Titelthema
Ein positives Image allein reicht nicht
Die Rettung sterbender Dörfer setzt einen massiven Umbau unseres Wirtschafts- und Lebensmodells voraus.
Das Landleben ist seit Langem gegenüber dem Leben in der Stadt benachteiligt. Dies beginnt mit der Industriellen Revolution, in der sich das Wirtschaften in der Fabrik durch die mit Steinkohle betriebene Dampfmaschine erstmals in der Geschichte von Sonnenenergie und Handarbeit abkoppelt. Seitdem konzentrieren sich alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritte in der Stadt. Aber erst ab den 1960er Jahren wird das Land selbst mit der Industrialisierung von Landwirtschaft und Gewerbe, Verkehrserschließung, Schul- und Gebietsreformen tief greifend modernisiert. Ab den 1990er Jahren führt dann der Abbau des Sozialstaates und die Hinwendung zum Neoliberalismus zur verstärkten Konzentration von Arbeitsplätzen und Infrastrukturen in den großen Städten, was das Land noch zusätzlich schwächt. Die Aufwertung des Landlebens ab den 1980er Jahren mit dem Aufblühen von Regionalität, Regionalprodukten, Biolandwirtschaft etc. ist dagegen nicht stark genug, um diese Entwertung des Landes zu verhindern.
Mit dem Auftreten der Coronapandemie wird dann das moderne Image der Stadt – globale Vernetzung, extreme Spezialisierung, hohe Mobilität, große Menschenmengen – infrage gestellt, und das altmodische Image des Landes – Abgeschiedenheit, wenige Menschen, große räumliche Distanzen, Naturnähe, Selbstversorgung – erlebt plötzlich eine ungeahnte Wiederaufwertung, denn viele Menschen halten jetzt das Landleben für sicherer und besser als das städtische Leben. Zugleich schwächt die durch die Pandemie verstärkt vorangetriebene Digitalisierung die Notwendigkeit der räumlichen Konzentration in der Stadt und lässt eine wirtschaftliche Dezentralisierung, also eine Stärkung des Landes, vorstellbar werden.
Hartnäckige Probleme bremsen aus
Die sprunghafte Zunahme der Nutzung des Homeoffice während der Coronakrise zeigt, dass diese Form des Arbeitens große Potenziale besitzt, die bislang zu wenig beachtet wurden. Die Digitalisierung vieler Tätigkeiten bietet große Möglichkeiten, um Kosten zu senken (Verringerung von Büroflächen in den Zentren, Flexibilisierung und Neuorganisation von Arbeitsabläufen), wobei die größte Einsparung darin bestehen könnte, ortlose Tätigkeiten nicht mehr in den Industriestaaten, sondern in Billiglohnländern ausführen zu lassen. Und jene Tätigkeiten, die eine persönliche Präsenz im Betrieb wenigstens einmal pro Woche erfordern, können nicht in den ländlichen Raum, sondern nur in den erweiterten Speckgürtel um die großen Zentren herum verlegt werden. Deshalb würde durch die intensive Nutzung des Homeoffice nicht der ländliche Raum gestärkt werden, sondern es würden lediglich die suburbanen Gebiete weiter wachsen.
Das neue positive Image des Landes motiviert derzeit zahlreiche Menschen, der teuren Stadt den Rücken zu kehren und sich auf dem Land eine neue Existenz aufzubauen. Und das Land wäre wegen seiner Überalterung auch sehr an solchen Zuwanderern interessiert. Aber erstens gibt es auf dem Land wenig geeignete Arbeitsplätze für Zuzügler, und die wirtschaftlichen und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen erschweren den Neuaufbau eines dezentralen Arbeitsplatzes erheblich, und zweitens stellen die Infrastrukturen – Erreichbarkeit von Schule, Arzt, Krankenhaus, Bank, Fachgeschäften – häufig ein erhebliches Problem dar. Und darüber hinaus besitzen viele Städter eine romantische Vorstellung vom Landleben als einem Leben in Harmonie mit Nachbarn und Umwelt, und dieses Zerrbild erschwert einen Umzug aufs Land noch zusätzlich. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, führt das neue positive Image des Landlebens durch Corona nicht zur Wiederaufwertung.
