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Schwerpunkt 100. Katholikentag

Ein ungehobener Schatz

Eine Erinnerung an die katholische Soziallehre, die traditionell einen Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und den Anliegen der Allgemeinheit fordert – und ein interessantes Modell für die Gesellschaft unserer Tage ist

Peter Schallenberg30.04.2016

Die katholische Soziallehre entstand in ihrer eigenständigen Form erst spät, nämlich im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung. Diese brachte die neue gesellschaftliche Situation hervor, dass Menschen trotz Arbeit in einer Fabrik arm blieben. Sie arbeiteten in Vollzeit, konnten sich aber trotzdem das Lebensnotwendige nicht leisten. Für diese Arbeiter in materieller Not gab es auch keine traditionellen Standesvertretungen mehr wie die Zünfte, die in den vergangenen Jahrhunderten verhindert hatten, dass ein Arbeiter und seine Familie in Armut fielen. Die Industrialisierung ermöglichte zwar eine größere Freiheit bei der Berufswahl, führte jedoch zur greifbaren und akuten Gefahr der Verelendung, da der Arbeiterlohn zumeist nicht zu einem menschenwürdigen Leben ausreichte.

Das Elend der Industrialisierung
In dieser Situation entstand die katholische Soziallehre. Dabei gab es lange vor der ersten päpstlichen „Sozialenzyklika“ Rerum novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahre 1891 Vordenker, die sich der damals neuen Sozialen Frage annahmen. Hier sei nur auf den späteren Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler verwiesen. Von Ketteler machte im Laufe der Zeit selbst eine Wandlung durch: Hatte er in den Adventspredigten 1848 im Mainzer Dom in althergebrachter Weise noch vor allem den Glaubensverlust für die schlechten sozialen Zustände verantwortlich gemacht, so positionierte er sich bei seiner berühmten Predigt auf der Liebfrauenheide 1869 schon deutlich politischer: Das moderne industrialisierte Marktgeschehen führt dazu, dass sich das Kapital bei wenigen Personen akkumuliert und als Folge davon die ohne Zusammenschlüsse vereinzelt da stehenden Arbeiter schutzlos der Macht des Kapitals ausgeliefert sind. Entscheidend und modern für die damalige Zeit ist die systemische, nicht mehr tugendethische Analyse des Bischofs: Abhilfe für die schlechte Situation sieht von Ketteler nicht mehr vorrangig in der Bekehrung der Herzen und der Gesinnung der Herrschenden. Vielmehr stellt er sich unmissverständlich und provozierend auf die Seite der Arbeiter und identifiziert sich weitgehend mit ihren Forderungen nach einem gerechten Lohn und nach der Möglichkeit der Gründung von Gewerkschaften. Auch eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährung von Ruhetagen sowie ein Verbot der Kinderarbeit und eine Vermeidung der Arbeit von Mädchen und von Müttern findet sich unter den Forderungen Kettelers. Insgesamt strebt er eine Problemlösung durch konkrete Maßnahmen an, die politisch durchgesetzt werden müssen. Damit ist er eine der ersten Persönlichkeiten des katholischen Denkens, die offenkundig und entschlossen den Raum individueller Seelsorge verlassen und gesellschaftspolitische Reformen anstreben.

Mit der Forderung nach Verbesserung der Situation der Arbeiter ohne Ablehnung eines prinzipiellen Systems von Kapitalismus, das schon im Frühkapitalismus der franziskanischen Reformpredigten in der Toskana des 14. und 15. Jahrhunderts grundgelegt war, positioniert sich die Katholische Soziallehre seit Ketteler zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Sie hat aber ohne Zweifel eine leichte, nicht ohne Grund von Papst Franziskus scharf kritisierte Tendenz hin zum Kapitalismus, da dieser grundsätzlich die Freiheit des Individuums betont, die auch im Christentum ein zentraler Begriff ist, um den Menschen als frei verantwortliches Ebenbild Gottes zu kennzeichnen. Der atheistische Sozialismus wird gerade deswegen, ebenso wie der Gedanke des Kollektiveigentums, vehement abgelehnt.

