Interview
„Eine Bekundung der Loyalität gegenüber der Macht“
Im Gespräch mit dem Soziologen Lew Gudkow. Über die vergangene Präsidentenwahl, die Stimmung in der russischen Gesellschaft und die Zeit nach Wladimir Putin
Herr Professor Gudkow, bei der russischen Präsidentenwahl am 18. März stimmten 76,67 Prozent für eine weitere Amtszeit Wladimir Putins. Was bedeutet dieses Ergebnis, was sagt es über die russische Gesellschaft aus?
Die Wahlen vom März haben unter der russischen Bevölkerung im Grunde kein größeres Interesse gefunden, da die Ergebnisse von vornherein feststanden. Niemand zweifelte an der Wiederwahl Putins. Streng betrachtet haben wir es ja auch gar nicht mit einer richtigen Wahl zu tun. Die russische Präsidentenwahl würde ich eher als eine Akklamation bezeichnen, als das Zustandebringen eines Zwangskonsenses unter Zuhilfenahme politischer, medialer und teilweise polizeilicher Maßnahmen, als Nötigung zu einer Bekundung der Loyalität gegenüber der Macht.
In diesem Sinne wurden bereits die Kandidaten ausgewählt. Bei der Bevölkerung sollte der Eindruck erweckt werden, dass erstens bei den Wahlen alle politischen Kräfte vertreten sind – und dass diese zweitens gleichzeitig völlig ungeeignet sind als Putin-Konkurrenten. So wurde – unter dem Druck der Präsidialverwaltung – von den Kommunisten nicht der Parteivorsitzende Sjuganow aufgestellt, der seine üblichen 15 bis 18 Prozent hätte erreichen können, sondern der bis dato praktisch unbekannte Unternehmer Grudinin. Von der LDPR wurde der allen schon lange lästige Provokateur Schirinowski nominiert. Und von den Liberalen wurde völlig überraschend Xenia Sobtschak, die Tochter des früheren Oberbürgermeisters von Sankt Petersburg und ehemaligen Chefs Putins, ins Rennen geschickt, die als Moderatorin einer TV-Sendung mit beachtlichem Skandalfaktor einen bestimmten Ruf genießt. Diese mondäne Dame sollte einen möglichst negativen Eindruck auf die Wählerschaft der armen und depressiven Provinz machen. Und das ist auch passiert. Ihre Funktion bestand darin, eine auf den Westen orientierte, antipatriotische und unmoralische russische Opposition zu verkörpern.
Der einzige Politiker, der eine ernsthafte Gefahr für Putin hätte werden können, war Alexej Nawalny. Doch dieser wurde zur Wahl nicht zugelassen. Auch Nawalny hätte Putin natürlich nicht besiegen können, doch wenn er registriert worden wäre, hätte er eine breite Tribüne für die Darlegung seines Programms und die Kritik an der Putin-Politik erhalten, was dessen Chancen, sich als alternativloser nationaler Führer zu präsentieren, deutlich verschlechtert hätte.
Prof. Dr. Lew Gudkow ist Direktor des Lewada-Instituts, des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland.
Foto: Imago/Horst Galuschka
Sie sagen, die Wahlen wären im Volk kaum auf Interesse gestoßen. Andererseits lag die Wahlbeteiligung mit 67,47 Prozent vergleichsweise hoch. Das spricht nicht dafür, dass den Russen die Wahl ihres Präsidenten egal war.
Wir ermitteln mit unserem Institut regelmäßig die Stimmung in der russischen Gesellschaft. Noch im Februar waren 51 Prozent der Russen der Ansicht, dass die bevorstehende Wahl einen politischen Kampf lediglich imitieren soll. Nach all unseren Umfragen, wie auch nach den Ergebnissen anderer soziologischer Erhebungen war eine historisch niedrige Wahlbeteiligung zu erwarten. Doch die Putin-Administration hatte sich das „70/70“-Ziel gestellt: Mindestens 70 Prozent der Bürger sollten zur Wahl gehen, und mindestens
70 Prozent von den teilnehmenden Wählern sollten wiederum für Putin stimmen, damit die Präsidialverwaltung sagen kann, dass die breite Mehrheit aller Russen hinter Putin steht. Deshalb wurde im letzten Monat vor der Wahl ein regelrechter Druck auf die potenziellen Wähler ausgeübt – durch mediale Propaganda, aber auch durch direkte Ansprachen in den größeren Unternehmen. Das führte letztlich auch zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung.
Gleichwohl bewertet eine Mehrheit der Russen die Wahlen als mehr oder weniger faire Veranstaltung. Und 74 Prozent sind mit den Ergebnissen zufrieden. Wie erklären Sie diese Werte?
Die Popularität Putins kann nicht ohne die Wirkung der Krim-Mobilisierung erklärt werden. Seit seinem Machtantritt können wir beobachten, dass sich das Ansehen des Präsidenten immer dann erhöht hat, wenn irgendwelche militärischen oder patriotischen Kampagnen durchgeführt wurden: Das gilt für die Welle der Terroranschläge in russischen Städten und nach dem Beginn des Tschetschenien-Krieges zur Zeit seines Machtantritts ebenso wie für den Georgien-Krieg 2008 und die Annexion der Krim im Frühjahr 2014.
Nach dem Höchstwert der Popularität Putins zur Zeit des Georgien-Krieges, als die Zustimmung für ihn 87 Prozent erreichte, sank sein Ansehen jedoch kontinuierlich bis Dezember 2013. Zu diesem Tiefpunkt der Popularität Putins erklärten 47 Prozent der Befragten, sie möchten ihn zur nächsten Wahl nicht wiedersehen. Und 61 Prozent betonten, sie seien es leid, auf die Erfüllung seiner Versprechen zu warten.
Doch der Anschluss der Krim und die ungewöhnlich aggressive antiwestliche Kampagne brachten Putin wieder nach oben und halten sein Ansehen auf einem recht hohen Wert. Putins Popularität basiert darauf, dass er den Russen das Gefühl gibt, wieder Bürger einer Großmacht zu sein. Damit gibt er ihnen die Selbstachtung und den Stolz zurück, die sie infolge des Zerfalls der UdSSR verloren hatten. Besondere Erfolge in der Wirtschaft oder im Kampf gegen Korruption und Terrorismus kann er jedenfalls nicht vorweisen.
Warum nicht?
Seit 2012 beobachten wir eine ökonomische Stagnation. Große Ausgaben für das Militär, für die Sicherheitsorgane, für staatliche Beamte führten dazu, dass kein Wachstum der Wirtschaft mehr zu beobachten ist. Etwa seit dem Jahr 2015, und zwar seit dem Verfall des Öl-Preises, sank das Einkommen der Bevölkerung, allein in den letzten drei Jahren um 12 bis 15 Prozent. Die Öl- und Gasexporte sowie die Exporte weiterer Rohstoffe machen mehr als 50 Prozent des staatlichen Haushalts aus. Alle Experten sagen, dass ohne erhebliche strukturelle Reformen Russland eine schlechte Zukunft erwartet, und zwar eine komplette Degradierung.
Warum ist die russische Gesellschaft dennoch so ruhig?
Eine wichtige Rolle spielt die totale Kontrolle der Massenmedien. Hinzu kommen verstärkte Repressalien im Laufe der letzten Jahre. Diese Repressalien sind nicht mit denen aus der späten Sowjetzeit oder gar unter Stalin zu vergleichen. Sie dienen auch mehr einer Art Prophylaxe in der Bevölkerung. Anfang April berichteten zum Beispiel einige Zeitungen, dass der Inlandsgeheimdienst FSB und andere Sicherheitsorgane in kürzester Zeit etwa zwei Millionen Durchsuchungen durchgeführt haben. Diese Razzien wurden nicht von Verhaftungen begleitet, sie dienten allein der Abschreckung. Und in Kombination mit der Manipulation des öffentlichen Bewusstseins sorgen sie dafür, dass die Bevölkerung eine gewisse Passivität an den Tag legt.
Welche Themen bewegen die Russen jenseits der Frage, wer sie regiert?
