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ESM-Vertrag

Ein Urteil – und seine Folgen

Herta Däubler-Gmelin über die Entscheidung zum ESM-Vertrag und die Aufgaben für die Politik

Herta Däubler-Gmelin12.10.2012

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat mit seinem Urteil vom 12. September 2012 grünes Licht für die Ratifizierung durch Deutschland und damit die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Vertrags über den permanenten Rettungsschirm ESM und des Fiskalpakts gegeben.

Das Urteil hat zwar zunächst nur die Anträge auf einstweilige Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache abgelehnt, die in einigen Monaten noch folgen muss; seine klaren Aussagen zur Sache selbst nach einer für den Erlass vorläufiger Entscheidungen außergewöhnlich langen Beratungszeit, prägen jedoch die endgültige Entscheidung.

Das Urteil selbst ist von Politikern, aber auch von der Wirtschaft und den meisten Journalisten sehr begrüßt worden. In scharfem Gegensatz dazu standen die vielen scharf ablehnenden Äußerungen in Internetblogs und auf den Leserbriefseiten der Zeitungen, die zeigen, dass Misstrauen und Sorge die seit Jahren als alternativlos gepriesene, bisher jedoch nicht erfolgreiche Politik zur Rettung des Euro und zur Überwindung von Schulden- und Bankenkrise auch weiterhin begleiten.

Professor Christoph Degenhart und ich haben die Verfassungsbeschwerden von über 37.000 Mandanten als Prozessvertreter in Karlsruhe vertreten. Diese Verfassungsbeschwerden waren und sind wichtig, weil erst durch sie die inhaltliche Auseinandersetzung um die Politik zur Eurorettung überhaupt öffentlich in Gang gekommen ist. Heute sind viele dieser Bürgerinnen und Bürger natürlich enttäuscht. Sie haben sehr bedauert, dass Karlsruhe seiner früheren Rechtsprechung nicht gefolgt und zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der permanente Rettungsschirm wesentliche Budget-Rechte des deutschen Bundestages einschränkt und damit das Demokratieprinzip verletzt. Diese Feststellung hätte aufgrund der früheren Karlsruher Rechtsprechung einen auf Art. 146 GG gegründeten Volksentscheid erforderlich gemacht. Den wollten die Karlsruher Richter offensichtlich vermeiden. Die Notwendigkeit einer breiteren Legitimationsgrundlage für den zunehmenden Integrationsprozess in Europa allerdings ist damit jedoch nicht vom Tisch, auch wenn es wahrscheinlich sinnvoller wäre, als Rechtsgrundlage für europäisch vernetzte Volksentscheide einen neuen Art. 23a ins Grundgesetz einzufügen.

Was das Urteil feststellt

Die wichtigste Entscheidung gibt dem Bundespräsidenten das Recht, die Zustimmungsgesetze zu unterzeichnen und damit der Bundesregierung, das Ratifizierungsverfahren einzuleiten. Das ist geschehen.

Allerdings hat Karlsruhe angeordnet, dass im Ratifizierungsverfahren mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit klargestellt werden muss, dass die Höchstbelastung aus dem ESM-Vertrag die vorgesehenen ca. 192 Milliarden Euro für die Bundesrepublik Deutschland nicht übersteigen darf. Diese Höchstgrenze zu überschreiten, wird nur mit vorheriger Zustimmung des Bundestages zulässig sein.

Außerdem muss völkerrechtlich verbindlich klargestellt werden, dass der Bundestag alle Informationen aus dem ESM erhalten muss, damit er die ihm zustehenden Mitwirkungsrechte auch ausüben kann. Die Verschwiegenheits- und Vertraulichkeitspflichten der ESM-Verantwortlichen aus dem ESM-Vertrag dürfen dieses Informationsrecht also nicht behindern.

Das weitere Verfahren

Bei Einhaltung dieser Auflagen, so hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, könne es beide Verträge grundgesetzkonform auslegen. Das hat das Gericht getan und damit entschieden, dass die in seinen früheren Urteilen zur europäischen Integration markierte „rote Linie“ von Hoheitsübertragungen auf die Europäische Union nicht überschritten, und damit auch kein vorhergehender Volksentscheid erforderlich sei.

