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Eine evangelische Gretchenfrage

Sollen sich die Protestanten stärker oder weniger in weltliche Belange einmischen? Anmerkungen zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft

Benjamin Hasselhorn01.04.2018

Die Debatte über die Politisierung der evangelischen Kirche ist in vollem Gange, und es sieht nicht so aus, als würde die Kirche diese Debatte so bald wieder loswerden. Die großen kirchlichen Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum 2017 riefen Kritik hervor, weil die Kirche sich nicht mit dem Glauben, sondern vor allem mit Gesellschaftspolitik befasste, von Armut über Gender bis Rassismus. „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen“, so das offizielle Motto.

Die mauen Besucherzahlen beim Kirchentag und der „Weltausstellung Reformation“ scheinen aber zu belegen, dass dieses kirchliche Weltverbesserungsprogramm immer weniger Menschen interessiert. Und gleichzeitig immer mehr Menschen auf die Palme bringt. An Weihnachten 2017 wunderte sich Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt per Twitter über einen Weihnachtsgottesdienst, der nicht von einem Abend bei der Grünen Jugend zu unterscheiden sei, und fachte damit die Debatte wieder an, wie politisch Predigten eigentlich sein sollten.

Unruhe an der Basis
Endlich! Endlich kommt Bewegung in die Grabesruhe der evangelischen Kirche in Deutschland. Endlich kommt mal die eine oder andere Rückmeldung aus dem steuerzahlenden Kirchenvolk, das viel zu lange nur mit stummem Kopfschütteln dem Treiben seiner Hirten zugesehen hat, und das über die politisierenden Hochglanzprojekte zum Reformationsjubiläum mit den Füßen abstimmte. Das keine Lust mehr hat, Gottesdienste zu ertragen, die entweder so politisiert sind, dass sie wie eine schlechte Imitation der Tagesthemen wirken, oder so banal, dass man glaubt, in einen Kindergottesdienst für Große geraten zu sein. In dieser Situation ist die Kritik an der Politisierung der evangelischen Kirche ein Gesprächsangebot an unsere kirchlichen Funktionsträger.

Es lautet: Leute, redet endlich über den christlichen Glauben! Uns interessiert nicht, was der Prediger zu Donald Trump, Wladimir Putin oder der Obergrenze zu sagen hat, sondern wir wollen wissen, was diesen Laden namens evangelische Kirche im Kern ausmacht, wir wollen etwas über Gott erfahren, ob es ihn gibt, wer er ist, wie er zu uns steht und wie wir zu ihm stehen. Und wie sich das möglicherweise in unserem Leben auswirken könnte – und nicht im Leben von Staatschefs. Wer vor denen predigt, kann meinetwegen auch mal auf der Kanzel über Politik sprechen.

Wie gesagt, die Kritik an der Politisierung ist ein Gesprächsangebot, und sie ist ein gut gemeinter Rat: Wenn die Kirche eine Zukunft haben will, dann sollte sie schleunigst wieder lernen, über Glaubensfragen zu reden, sie sollte sich wieder an ihre eigene, die christliche Tradition erinnern, sie sollte die fundamentale Krise, in der sich die Kirche befindet, nicht ignorieren, indem sie auf das vermeintlich einfachere Feld der Gesellschaftspolitik ausweicht. Aber in der Kirchenleitung scheint niemand die Kritik hören zu wollen. Man kennt sie ja schon, findet sie langweilig und sieht im Ernst keinen Handlungsbedarf. Die Kirchensteuereinnahmen sind so hoch wie noch nie, für die eigene Pension wird es schon noch reichen. Wo ist also das Problem?

Modernes Pharisäertum
Dabei sollte die Kirche es eigentlich als ein Geschenk vom Himmel annehmen, dass es noch Leute gibt, die sie kritisieren, die sich ernsthaft darüber Gedanken machen, welche Aufgabe die Kirche sinnvollerweise zu erfüllen hätte, die sich noch nicht gänzlich abgewendet haben, obwohl sie sehr gute Gründe dafür hätten. Sie tut es nicht, weil sie im Denken längst eingerostet ist. 
Weil für sie die einzige denkbare Reaktion darauf, dass junge Menschen nicht mehr kirchlich gebunden sind, darin besteht, über die Errichtung kirchlicher Bars, Clubs und Fitnessstudios nachzudenken.

Die Faulheit im Denken vieler unserer kirchlichen Funktionsträger hat ein politisch-moralisches Pharisäertum entstehen lassen, das die evangelische Kirche immer wieder als ihren neuen Markenkern vor sich herträgt. Ein Pharisäertum, das sein Selbstwertgefühl aus der eigenen moralischen Überlegenheit gewinnt und das den Splitter im Auge des Bruders genau erkennt, während es den Balken im eigenen Auge übersieht. Ein Pharisäertum, das die in der Gesellschaft heraufziehende Kultur des totalen Meinungskrieges noch befördert. Wer zum Beispiel den Satz „Nächstenliebe kennt keine Obergrenze“ zum politischen Programm erhebt, der wirft damit jedem, der für eine Obergrenze eintritt – und dafür könnte es viele gute Gründe geben – vor, ohne Nächstenliebe zu sein.

