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Luther-Kolumne

Wie lutherisch ist die evangelische Kirche?

Luther-Kolumne - Wie lutherisch ist die evangelische Kirche?
Botschaft ohne Inhalt: Plakat der evangelischen Kirche zum Reformationsjubiläum © EKD/Reformationsjubiläum 2017 e.V

Im Vorfeld des Reformationsjubiläums scheint es, als könne die Amtskirche mit der Figur Martin Luther kaum noch etwas anfangen.

Benjamin Hasselhorn01.02.2017

In Berlin und anderen Orten hängen seit einigen Wochen die Plakate für die kirchlichen Veranstaltungen des Reformationsjubiläums. Sie sind nicht leicht als solche zu identifizieren, denn Martin Luther kommt darauf nicht vor, und auch das Wort „Reformation“ wird eher nebenbei erwähnt. Auf einem Hinter­grund in kräftiger Farbe sind freundliche Cartoonfiguren abgebildet, dazu Sprüche wie „Wie kommt mehr Himmelblau ins Alltagsgrau?“. Erst der kleiner gedruckte Hauptspruch bringt Aufschluss über den Zusammenhang: „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen.“

Flucht vor der Auseinandersetzung
Man kann die Plakatkampagne der evange­lische Kirche als kluge Entscheidung ver­stehen, sich angesichts des ganzen Luther-­Rummels von den Initiativen der anderen Akteure des Reformationsjubiläums abzu­grenzen, und zudem ein Zeichen zu setzen, dass dieses Reformationsjubiläum im Unter­schied zu jenen der Vergangenheit dezidiert ökumenisch und international ausgerichtet ist und sich von der steten Fokussierung auf Martin Luther lösen will. Anderseits aber wirkt es auch ein wenig wie eine Flucht vor einer Auseinandersetzung mit Luther.

Wann, wenn nicht zum 500. Jubiläum des Thesenanschlags wäre Gelegenheit, die Frage zu stellen, was Luther uns heute zu sagen hat, und zwar nicht nur zivilgesellschaftlich oder geschichtspolitisch, sondern vor allem auch religiös?

Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass die – erfreuliche! – Aufbruchsstimmung des Reformationsjubiläums nicht wirklich die Situation in den Gemeinden vor Ort wider­spiegelt. Sie steht merkwürdig unvermittelt neben der Krise des Evangelischen, die sich seit Jahrzehnten in schwindenden Kirchenmitgliederzahlen, immer schwächerem Gottesdienstbesuch und eingesparten Pfarrstellen ausdrückt. Aber nicht nur das: Ich frage mich, wieso so viele evan­ge­lische Gottesdienste heute entweder wie eine schlechte Imitation der Tages­schau oder wie Kindergottesdienst für Große wirken? Wieso geht eigentlich praktisch niemand mehr aus meiner Generation (Jahrgang 1986) regelmäßig in die Kirche? Was ist da passiert, dass eine Institution, die in Deutschland derzeit über mehr finan­zielle Mittel verfügt als je zuvor, jungen Menschen keine ernsthafte geistliche Heimat mehr bietet?

Ich glaube, dass die Krise des Evangelischen und die Missachtung Luthers zwei Seiten derselben Medaille sind. Mein Ein­druck ist, dass die evangelische Kirche vieles ist, aber eines nicht mehr: lutherisch. Ich meine damit nicht die theoretische Geltung der lutherischen Bekenntnisschrif­ten, sondern die praktische, konkret geleb­te Frömmigkeit. Aus meiner Sicht besteht lutherische Frömmigkeit aus vier einfachen Grundprinzipien:

  • Gottvertrauen,
  • Hoffnung auf Gnade,
  • Gewissensernst und
  • Mut zum Bekenntnis.

Gottvertrauen bedeutet: Egal was passiert, welches Leid, welche Ungerechtigkeit auch immer über mich hereinbricht; an meinem Gott und dessen Heilszusage halte ich fest. Luther lehrt ein tiefes, unbe­irrbares Vertrauen in die Vaterliebe Gottes. Gemeint ist damit aber kein weltfremdes Kuschelchristentum. Das Leid und die Ungerechtigkeit werden nicht wegdiskutiert oder kleingeredet. Auch die „Anfechtung“, das heißt der Zweifel und das immer wieder neue Ringen mit Gott, gehören zum Luthertum dazu. Luther selbst schreibt, dass Gott immer wieder sein „Nein“ über uns und unsere Existenz spricht. Lutherisches Gottvertrauen bedeutet, das nicht zu ignorieren, zugleich aber auch darauf zu vertrauen, dass Gott uns letztlich wohlgesonnen ist.

Ernste Gewissensfragen
Die Hoffnung auf Gnade ist die lutherische Antwort auf die Sünde. „Gnade“ und „Sünde“ sind als Begriffe des täglichen Lebens etwas aus der Mode gekommen, aber die Sache, die sie bezeichnen, ist nach wie vor aktuell. Sündersein heißt für Luther mehr als nur unvollkommen sein. Es ist nicht nur so, dass unser Tun nicht immer gut, ja manchmal gar böse ist. Oft will man das Gute gar nicht und ist nicht von Nächstenliebe, sondern von Selbstsucht erfüllt. Lutherisch verstandene „Gnade“ heißt vor diesem Hintergrund: Niemand kann aus eigener Kraft heraus gut werden. Wir sind dabei ganz und gar auf Gottes Hilfe angewiesen. Das führt aber nicht zu Resignation, sondern zur Hoffnung darauf, dass Gott uns gnädig ansieht.

Lutherisch ist außerdem der Gewis­sens­ernst. Für Luther spricht Gott auf zwei Wegen zu uns: in der Bibel und im Gewissen. Unser Gewissen sagt uns ziemlich deutlich, was richtig und was falsch ist. Und es tut das nicht „von außen“, im ­Sinne einer Verfassung, eines Gesetzes oder einer Vereinsregel, sondern „von innen“, aus uns selbst heraus. Denn die Forderung des Gewissens ist eine Forderung, die uns entspricht. Lutheraner ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass Gott den Menschen im Gewissen zu sich selbst zurückruft. Lutheraner lassen sich deshalb von keiner anderen Instanz, und sei sie noch so mächtig, zwingen, etwas gegen das eigene Gewissen zu unternehmen.

Benjamin Hasselhorn

Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn ist Historiker und Theologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum in Wittenberg. 2017 erschien bei der Evangelischen Verlagsanstalt sein Buch „Das Ende des Luthertums?“

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