Über die Bedeutung dieses Urteils, das eine klare Abkehr von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seit der Lissabon-Entscheidung bedeutet, wird nach dem Erlass und der Veröffentlichung der endgültigen Entscheidung noch viel zu diskutieren sein.

Im Augenblick (Ende September – die Redaktion) wird über den endgültigen Wortlaut der völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen beraten, die Karlsruhe verlangt. Im Anschluss daran wird die Bundesregierung die für die Ratifizierung erforderlichen Urkunden vorlegen. Völkerrechtlich verbindlich und damit bereit zur Übernahme seiner Aufgaben wird der permanente Rettungsschirm jedoch erst sein, wenn auch Großbritannien die dem ESM-Vertrag und dem Fiskalpakt zugrunde liegende Änderung des Art. 136 AEUV ratifiziert hat. Das ist bisher noch nicht geschehen.

Im Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird es jetzt darum gehen, zu entscheiden, welche Auswirkungen die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank auf den ESM haben. Anlass dafür sind bekanntlich nicht nur die Entscheidungen des Hohen Europäischen Rates von Ende Juni, sondern auch die Entscheidung der EZB selbst vom 6. September dieses Jahres mit der Ankündigung, Staatsanleihen von bedrängten Schuldenstaaten aufzukaufen, allerdings nur in Zusammenwirken mit dem ESM.

Diese Entscheidung hat zu Empörung geführt, weil manche Kritiker darin eine Überschreitung der Kompetenzen der EZB sehen. Auch zusätzliche Sorgen wurden laut, durch diese Aktivitäten könnten ohne vorherige Zustimmung durch den Deutschen Bundestag die Belastungen für die Bundesrepublik Deutschland über die vom Gericht bestimmte Höchstgrenze hinaus angehoben werden.

Nun obliegt bekanntlich die rechtsverbindliche Auslegung der europäischen Vertragsbestimmungen über die Zuständigkeit und Kompetenzen der Europäischen Zentralbank ebenso wie die von ESM und Fiskalpakt dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg; Karlsruhe kann rechtsverbindlich keine Feststellungen dazu treffen. Dennoch ist es denkbar, dass im Hauptsacheverfahren und in der abschließenden Entscheidung Feststellungen etwa über die Gültigkeit der Höchstbelastungsgrenze auch für den Fall des Zusammenwirkens von EZB und ESM getroffen werden, die dann zumindest eine politische Bedeutung haben.

Wann genau Karlsruhe seine Entscheidung in der Hauptsache treffen und ob davor noch eine weitere mündliche Verhandlung angesetzt wird, lässt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen.

Die Politik ist am Zug

Das Urteil vom 12. September 2012 hat zu den Ursachen von Banken-, Finanz- und Schuldenkrise nichts gesagt. Auch nicht zu notwendigen Schritten einer Eurorettung. Und zu den schädlichen Auswirkungen der bisher sehr einseitigen Politik schon gar nichts, die Menschen ohne Vermögen etwa in Griechenland, immer stärker belastet, die Reichen und Vermögenden jedoch ungeschoren davon kommen und die Arbeitslosigkeit in immer mehr Ländern der Eurozone immer stärker in die Höhe schnellen lässt. Leider hat es auch nichts über den Zusammenhang dieser Politik und ihrer Auswirkungen mit dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Euro und Europa gesagt.

Das Fehlen solcher Anmerkungen ist erklärbar, weil Karlsruhe das – offensichtlich im Unterschied zu den Bemerkungen zu europäischen Verträgen – nicht als Aufgabe des Gerichts angesehen hat. Alle diese Fragen und damit die Lebensfragen nicht nur für die Euro-Zone, sondern auch für Europa hat Karlsruhe in die Zuständigkeit, aber auch in die Verantwortung der Politik von Regierung und Parlament gestellt. Dort müssen diese Fragen jetzt auch ernsthaft aufgegriffen werden.

Herta Däubler-Gmelin
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin ist Rechtsanwältin und war von 1998 bis 2002  Bundesministerin der Justiz. Von 1972 bis 2009 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages. Am 29. Juni reichte sie mit dem Leipziger Staats- und Verwaltungsrechtler Christoph Degenhart für das Bündnis „Europa braucht mehr Demokratie“ eine Klageschrift gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein.