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„Wir wollen an die Faktenlage erinnern“

Forum - „Wir wollen an die Faktenlage erinnern“
Das Gemälde „Luthers Thesenanschlag“ von Ferdinand Pauwels (1872) © ullstein bild - akg

Ein Gespräch mit Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr über Luthers Intentionen im Jahre 1517 und die Mythen, die daraus entstanden sind

01.10.2018

Im Jahre 2017 begingen die evangelischen Christen den 500. Jahrestag der Reformation. Zu diesem Ereignis erschienen zahlreiche Publikationen, die sich dem Leben Martin Luthers oder der Reformation als europäischer Bewegung widmeten. Die einzig zündende Debatte entwickelte sich dabei um die Frage, ob es den Thesenanschlag Luthers, der als Ausgangspunkt der Reformation gilt, überhaupt gab. Zu dieser Frage haben nun Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr eine Streitschrift vorgelegt.

Herr Hasselhorn, Herr Gutjahr, ein Jahr nach dem Reformationsjubiläum legen Sie ein Buch vor, dass sich noch einmal explizit mit dem Thesenanschlag Martin Luthers befasst. Warum?
Benjamin Hasselhorn: Einerseits zeigen wir damit, dass das Gedenken an die Reformation nach dem Erinnerungsjahr 2017 nicht vorbei ist. Andererseits ist das Buch eine Auseinandersetzung mit der wichtigsten Debatte rund um das Jubiläum. Wir haben uns vorher gar nicht vorstellen können, dass die Frage des Thesenanschlags weiterhin so umstritten ist und die Gemüter derart erhitzt, wie es sich im letzten Jahr gezeigt hat.

Warum ist Luthers Thesenanschlag so umstritten?
Mirko Gutjahr: Hier in Wittenberg stellt sich diese Frage eigentlich gar nicht, hier gilt der Thesenanschlag natürlich schon aus Lokalpatriotismus als Tatsache. Auch die Besucher, die nach Wittenberg kommen, pilgern zur Tür der Schlosskirche, um denjenigen Ort zu sehen, von dem die Reformation ausging. In der Wissenschaft jedoch wurde in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung der Ereignisse um den 31. Oktober 2017 immer wieder bestritten. Der Thesenanschlag galt als ein eher inneruniversitärer Vorgang, der keine herausgehobene überregionale Bedeutung gehabt habe und für den Gang der Reformation eigentlich irrelevant gewesen sei.

Woher rührt die Skepsis der Wissenschaft?
Hasselhorn: Das Problem liegt im 19. Jahrhundert, das unsere Geschichtsbilder von den Zeiten davor maßgeblich geprägt hat. Damals wird der Thesenanschlag zu einem zentralen Ereignis im Wirken Luthers verklärt. Der hammerschwingende Luther, der die Kirche seiner Zeit herausfordert und damit die Reformation auslöst – das ist das große Bild, das in Vorträgen, Büchern und vor allem auf Historiengemälden im 19. Jahrhundert ubiquitär wird. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Reformationsforschung aber ihre Probleme mit dem 19. Jahrhundert. Da spielen politische Erwägungen eine Rolle, aber auch ein gewandeltes Selbstverständnis der Wissenschaft. Die Forschung setzt seitdem auf Entmythologisierung, auf Dekonstruktion, auf Nüchternheit statt Emotionen.
Gutjahr: Hinzu kommt, dass die Reformationsforschung seitdem auch inhaltlich andere Wege geht. Galt der Thesenanschläger von 1517 im Verständnis des 19. Jahrhunderts noch als einsamer  Held, der die Reformation quasi im Alleingang auslöste, und der Thesenanschlag als klar umrissener Beginn der Reformation, der zudem einen Bruch mit der alten Kirche markiert, so sehen die meisten Reformationsforscher heute Luther von Anfang an als Teil eines Netzwerkes, zu dem auch Melanchthon, Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, und andere gehörten. Außerdem bestreiten viele Kollegen, dass es sich um einen bewussten Bruch mit der Kirche gehandelt habe und deuten die Reformation stattdessen eher als eine Transformation von etwas Altem und eben nicht als Revolution.
Hasselhorn: Aus diesen Gründen galt das Bild des hammerschwingenden Luther als nicht mehr zeitgemäß. Doch darüber wurde vergessen, dass die Faktenlage etwas anderes sagt. Und an diese Faktenlage wollen wir wieder erinnern.

Worauf stützen Sie Ihre Kenntnisse?
Gutjahr: Wir haben uns zunächst die Frage gestellt, welche Argumente gegen den Thesenanschlag sprechen. Da gibt es zwei Stoßrichtungen: Die eine ist das Schweigen der Quellen und das andere ist die zumindest vorgebliche Widersprüchlichkeit der Quellen. Doch schaut man sich die angeblichen Widersprüchlichkeiten an, lassen sich viele von ihnen relativ einfach auflösen. Luther selbst feiert 1527 den zehnten Jahrestag seiner Tat, und zwar in einem Brief an Nikolaus von Amsdorf, der später in Naumburg der erste lutherische Bischof Deutschlands wird. Für Luther ist also ganz klar, dass am 31. Oktober 1517 die Reformation begann. Und das war auch allen Zeitgenossen klar.

In dem Brief erwähnt Luther jedoch nicht, dass er seine Thesen an die Tür der Schlosskirche genagelt hat.
Hasselhorn: Das stimmt, das wäre natürlich der unumstößliche Beweis. Aber eine Schilderung des genauen Vorgehens brauchen wir gar nicht. Sie werden auch nirgendwo beschrieben finden, wie Adorno seine erste Vorlesung in die Öffentlichkeit getragen hat. Und doch gibt es in unserem Fall gleich zwei zeitgenössische Quellen, die von Luthers Thesenanschlag berichten: eine seit langem bekannte Notiz Melanchthons und eine vor zehn Jahren wiederentdeckte Quelle von Luthers Privatsekretär Georg Rörer. Darüber hinaus haben wir einige Indizien zusammengetragen, die in der Forschung bislang nur verstreut oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden, zum Beispiel eine erst seit dem Jubiläum richtig zugeordnete handschriftliche Notiz von Luthers Kollegen Johannes Lang auf einem Druck- exemplar der 95 Thesen, die für unsere Beweisführung entscheidende Bedeutung hat. Aufgrund der Schreibfehler in diesem Thesenplakat können wir sogar nachweisen, dass es ein Exemplar dieser Druckreihe war, das Luther am 31. Oktober 1517 verschickt hat.

Wie werden die Ereignisse um den 31. Oktober 1517 von jenen gedeutet, die den Thesenanschlag bestreiten?
Gutjahr: Die am meisten verbreitete Gegenmeinung lautet, Luther habe seine Thesen gegen den Ablass nicht angeschlagen, sondern in brieflicher Form verschickt. Dass das geschah, ist sicher. Wir selbst haben im vergangenen Jahr in unserer großen Sonderausstellung Luthers Brief an Kardinal Albrecht von Brandenburg zeigen dürfen. Und wir wissen, dass Luther seine Thesen anschließend auch an den Bischof Schulze in Brandenburg sowie auch an viele Kollegen geschickt hat. Aber warum stellt das eine das andere infrage? Luther hat definitiv die 95 Thesen bei einem Drucker drucken lassen, er hat also offensichtlich einen Anschlag geplant. Und er hat eine Disputation vorgehabt, auch wenn diese am Ende allem Anschein nach nicht stattfand. Diesen, nicht zuletzt auch finanziellen Aufwand hätte er sicher nicht betrieben, wenn er damit nichts vorgehabt hätte. Luther selbst sagt später, er habe zur Disputation aufgerufen, es sei nur leider niemand in die Arena – wie er es nannte – zum Kampfplatz gekommen.
Hasselhorn: Wenn man eine überzeugende Deutung der Ereignisse um den 31. Oktober 1517 zu finden sucht, sollte man sich nicht nur die Thesen selbst ansehen, sondern auch das Verhalten Luthers in den Tagen und Wochen vor und nach deren Versendung. Nur wenige Tage später fängt er nämlich an, sich unter seinen Freunden einen neuen Namen zu geben: Martinus Eleutherius, was soviel heißt wie Martin der Befreite. Luther verknüpft diesen Tag offenkundig mit einer Befreiungserfahrung. Der Brief vom 31. Oktober ist zudem der erste Brief, den er mit dem Namen Luther unterschreibt. Denn eigentlich hieß er ja Luder, und vermutlich ist die neue Schreibweise eine Anspielung auf das Eleutherius, auf das Befreit-Sein. Für Luther selbst ist von Beginn an klar, dass dieser Tag einen großen Einschnitt in seinem Leben bedeutet. Daher begeht er ihn, wie schon erwähnt, bereits zehn Jahre später. Und übrigens lassen sich zahlreiche Belege dafür finden, dass den Zeitgenossen in beiden konfessionellen Lagern der tiefe Einschnitt, den das Jahr 1517 bedeutete, sehr wohl bewusst war.

