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Titelthema

Der verpasste Abgang

Titelthema - Der verpasste Abgang
Während seiner Amtszeit inszenierte sich Wilhelm II. gerne als strahlender Held. © Uni Koblenz Landau, akpool gmbh/arkivi

Hätte Kaiser Wilhelm II. 1918 seinem Land einen letzten Dienst erweisen können?

Benjamin Hasselhorn01.09.2018

Der letzte Eindruck bleibt hängen. Diese Erfahrung machen viele Staats- oder Regierungschefs, die zum falschen Zeitpunkt und auf die falsche Art und Weise abtreten. Ein schlechter Abgang kann im ungünstigsten Fall die eigene Regierungszeit nachträglich verdunkeln und den Nachfolgern ein politisches Chaos hinterlassen. Die deutsche Geschichte kennt mehrere Beispiele dafür. Ein besonders verheerendes ist der Sturz Wilhelms II. im November 1918. Die Art und Weise, wie dieser Sturz vor sich ging, bestimmte nicht nur dessen persönliches Schicksal, sondern auch das Schicksal Deutschlands und Europas insgesamt.

Als nämlich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1918 der Zug abfuhr, der den deutschen Kaiser Wilhelm II. vom belgischen Hauptquartier nach Holland brachte, war das Ende der Monarchie in Deutschland besiegelt. Ein Feigling auf dem Thron, ein Deserteur, der in der Stunde der höchsten Not das Vaterland im Stich ließ und ins neutrale Ausland floh, das war zu viel für die Deutschen – die in den Jahren der Regierung Wilhelms II. gelernt hatten, ihren Kaiser als symbolischen Repräsentanten, ja als Personifikation der Nation zu betrachten. Keine Berücksichtigung der Umstände, keine nachträgliche Erklärung der Beweggründe konnte es rechtfertigen, dass Wilhelm II. im Ernstfall versagt hatte. Die Abdankung des Kaisers, vor allem aber die sang- und klanglose Flucht führten zu einem totalen Glaubwürdigkeitsverlust der Monarchie. Der Monarch war am Ende, und mit ihm die Monarchie.

Der ideale Buhmann
Dabei hätte es Alternativen gegeben. Noch wenige Stunden vor der Flucht wollte Wilhelm auf seinem Posten ausharren, selbst wenn er von den Feinden totgeschlagen würde. Er dachte schon darüber nach, an der Spitze seines Heeres zurück nach Berlin zu marschieren und dort die Revolution niederzuschlagen. Seine Generäle erklärten ihm aber, dass die Armee nicht mehr treu zum Kaiser stehe. Einige Berater hatten daher einen anderen Plan, der heute kaum noch bekannt ist: Wilhelm II. sollte mit einem kleinen Trupp Getreuer an die Front gehen und dort den „Heldentod“ sterben.

Das, so die Hoffnung, würde die Monarchie vielleicht noch retten können. Denn ein Kaiser, der sich zum Wohle des Vaterlandes opferte, würde dadurch sicher die Hochachtung und Solidarität seines Volkes und seiner Armee zurückerlangen. Hinter dem lebenden Kaiser wollten sich die Deutschen nicht mehr versammeln, aber hinter einem toten, als Held gestorbenen Kaiser hätten sie das möglicherweise getan. Mancher hoffte sogar, dass das Heer, von einem solchen symbolisch-heroischen Akt inspiriert, noch einmal alle verbliebenen Kräfte mobilisieren werde und dadurch die Front so lange werde halten können, bis die politische Führung akzeptable Bedingungen für einen Waffenstillstand ausgehandelt habe.

Die anschließenden Friedensverhandlungen hätten dann mehr oder weniger auf Augenhöhe stattgefunden. Dazu kam es aber nicht. Im entscheidenden Augenblick kniff der Kaiser, bestieg den Zug und machte sich aus dem Staub. Dieses Verhalten war mit dafür verantwortlich, dass Wilhelm II. sehr rasch als Hauptschuldiger an der militärischen und politischen Katastrophe des Jahres 1918 identifiziert wurde und das wilhelminische Kaiserreich als dunkles Kapitel in das öffentliche Geschichtsbild einging. Hatte der Kaiser nicht das Deutsche Reich durch seine unkluge, wankelmütige, zwischen Schwäche und Auftrumpfen hin und her schwankende Politik in den Krieg hineingeführt?

Hatte er nicht 1890, kaum zwei Jahre auf dem Thron, seinen Reichskanzler Bismarck entlassen und damit denjenigen fortgejagt, der für eine stabile, den Frieden sichernde Außenpolitik gesorgt hatte? Und hatte er nicht schon bald danach das Bündnis mit Russland aufgekündigt und mit der Aufrüstung der deutschen Flotte Großbritannien gegen sich aufgebracht? Hatte er nicht zudem sinistere Gestalten als Vertraute um sich versammelt, die einen ungünstigen Einfluss auf ihn ausübten? Hatte er nicht die Sozialdemokratie mit aller Gewalt unterdrückt und versucht, eine autokratische Herrschaft zu errichten, für die er sogar ein in der Reichsverfassung gar nicht vorgesehenes Gottesgnadentum in Anspruch nahm?