Lehren aus der Coronapandemie
Eigentlich macht die Coronapandemie eindrücklich deutlich, wie extrem fragil unsere moderne Welt geworden ist: Die extremen Arbeitsteilungen und Spezialisierungen, deren einzelne Komponenten über den gesamten Globus verteilt sind, sind aufgrund von Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer, Just-in-Time-Produktion, Abbau von Kapazitäts- und Personalreserven aller Art und fehlender Lager- und Vorratshaltung extrem störanfällig. Ähnliches gilt für das moderne Leben mit seiner hohen Mobilität in Beruf und Freizeit, dessen Einschränkung zu großen persönlichen Problemen führt. Dabei ist die Coronapandemie nur eine Störung, die wir gerade besonders intensiv erleben, und andere Störungen – Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Terroranschläge, Bürgerkriege, Umweltprobleme, soziale Konflikte – können sich leicht ähnlich katastrophal auswirken.
Um die Störanfälligkeit unserer Welt zu reduzieren, müsste man die Coronapandemie als Anlass zum Umbau nehmen. Das bedeutet nicht, die globalen Verflechtungen einzustellen, aber sie doch in gewissen Bereichen zu reduzieren und dabei gleichzeitig Reserven aller Art aufzubauen. Und es bedeutet weiterhin, neben der globalisierten Wirtschaft gezielt ein regionales Wirtschaften zu stärken, bei dem die ländlichen Räume die Städte mit hochwertigen Lebensmitteln, Gewerbeprodukten und Dienstleistungen auf der Grundlage regionaler Ressourcen versorgen. Dieses regionale Wirtschaften könnte die mit der Globalisierung verbundenen Störungen ein Stück weit abpuffern und so die hohe Störanfälligkeit unserer Welt ein Stück weit reduzieren.
Das Land ist nicht als verlängerter Arm der Stadt zu betrachten
Wenn man diese Lehren aus der Coronapandemie zieht, dann könnte das Landleben wieder aufgewertet werden. Das geht aber nur dann, wenn man das Landleben nicht bloß als Verlängerung des städtischen Lebens und Wirtschaftens betrachtet, sondern wenn man anerkennt, dass Stadt und Land unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Auf dem Land können Leben und Wirtschaften wegen der geringen Zahl der Menschen nicht wie in der Stadt ausdifferenziert und spezialisiert werden, aber dieser Nachteil ist mit dem Vorteil verbunden, dass die Bereiche Wirtschaft-Gesellschaft-Umwelt hier sehr eng miteinander vernetzt sind, was die Betroffenen als positiv und sinnvoll erleben.
Wenn man das Land in diesem Sinn aufwerten will, dann liegt der Schlüssel dafür in einer starken regionalen Identität, die Ausdruck davon ist, dass Menschen gern auf dem Land leben, dass sie eine große Kreativität entwickeln, um ihre Situation zu gestalten und zu verbessern und dass sie Verantwortung für ihre Umwelt entwickeln. Auf dieser Grundlage kann erstens ein regionales Wirtschaften aufblühen, das lokale und regionale Ressourcen auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise nutzt und daraus Qualitätsprodukte für die benachbarten Städte entwickelt. Zweitens können so auch mithilfe des Internets neue dezentrale Infrastrukturen entwickelt werden, die dem ländlichen Raum trotz geringer Bevölkerungsdichte eine gute Versorgung ermöglichen. Dafür gibt es bereits viele Erfolg versprechende Ansätze und Initiativen.
Alles zurück auf Los?
Viele Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass in Krisenzeiten die Stadt häufig infrage gestellt und das Land aufgewertet wird, dass sich aber nach dem Ende der Krise schnell der alte Zustand wieder einstellt. Dies dürfte auch für die aktuelle Coronapandemie gelten: Sollte sie zum Ende des Jahres 2020 wieder abklingen, dann dürften die mit ihr verbundenen Infragestellungen ebenfalls schnell wieder verschwinden. Trotzdem ist festzuhalten: Das Virus hat mit größter Schärfe gezeigt, dass unser Wirtschafts- und Lebensmodell extrem fragil geworden ist und unbedingt umgebaut und stabilisiert werden muss, damit es in der nächsten Krise nicht endgültig zusammenbricht. Eigentlich ist es absurd: Nur wenn die Coronapandemie über das Jahr 2021 hinaus anhält und die damit verbundenen Probleme den Alltag für längere Zeit prägen, dürfte dieser Umbau möglich werden; wenn dagegen die globalisierte Normalität wieder zur (fragilen) Realität wird, dürfte dieser Umbau nicht gelingen.
Werner Bätzing war Professor für Kulturgeographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt erschien von ihm Das Landleben. Vergangenheit und Zukunft einer gefährdeten Lebensform, Verlag C. H. Beck, München 2020