Das ist kein Argument in der Sache, sondern ein Argument ad hominem, ein Argument, das dem Gesprächspartner seine moralische Würdigkeit abspricht. In den USA ist es längst gang und gäbe, den politischen Kontrahenten noch vor jedem Austausch von inhaltlichen Argumenten zum finsteren Schurken zu erklä- ren, zu einem Bösewicht, der sich nicht um Kranke, Arme oder Gewaltopfer schert – wie sonst könne man gegen Obamacare sein, gegen höhere Besteuerung von Reichen oder gegen schärfere Waffengesetze?

In Fragen, die das Verhältnis der Geschlechter oder der verschiedenen ethnischen Gruppen zueinander betreffen, kommt es allmählich in Mode, jedem das Rederecht abzuerkennen, der das falsche Geschlecht oder die falsche Hautfarbe hat. Ein Mann hat demnach kein Recht, über Abtreibung zu reden, ein Weißer kein Recht, über Polzeigewalt gegen Schwarze zu sprechen. Wie soll dann noch eine vernünftige politische Diskussion zustande kommen?

Mäßigung statt Anmaßung
In dieser Situation zur Mäßigung aufzurufen, zur moralischen Abrüstung, wäre vielleicht nicht das schlechteste. Aber anstatt zur Mäßigung aufzurufen, verleihen die Politisierer in der evangelischen Kirche einer der Positionen einen Heiligenschein und brandmarken die anderen Positionen als böse. Besonders abstoßend ist dieses Vorgehen, wenn es im Gestus des Widerstands vorgetragen wird, nach dem Motto: Wir sind die Kirche Dietrich Bonhoeffers, deshalb streiten wir für die Armen und Schwachen. Entschuldigung, aber seit wann ist es ein Zeichen des Widerstands, die Politik der Regierung zu vertreten und dasselbe zu sagen, was gefühlte 90 Prozent aller Zeitungen und Fernsehsender propagieren und 80 Prozent aller Parteien?

Bonhoeffer setzte sein Leben ein, um sich einem verbrecherischen Staat entgegenzustellen. Wie zynisch muss man sein, Bonhoeffers Erbe zu reklamieren und dann alles zu tun, um jede denkbare Opposition zum Regierungskurs als moralisch verwerflich zu diskreditieren? Wann hat die evangelische Kirche eigentlich aufgehört, gegen Werkgerechtigkeit einzutreten? Wann ist sie zum Club derer geworden, die für ihre guten Absichten belohnt werden wollen?

Es gab im Luthertum einmal eine Tradition, auf die zu hören sich für die Kirche heute wieder lohnen würde: die vielgescholtene Zwei-Reiche-Lehre. Martin Luther hat sie in seiner 1523 erschienenen Schrift „Von weltlicher Obrigkeit. Wie weit man ihr Gehorsam schuldet“ in einem einzigen Satz zusammengefasst: „Wenn nun jemand die Welt nach dem Evangelium regieren wollte (...), er würde den bösen, wilden Tieren die Stricke und Ketten lösen.“ Nicht zufällig ist ein „christlicher Staat“ im strengen Sinne eine Unmöglichkeit. Schon in der individuellen Ethik ist es eine schier unerfüllbare Herausforderung, sich an die Grundsätze der Bergpredigt zu halten. Wer aber einen Staat auf Nächstenliebe verpflichten will anstatt auf die Einhaltung der Rechtsordnung, der hat das Christentum nicht verstanden. Oder arbeitet aktiv an dessen Abschaffung.

Die Kirche und der Staat
Die frohe Botschaft von der Gnade Gottes lautet nicht: Schafft das Reich Gottes auf Erden. Sie lautet: Du bist ein Sünder, so wie deine Mitmenschen, und Gott liebt dich trotzdem. Er wird dich gesundmachen, wenn du es zulässt – und er, nicht du, wird das Reich Gottes aufrichten. Wer diese Botschaft ignoriert und glaubt, das Reich Gottes selbst errichten zu können, der wird das Gegenteil von dem erreichen, was Christus gepredigt hat; er wird Unfrieden stiften, Ungerechtigkeit schaffen und sich über seine Mitmenschen erheben.

Und er wird die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats zerstören, in dem wir leben; jene staatliche Ordnung, von der Martin Luther gesagt hat, dass ihre Existenz angesichts der menschlichen Natur ein Wunder sei. Politisches Engagement eines evangelischen Christen sollte in diesem Sinne zum Ziel haben, die staatliche Ordnung zu erhalten. Das ist sicher viel langweiliger als das Schaffen einer besseren Welt, und es eignet sich nicht dazu, sich moralisch über seine Mitmenschen zu erheben. Aber dafür birgt es die Chance, tatsächlich Gutes zu wirken. Die evangelische Kirche sollte endlich auf die Kritiker ihrer Politisierung hören.

Benjamin Hasselhorn

Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn ist Historiker und Theologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum in Wittenberg. 2017 erschien bei der Evangelischen Verlagsanstalt sein Buch „Das Ende des Luthertums?“

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