überwindung des Nationalismus und des Rassismus, die Europa in die Katas­trophe stürzten. Aber sie ist bedroht wie nie zuvor. Einen Sieg Marine Le Pens bei der bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahl würde sie wohl kaum überstehen. Und der Brexit, mit dem ein wichtiger Mitgliedsstaat beschlossen hat, der Europäischen Union den Rücken zu kehren, ist bereits im Gange. Putins Anne­xion der Krim im Jahr 2014 erinnerte stark an die territoriale Aggression, von der wir glaubten, dass sie in Europa der Vergangen­heit angehöre.

Die Flüchtlingskrise als Folge des schrecklichen Krieges in Syrien hat Eu­ropa zusätzlich in Unordnung gebracht. Terror­anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland haben kaum überraschend Zweifel an den offenen Grenzen in Europa ausgelöst. Die Gewalttaten haben deutlich gemacht, dass wir in ein neues Zeitalter der Unsicherheit eingetreten sind, in dem die Unterstützung für nationalistische, fremdenfeindliche Parteien wächst, die die Frei­zügigkeit beenden und letztlich die Europäische Union selbst zerstören ­wollen. Dass die allgemeine Stimmung in Europa zutiefst pessimistisch ist, ist wenig verwunderlich.

Verlust eines Identitätsgefühls
Die Präsidentschaft Trumps ist der mit Abstand wichtigste neue Faktor in der düs­teren Gleichung. Doch der Wahlsieg Trumps hatte tiefliegende Ursachen: die amerikanische Manifestation dessen, was auch in Europa an

Dynamik gewonnen hat, und zwar besonders akut seit dem Bankencrash 2008.
Der Anstieg des Nationalismus resultiert in hohem Maße aus einer wirkungsvollen Kombination zweier Faktoren. Der erste ist der weit verbreitete Unmut und Ärger der Verlierer der Globalisierung – der vielen, die sich abgehängt fühlen durch Kräfte, die sie nicht kontrollieren oder ver­stehen; Kräfte, die ihre Gemeinschaften und ihre Existenzgrundlagen zerstört ha­ben. Der zweite ist der Verlust eines Iden­titätsgefühls, der aus der Massenmi­gration (ebenfalls Teil der Globalisierung) verbunden mit den Ängsten und der Unsi­cherheit, die der internationale Terrorismus auslöste, resultiert. Internationale Institutio­nen scheinen von den Alltagssorgen weit entfernt zu sein.

Und internationale Un­ter­nehmen scheinen auf Kosten derer zu pro­­fitieren, die damit kämpfen, über die Run­den zu kommen. Banker erhalten riesige Boni, selbst wenn ihre Banken mit Steuer­geldern gerettet werden. Riesenkon­zerne vermeiden Steuern und reiche Privat­personen verschieben ihr Vermögen auf Offshore-Konten, während einfache Bürger, die gerade so über die Runden kommen, die Last der Steuern tragen.

Demagogen haben es leicht, die Wut der Bevölkerung (vieles davon ist gerechtfertigt) auszunutzen und scheinbar einfache und attraktive nationalistische Lösungen anzubieten. Take back control, lautete das Mantra der „Brexit“-Befürworter jüngst beim britischen Referendum. Es bildet den grundlegenden Appell der nationalistischen Bewegungen in ganz Europa.

Doch der Nationalismus ist nicht in der Lage, echte Lösungen für die in der Welt von heute so offenkundigen Probleme zu bieten. Der internationale Terrorismus erfordert eine auf internationaler Zusammenarbeit basierende Reaktion. Der Wohlstand beruht zum Großteil auf freiem Handel. Der Weltfrieden hängt von der Achtung des internationalen Rechts ab. Das wahrscheinlichste Ergebnis von Trumps Protektionismus – falls er nicht von den voraussichtlichen Nachteilen für die USA überzeugt wird – ist ein Handelskrieg nicht nur mit Europa, sondern auch mit China, den die Amerikaner vermutlich nicht gewinnen werden, der aber der Weltwirtschaft schaden wird. Wie sich dies auf die globale geopolitische Lage auswirken wird, ist nicht mit Sicherheit vorherzusehen. Doch die Auswirkungen werden wohl kaum positiv sein.

Gewinner und Verlierer
Gleichzeitig muss eingeräumt werden, dass die Globalisierung Millionen Menschen keine Hoffnung bietet. Die Vorteile der Euro-­­Zone (die laut einigen angesehenen Wirtschaftswissenschaftlern zum Scheitern verurteilt ist) sind in Regionen, die unter hoher Arbeitslosigkeit oder dem Elend des postindustriellen Verfalls leiden, weniger offenkundig als in den Einkaufszentren prosperierender Städte. Menschen mit ei­ner kosmopolitischen, liberalen Einstellung, die in einem Gebiet leben und arbeiten, in dem Immigration keine ernsthaften Probleme verursacht, haben den Unmut über einen empfundenen Identitätsverlust in kleinen Gemeinden, in denen die Anwe­senheit von „Außenseitern“ eher auffällt, lange nicht beachtet. Wenn man der Meinung ist, dass die Politiker den Gefühlen der Bevölkerung keine Beachtung schenken – was heutzutage über soziale Medien schnell angeheizt werden kann – dann ist der Konflikt vorprogrammiert. In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten suchen viele Menschen zwangsläufig Sünden­böcke. Es ist relativ leicht, ausländischen Arbeitskräften, Flüchtlingen oder „Brüssel“ die Schuld zu geben.

Es ist einfacher, die Probleme der neuen Ära zu erkennen als Lösungen für sie zu finden. Niemand kann die Ereignisse der näheren Zukunft vorhersagen. Einige der gegenwärtig akutesten Sorgen könnten mit der Zeit auch abnehmen. Die bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland könnten – wie die jüngste österreichische Präsidentschaftswahl – besser ausgehen als erwartet und den Zenit der nationalistischen Protestbewegungen, gefolgt von ihrem Rückgang, markieren. Gesetzlicher und verfassungsrechtlicher Druck in den USA und ein drohender Handelskrieg mit ­China könnten Präsident Trump dazu bewegen, von Teilen seiner potenziell schädlichen Politik Abstand zu nehmen.

Eine neue Annäherung zwischen den USA und Russland könnte die internationalen Spannungen – wider Erwarten – eher verringern als erhöhen und sich im Syrien-Konflikt als günstig erweisen und dadurch den Flüchtlingsdruck mindern. Und die Europäische Union könnte unter der Führung Deutschlands nach den Wahlen eine konzertierte Anstrengung unternehmen, um die notwendige Strukturreform sowie eine auf die Maximierung des wirtschaftlichen Wachstums gerichtete Politik einzuleiten, die den Verlierern der Globalisierung Hoff­nung gibt.

Gegenwärtig fällt es schwer, viel Hoffnung zu haben, dass vieles von diesem Sze­nario eintreten wird. Doch eine Zeit, in der so viel von dem, was sich so lange als nützlich erwiesen hat, ernsthaft ­bedroht ist, ist nicht die richtige Zeit für kleine, natio­nalistische Lösungen. Mehr denn je muss sich Europa jetzt darum bemühen, die Ge­sellschaft wiederaufzubauen – die Bindungen zu stärken und nicht zu lösen.

Ian Kershaw
Prof. Dr. Ian Kershaw ist einer der renommiertesten Kenner der deutschen und europäischen ­Zeitgeschichte. Seine Hitler-Biographie gilt als Standardwerk. In seinem Werk „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“ (DVA 2016) schildert er die Verwerfungen und Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien „Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung“ (Pantheon Verlag 2018). randomhouse.de