Der größte Teil der Bevölkerung ist vor allem besorgt, weil er um sein physisches Überleben kämpfen muss. Bei allem Glanz der Großstädte wie Moskau und St. Petersburg muss man bedenken, dass zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Lande lebt; in kleineren Städten und Dörfern, in denen die Stimmung in der Regel depressiv ist. Diese weisen sehr hohe Zahlen an Arbeitslosigkeit auf, es gibt soziale Probleme und die Menschen sehen überhaupt keinen Ausweg. Die Hauptprobleme der meisten Russen sind niedrige Einkommen, die stetig absinkenden Lebensstandards, die sich laufend verschlechternde medizinische Versorgung und die Gefahr, arbeitslos zu werden. Die Mittelschicht in den Großstädten ist dagegen wohlhabender und besser informiert. Ihre Sorge ist vor allem, dass ein autoritäres Regime etabliert wird. Die Menschen hier fordern die Unabhängigkeit des Rechtssystems sowie Presse- und Meinungsfreiheit.
Wie verhalten sich die ökonomischen Eliten?
Die wirtschaftlichen Eliten gehen den Weg der Loyalität dem Regime gegenüber. Diese Loyalität ist die Möglichkeit, das eigene Unternehmen zu erhalten und weiter mit staatlicher Unterstützung zu führen. Diese Haltung ist jedoch eine ideale Voraussetzung für die Verbreitung von Korruption. Kleinere Unternehmen sind diesbezüglich viel kritischer eingestellt, aber sie sehen ein, dass sie gar keine Möglichkeit haben, Forderungen aufzustellen oder irgendwelche Protestaktionen anzustoßen in dem Wissen, dass sie dadurch vernichtet würden.
Welche Rolle spielt die russische Bürgergesellschaft?
Das größte Verdienst der Bürgergesellschaft besteht darin, dass sie – unter sehr schwierigen Voraussetzungen – nach wie vor existiert. Für das Regime stellt sie allerdings keine ernsthafte politische Gefahr dar. Obwohl sie zum Objekt rigoroser Repressalien geworden sind und zum Teil in das Register für Auslandsagenten eingetragen wurden, sind zahlreiche Bürgerrechtler nach wie vor aktiv, zu den bekanntesten Bürgerrechtsorganisationen gehören „Memorial“, „Agora“, „Frauen Russlands“ oder „Soldatenmütter“. Die politische Opposition ist in meinen Augen diskreditiert, demoralisiert und im Grunde eigentlich nicht mehr existent.
In Westen ist vor allem Alexej Nawalny präsent, den Sie bereits erwähnten. Welche Bedeutung hat er?
Die Besonderheit bei Nawalny besteht darin, dass er ein sehr begabter Organisator ist. Er ist imstande, die Interessen von unterschiedlichen Gruppen zu bündeln. Das schafft keine einzige politische Opposition. Wenn er Aktionen durchführt, wird er in der Regel für die Dauer von zwei Wochen bis zu 30 Tagen festgehalten. Gegen seine Stiftung „Kampf gegen die Korruption“ werden regelmäßig Durchsuchungen durchgeführt, allein 2017 rund 150 mal. Doch Nawalny hat eine Netzstruktur geschaffen, die in mehr als 90 russischen Städten existiert. Deswegen traut sich das Regime nicht, ihn länger einzusperren. Aber sein Bruder wird als Geisel gehalten, er sitzt eine Haftstrafe ab. Und diese dauert sieben Jahre.
Wladimir Putin ist im März für weitere sechs Jahre zum Präsidenten gewählt worden. Als er ins Amt kam, war er Ende 40, ein junger Politiker. Am Ende dieser Amtszeit wird er über 70 Jahre alt sein – und damit ungefähr so alt wie die Politbürofunktionäre der KPdSU am Ende der Sowjetunion. Ist dies die letzte Amtszeit Putins? Und was kommt danach?
Ich bin ich mir nicht sicher, dass Putin 2024 die Bühne verlassen wird. Nursultan Nasarbajew in Kasachstan denkt ja auch nicht ans Aufhören, und Alexander Lukaschenko in Weißrussland ebenfalls nicht. Kein Diktator geht freiwillig.
Aber dann müsste Putin laut Verfassung zumindest wieder mit Dmitri Medwedjew die Rolle tauschen.
Nicht zwingend mit Medwedjew, es könnte auch Igor Setschin sein. Doch ein solcher Wechsel würde bei weitem nicht bedeuten, dass eine Wendung zum Besseren stattfindet. Die Frage ist, ob Europa auf diesen Zeitpunkt vorbereitet sein wird.
Das Interview führte René Nehring.