Welche Rolle spielt in dem Streit das Symbol von Hammer und Nagel?
Hasselhorn: Viele sind der Meinung, der Thesenanschlag als Ereignis sei unwichtig, weil das in etwa so sei, als wenn ein Professor seinen Vorlesungsaushang gemacht hätte. Das ist aber nur die eine Seite des Geschehens. Zugleich ist der Thesenanschlag nämlich ein starkes Symbol. Luther, der am Vorabend der großen Reliquienschau in der Schlosskirche, zu der sehr viele Pilger kommen werden, seine Ablassthesen an das Kirchenportal anschlägt, das ist mehr als ein bloßer Vorlesungsaushang, das ist ein Akt des Protestes, wie Erwin Iserloh sagte, das ist eine Handlung, die sagt: „Leute, ich habe etwas zu sagen, das ihr alle hören solltet!“. Deshalb ist es auch nicht egal, ob Forscher den Thesenanschlag als Ereignis bestreiten oder nicht. Generationen von Studenten haben gelernt, dass die Geschichte voller Symbole und Mythen ist, die mit den Tatsachen nicht viel zu tun haben. Für die Tatsachen sollte die Wissenschaft zuständig sein, die entmythologisiert und dekonstruiert. Mit Luthers Thesenanschlag haben wir jedoch einen Fall, in dem es genau anders herum ist: Die Wissenschaftler gehen mit ihrer Dekonstruktion vollkommen von den Quellen weg, während der Mythos den Quellen entspricht. Deshalb überlegen wir auch, ob und wie es gelingen kann, diese wirkmächtigen Bilder des 19. Jahrhunderts nicht zu verdrängen, sondern sie konstruktiv für unsere Bildungsarbeit zu nutzen.

Zum Beispiel?
Hasselhorn: Wir haben im vergangenen Jahr im Rahmen unserer Werbekampagne für die drei nationalen Sonderausstellungen in Berlin, Eisenach und Wittenberg ironisch mit dem Hammermotiv gespielt. Das ist, vorsichtig formuliert, bei vielen Wissenschaftlern nicht auf großen Jubel gestoßen, aber bei den Besuchern hat es wunderbar funktioniert. Man kann das nun kritisieren, oder man sucht einen Weg, die im 19. Jahrhundert entstandenen Bilder und Mythen in der Gegenwart konstruktiv zu nutzen. Im 19. Jahrhundert war nicht alles verkehrt, und heute das Gegenteil von damals zu sagen führt auch nicht immer zur Wahrheit.

Warum hatten die Thesen 1517 eigentlich eine so große Wirkung?
Hasselhorn: Wer die 95 Thesen in der Erwartung liest, darin einem großen Rebellen zu begegnen, der wird von der Harmlosigkeit von Luthers Formulierungen überrascht sein, vor allem wenn man Luthers Schriften von 1520 daneben stellt, in denen er den Papst als Antichrist bezeichnet. Aber wenn man die Thesen unvoreingenommen betrachtet, dann bleibt schon in diesem ersten großen Auftritt Luthers vom päpstlichen Machtanspruch nichts mehr übrig.
Gutjahr: Und nicht nur das: In These 36 steht zum Beispiel, dass jeder Christ, der wahrhaft bereut hat, vollständige Vergebung von Strafe und Schuld erhält, auch ohne Ablassbriefe. Allein diese These enthält viel Sprengkraft, weil sie sich erstens gegen den Ablass richtet, der ein wichtiges Instrument des damaligen Bußsakraments gewesen ist. Und zweitens bedeutet sie, dass ich, wenn meine Reue für meine Vergebung ausreicht, keinen Priester mehr brauche, der mir die Vergebung vermittelt. Das ist ein frontaler Angriff auf das Selbstverständnis der Kirche, die sich als diejenige Institution verstand, die allein das Heil vermittelt.

Hat Luther bereits 1517 eine Kirchenspaltung beabsichtigt?
Gutjahr: Nein, das wollte er sicherlich nicht. Er wollte eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Aber wenn jemand Thesen verfasst, sie in der Öffentlichkeit zur Disputation stellt, sie an einen weiten Adressatenkreis schickt, um die Meinung der Empfänger zu hören, sie auch an die kirchlichen Vorgesetzen schickt und zudem am selben Tag seinen Namen ändert, und zwar in „der Befreite“, dann hat dieses Schriftstück für ihn eine besondere Bedeutung. Deshalb wollen wir diesem Dokument auch wieder zu seinem Recht verhelfen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass mit dem Hammer auch Fragen der konfessionellen Identität berührt werden. Warum ist das so wichtig für das Evangelisch-Sein?
Hasselhorn: Das hängt wieder mit dem Symbol des Hammers zusammen. Thesen einfach nur anzukleben ist nicht so schmissig wie das Anschlagen mit einem Hammer. Der Hammer hat natürlich etwas Konfrontatives und passt nicht als Zeichen des ökumenischen Aufeinanderzugehens. Der Hammer ist eher ein Bild für Aufbruch, für Konflikt, für Protest. Wir sind die letzten, die gegen Ökumene wären. Aber wir sind auch dafür, dass man die historischen Quellen beachten muss.


 

Buchtipp
Benjamin Hasselhorn / Mirko Gutjahr Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag Evangelische Verlagsanstalt, 145 Seiten, 10,- Euro. eva-leipzig.de