Und hatte er nicht in seinem Größenwahn tatsächlich von langer Hand einen großen europäischen Krieg vorbereitet? Hatte er nicht zum Beispiel schon in tiefen Friedenszeiten die Messer gewetzt, als er 1900 in Bremerhaven seine martialische „Hunnenrede“ hielt? Hatte er dadurch nicht den anderen europäischen Großmächten letztlich keine Wahl gelassen als sich gegen Deutschland und Österreich zu verbünden? Der Fall schien klar, und scheint es bis heute: Wilhelm II. war ein Versager auf dem Thron, der Deutschland und Europa ins Unglück stürzte.

Ein Gedankenspiel
Doch was wäre gewesen, wenn der Kaiser im November 1918 nicht geflohen wäre? Wenn er die Abdankung verweigert hätte? Wenn er tatsächlich auf diejenigen Berater gehört hätte, die ihm den Königstod an der Front empfahlen? Wenn die Monarchie nicht so sang- und klang- und vor allem nicht kampflos untergegangen wäre? Hätte man sich dann nicht mit großer Wahrscheinlichkeit an einen ganz anderen Wilhelm II. erinnert? An einen Kaiser, der als junger Mann den Thron bestieg und das deutsche Kaiserreich zu einem modernen, aufstrebenden Staat machte? Der die technische Modernisierung vorantrieb und Deutschland im Wettbewerb der Industrienationen an die erste Stelle führte?

Der ein Förderer von Kunst und Wissenschaft war, unter dessen Herrschaft ein Universitätswesen entstand, um das die Deutschen von aller Welt beneidet wurden? Der sich um die Integration derjenigen gesellschaftlichen Gruppen besonders bemühte, die im „Heiligen Evangelischen Reich deutscher Nation“ bislang außen vor geblieben waren, vor allem Arbeiter, Katholiken und Juden? Der freundlich, zugewandt und vielseitig interessiert war – und überdies viel intelligenter als sein Vetter Nikolaus und viel gewinnender als seine Großmutter Viktoria, die auf dem russischen, beziehungsweise dem britischen Thron saßen? Der sich immer ehrlich um die Wahrung des Friedens in Europa bemüht hatte?

Und der schließlich, als im Sommer 1914 der Krieg unausweichlich war, das erlösende, die allgemeine Stimmung treffende Wort sprach: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“? Es wird vielleicht nicht jeder dieses Gedankenspiel mitmachen wollen, das letztlich auf Spekulation angewiesen ist. Weniger spekulativ ist dagegen, was dem Ende der deutschen Monarchie nur wenig später folgte: nämlich die dunkelste Phase, die die neuere europäische Geschichte kennt. Die demokratische Republik, die 1919 in Deutschland gegründet wurde, hielt gerade einmal vierzehn Jahre, dann wurde sie von einer totalitären Diktatur hinweggefegt.

Zu den Faktoren, die dafür verantwortlich sind, gehört auch, dass ein großer Teil des Volkes die parlamentarische Demokratie als ein von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs aufgezwungenes System ablehnte. Ähnliches gilt für Österreich, dessen monarchische Staatsform ebenfalls infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg abgeschafft wurde. Italien und Spanien wurden zu Beginn der 1920er Jahre Diktaturen, Russland war dies schon während des Krieges geworden. Und auch in der parlamentarischen Monarchie Großbritannien und der Republik Frankreich waren in der Zwischenkriegszeit große Teile der politischen und intellektuellen Eliten von der Schwäche der Demokratie überzeugt und befürworteten stattdessen die neuen, auf das Charisma des „Führers“ setzenden Formen der Diktatur.

Die neuen Demokratien Europas wurden nicht nur in einer Krisensituation gegründet, sie schienen auch selbst Teil der Krise zu sein. Thomas Mann versuchte diese Gemütslage 1930 in seiner „Deutschen Ansprache“ zu beschreiben: „Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue bessere Welt zu schaffen, hat bei Friedensschluß nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die psychischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade verderben lassen, daß es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu glauben.“

Bürde für die neue Zeit
Die Abschaffung der Monarchie schwächte Deutschland – und Österreich und Italien und Russland; sie machte diese Staaten anfällig für totalitäre Versuchungen, die den ganzen Kontinent in eine beispiellose Katastrophe stürzten. Man kann verstehen, wieso Winston Churchill im Nachhinein meinte, dass es vielleicht doch eine bessere Idee gewesen wäre, Deutschland 1919 nicht zur demokratischen Republik, sondern zur parlamentarischen Monarchie zu machen, um die staatliche Ordnung zu stabilisieren.

Es spricht vieles dafür, dass ein solcher Schritt Deutschland vor dem Siegeszug des Nationalsozialismus bewahrt hätte. Ein Kaiser, der im entscheidenden Augenblick versagte, machte dies aber unmöglich. Nicht immer hat der Abtritt eines Machthabers solche gravierenden Folgen. Aber unwichtig ist er nie. Denn der letzte Eindruck bleibt hängen. 


Buchtipp
Benjamin Hasselhorn Königstod. 1918 und das Ende der Monarchie in Deutschland Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 200 Seiten, Hardcover, 22,00 EUR, eva-leipzig.de.de

Benjamin Hasselhorn

Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn ist Historiker und Theologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum in Wittenberg. 2017 erschien bei der Evangelischen Verlagsanstalt sein Buch „Das Ende des Luthertums?“

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