Grundsätzlich hat die katholische Soziallehre im Laufe ihrer Ausfaltung Prinzipien entwickelt, die als Richtschnur institutionellen und systemischen Handelns dienen sollen. Die klassischen drei Prinzipien lauten: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Das Prinzip der Personalität legt die Würde des Menschen, die ihm aufgrund seiner unsterblichen Seele, christlich gesprochen: aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit zukommt, zugrunde. Damit wird die Menschenwürde Maßstab für alle Wertediskurse, in die die Kirche eingebunden ist. Sie wird auch zur Leitlinie bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen und kann erst durch die Anerkennung der Menschenrechte als gesellschaftlich umgesetzt angesehen werden. In diesem Zusammenhang kommt das Prinzip der Solidarität zum Tragen. Denn das Solidaritätsprinzip hebt darauf ab, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist und sowohl der Einzelne seinen Beitrag zur Gemeinschaft leisten als auch die Gemeinschaft dem Einzelnen beistehen muss.

Moralische Pflichten
Die Gemeinschaft und die Gesellschaft sind nach katholischer Soziallehre kein Selbstzweck, sondern Ausdruck der menschlichen Sozialnatur und der Rahmen, der dem Einzelnen seine Entfaltung ermöglicht. Solidarität als sozialethisches Prinzip ist primär ein Rechtsprinzip, das nicht von emotionaler Verbundenheit und der Neigung zu Barmherzigkeit abhängt, sondern als moralische Pflicht zu verstehen ist, sich für das Wohl aller Menschen, besonders der Schwächeren, einzusetzen. Hier ist als Beispiel an die Sozialversicherungen zu denken, die ja von der Solidargemeinschaft der Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen werden. Die Sozialversicherungen garantieren die soziale Basissicherung der Bürger nicht aus einer ungeschuldet mildtätigen Hilfeleistung heraus, sondern aus der Akzeptanz einer Rechtspflicht, die sich aus der menschenrechtlichen Anerkennung der Mitmenschen ergibt.

Allerdings muss in der Ausbuchstabierung des Solidaritätsprinzips jedoch darauf geachtet werden, dass keine Allzuständigkeit des Individuums im Blick auf Solidarität oder gar Nächstenliebe propagiert wird, denn das würde sowohl das Individuum als auch soziale Gruppen überfordern. Deshalb wird in der katholischen Soziallehre das Solidaritätsprinzip durch das Prinzip der Subsidiarität ergänzt. Hier wird festgestellt, dass man die Zuständigkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Einheiten, wie etwa der Familie, erkennen und anerkennen muss. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass die größere gesellschaftliche Einheit der kleineren, erwähnt sei hier wiederum die Familie als klassisches Beispiel, beistehen muss, falls diese ihre Aufgabe nicht erfüllen kann. Dabei muss jedoch die Autonomie der kleineren gesellschaftlichen Gruppe gewahrt und respektiert werden. Dieses Prinzip hat vielfältigen Eingang in die Politik gefunden, etwa bei der Strukturierung der EU oder dem Aufbau der föderalen Bundesrepublik.

An diesen Beispielen wird deutlich, dass die katholische Soziallehre nicht einfach nur eine Tradition ist, die nur schwer in die Gegenwart passt. Vielmehr sind die Prinzipien der Soziallehre bis heute gute Leitlinien für die Gestaltung einer Gesellschaft, die genug Freiraum zur Entfaltung des Einzelnen lässt und zugleich eine Ausrichtung am Gemeinwohl nicht nur durch Appelle, sondern durch vernünftige Einsicht in die gegenseitigen Abhängigkeiten der Menschen als sinnvoll erscheinen lässt.

Peter  Schallenberg
Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg (RC Paderborn) ist Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn sowie Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach. 2015 erschien „Iustitia et Caritas. Soziallehre und Diakonie als kirchlicher Dienst an der Welt“ (Schöningh).